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Klimaangepasst? Wie Mainz Klimaschutz- und Begrünungsfantasien hinterherhinkt

Wird 2024 auch wieder ein Rekordsommer? Extreme Wetterlagen sollen zunehmen – Hitzewellen mit langen Trockenphasen, aber auch Regenfälle mit Überflutungen. Die Frage lautet daher: Wie kann man die Stadt klimaresilient gestalten, sie also für künftige klimatische Bedingungen rüsten? Bis 2035 möchte Mainz außerdem klimaneutral sein. Insbesondere Bäume kühlen die Luft durch Verdunstung von Wasser und verbessern somit das Stadtklima. Nicht zu unterschätzen auch der Effekt, der Grün für das Auge und die Seele hat – Stichwort Aufenthaltsqualität. Die Stadt Mainz gilt laut Biodiversitätsstrategie mit weniger als fünf Prozent öffentlicher Grünfläche als unterversorgt und liegt im Vergleich zu anderen Großstädten im hinteren Feld: Um die 2.000 Bäume fehlen.

Prinzip „Schwammstadt“
Das Zauberwort heißt „Entsiegelung“. Denn versiegelte Flächen heizen sich zum einen übermäßig stark auf, zum anderen kann Regenwasser nicht versickern – was vor allem bei den Starkregenereignissen zum Problem wird. So kann an heißen Sommertagen der Unterschied der gefühlten Temperatur zwischen entsiegelten und begrünten Flächen bis zu sieben Grad betragen.

Ingenieur Kiefer plädiert für die „Schwammstadt“

„Wir müssen uns in Richtung Schwammstadt entwickeln“, sagt Wasserbauingenieur Alexander Kiefer. Der Boden müsse offenporig sein, um Regenwasser speichern und zeitversetzt wieder an Bäume abgeben zu können. „Bäume sind Klimaanlagen, und die brauchen Wasser aus dem Untergrund.“ Die Verdunstung sorgt für zusätzliche Abkühlung, die Bäume geben Schatten. „Durch Entsiegelung steigen Wasser- und die Aufenthaltsqualität, eine Win-win-Situation für Mensch und Natur.“ Das meiste Regenwasser wird jedoch bislang in die Kanalisation abgeleitet und mit Abwasser vermischt, also verunreinigt mit Fäkalkeimen, multiresistenten Keimen, Medikamentenrückständen und Mikroplastik, was am Ende wieder in Gewässern landet. Zum anderen wird die Kanalisation durch starke Regenfälle überlastet. Besser wäre es daher, das Wasser aufzufangen. Wenn von Entsiegeln die Rede ist, kommt immer schnell das Bild eines Parkplatzes auf, der von Asphalt befreit und durch eine Wiese ersetzt wird – mit dem reflexhaften Aufschrei, wo man dann parken solle. Das muss aber so nicht sein, erklärt Kiefer. Vor allem in innerstädtischen Wohngebieten wie der Neustadt gebe es einfache und effektive Maßnahmen, denen kein Parkplatz weichen müsste. In sowieso schon vorhandene Bauminseln am Straßenrand kann man sogenannte „Rigolen“ einsetzen, die vermehrt Regenwasser speichern können, auch Schulhöfe können so entsiegelt werden. Selbst Hauseigentümer können mit einfachen Maßnahmen dafür sorgen, dass Regenwasser aus Dachrinnen im Garten versickert, anstatt es in die Kanalisation zu leiten. Das fördere zudem die Grundwasserneubildung. Kiefer, der mit seinem Vorschlag für ein Naturfreibad am Zollhafen für Aufsehen sorgte und dessen Büro Francke + Knittel unter anderem die geplante Aubach-Renaturierung in Finthen umsetzt, sprüht vor Ideen. Beispiel Kaiserstraße: „Hier könnte man das Regenwasser in unterirdischen Speichern unter dem Grünstreifen vorhalten, um Brunnen zu speisen und Grünanlagen zu wässern.“ Auf dem Campus der Uni Mainz legt er so einen Wasserspeicher gerade an.

 

Wenige Anreize
Ein zeitgemäßes Regenwassermanagement behält das Regenwasser als wertvolles Gut und führt es in den natürlichen Kreislauf zurück, anstatt es abzuleiten. In Neubaugebieten klappe das aufgrund der hohen Anforderungen in der Regel schon gut. Allerdings nicht überall: So sorgt neben vielen anderen auch der neu gestaltete Karoline-Stern-Platz in der Neustadt aufgrund seiner Versiegelung für Unmut in der Bevölkerung. „Ein absolutes Negativbeispiel“, so Kiefer. „Dass da keine Bäume stehen können, ist dem Umstand geschuldet, dass unter dem Platz eine Tiefgarage errichtet wurde“, sagt Umweltdezernentin Janina Steinkrüger. „Das stimmt nicht“, hält Kiefer dagegen. Man kann Tiefgaragendecken so absenken, dass man Retentionsdächer einbauen und auch Bäume pflanzen kann. „Die neue Grünsatzung von 2022 ist schon super, aber das Thema Klimaresilienz ist noch nicht überall angekommen“, ist Kiefers Fazit. Er hat auch das Potenzial von Flachdächern erkannt, denn hier könne man mit einfachen Maßnahmen begrünen und Regenwasser auffangen. „Es muss aber erst das Wasser einen Meter hoch in der Innenstadt stehen, bis etwas passiert.“ Dabei gibt es viele Förderanreize: Die Stadt Offenbach etwa zahlt Entsiegelungsprämien.

Beim geplanten Biotechnologie-Standort zwischen Saarstraße und Mewa-Arena könne die Stadt Mainz zeigen, was möglich sei. Dazu brauche es Fachleute, Leidenschaft und klare Vorgaben. Eine wichtige Funktion hat die Fläche als Kaltluftentstehungsgebiet: „Das kann in einem bebauten Gebiet unter Umständen auch funktionieren“, erklärt Kiefer. Dazu brauche es aber sehr viel Begrünung. An der Stelle noch ein Satz zu Kiefers Herzensprojekt, der Heiligen Makrele im Zollhafen, für die er auch ein Begrünungskonzept entwickelt hat: „Diese Wasserfläche kann es schaffen, durch Verdunstungskälte, durch Beschattung und durch intelligente Bewässerungssysteme das Mikroklima im Zollhafen zu verbessern.“ Was man da bisher am Zollhafen gemacht habe, findet er „ein bisschen arm. Wie kann man heutzutage so was machen mit diesen Terrassen?“

Auch Ingrid Pannhorst (ÖDP) sagt: „Die Stadtverwaltung muss ihre Fehler zugeben. Wenn wir am Zollhafen schauen oder am Karoline-Stern-Platz, da gilt es nachzulegen.“ „Wir haben heute ein völlig anderes Verständnis dafür, wie eine nachhaltige Stadtentwicklung sein soll, als es damals, vor 10, 15 Jahren, ge-plant wurde“, lenkt Christin Sauer (Grüne) ein. Pannhorst fordert weiterhin, den Verkehrsraum anders zu verteilen, mit schmaleren Straßen, einer konsequenten Parkraumbewirtschaftung und mehr Grün. Ihr Vorschlag für die Neustadt: In einem Bebauungsplan könnte man jedem Haus ein zusätzliches Geschoss erlauben mit der Auflage, ein Gründach anzulegen. Auch zum sogenannten zweiten Grüngürtel außerhalb der Stadt, mit dem die Grünen in den Wahlkampf zogen (wir berichteten), findet die ÖDP klare Worte: „Die Stadt Mainz hat im Innenbereich ein massives Defizit an Grünflächen. Diese Aufgabe sollte zuerst angegangen werden. Lasst uns zuerst die Wallanlagen, Stadt- und Volkspark, Mombacher Sand, Rheinufer, Zitadelle, Winterhafen, Hartenbergpark etc. schützen, pflegen, entsiegeln und vernetzen.“ Die im Frühsommer aufgestellten mobilen grünen Zimmer sind hier nicht mehr als ein ziemlich teurer Tropfen auf den heißen Stein.

Marcel Weloe (BUND) findet die Fritz-Bockius-Straße recht gut entsiegelt

Grün und Grünachsen
Zum Thema sagt Ludwig Holle (CDU): „Alle wollen immer Bäume, aber wenn der dann an die Stelle des eigenen Parkplatzes vor der Haustür kommen soll, wird die Antwort schon etwas spannender.“ Marcel Weloe vom BUND hält dagegen: „Wir brauchen eine gewisse Ehrlichkeit von der Politik, die immer noch versucht, die Bevölkerung zu schonen, wenn es um die Folgen des Klimawandels geht. Sprich: Wir brauchen eine Verkehrswende weg vom Auto.“ Dafür brauche es attraktivere Fuß- und Fahrradwege, so seine Meinung. In der Innenstadt sieht er außerdem viele Parkmöglichkeiten, die nicht genutzt werden oder genutzt werden können, etwa in diversen Tiefgaragen. Warum digitalisiert man diese Stellplätze nicht und stellt sie der Bevölkerung zur Verfügung? Oder: Warum macht man keinen Park-and-Ride-Parkplatz bei der Arena? Der promovierte Chemiker Weloe ist auch Sprecher beim Klimabündnis Mainz Zero und fordert Grünachsen in allen Stadtteilen als entsiegelte und begrünte Straßenzüge für mehr Aufenthalts- und Wohnqualität. Dafür müssten der Individualverkehr und der öffentliche Parkraum weiter zugunsten von Grünflächen verringert werden. „Grünachsen sind wichtig für unsere Gesundheit, für den Klimaschutz und Lebensraum für die Menschen sowie für biologische Vielfalt. Denn die Natur zieht sich ausgerechnet in die Stadt zurück, weil außerhalb zu viele Pestizide versprüht werden.“ Für die Altstadt hieße das zum Beispiel, dass man Straßenzüge findet, die Hauptbahnhof und Rheinufer miteinander verbinden. Bei einer von Mainz Zero gestarteten Petition für mehr Grünachsen beteiligten sich im vergangenen Jahr 6.600 Bürger. Mainz Zero fordert die Stadt nun auf, den „Masterplan 100 % Klimaschutz“ einzuleiten und die dort gemachten Zusagen umzusetzen. „2025/26 ist ein erstrebenswertes Ziel für die ersten Grünachsen, doch die Stadtverwaltung benötigt mehr Zeit für die Umsetzung“, sagte OB Nino Haase anlässlich der Überreichung der Unterschriften im Februar. Die Personaldecke sei zu dünn und die zu bewältigenden Aufgaben zu vielfältig, um dies als realistisches Ziel auszurufen. Der Ortsbeirat der Altstadt unter Brian Huck hat indes entschieden, das Grünachsenkonzept von Mainz Zero zu unterstützen und entsprechende Planungen bei der Stadt zu beantragen.

 

Geplantes Bürgerufer am Zollhafen: Grün
oder Beton?

Neugestaltung Mombacher Straße & Co.
Die Mainzer wollen mitbestimmen – und sie wollen mehr Grün. Anwohner der Mombacher Straße waren mit dem städtischen Vorschlag zur Neugestaltung ihrer Straße unzufrieden und haben im Rahmen einer Bürgerinitiative ein alternatives, ampelfreies Verkehrskonzept für die Neugestaltung der Straße entwickelt. Bei der Begrünung soll der Erhalt des Baumbestandes oberstes Ziel sein. Möglichst jeder Quadratmeter Asphalt soll beschattet sein, um ein starkes Aufheizen im Sommer zu minimieren. Und ein Schwammstadt-Konzept zum Speichern der Niederschläge soll umgesetzt werden. Carsten Sönnichsen von der Bürgerinitiative Mombacher Straße betont: „Bäume sind das Symbol für eine lebenswerte Stadt.“ Bei der Neuplanung der Straße habe die Stadt „die einmalige Chance, ihre Fehler zu korrigieren und endlich zu einer modernen Straßenplanung überzugehen, die die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellt“. Deshalb solle die von der Stadt signalisierte Bereitschaft, sich ernsthaft mit diesem Alternativplan auseinanderzusetzen, auch in die Tat umgesetzt werden. Zur Neugestaltung des Rheinufers zwischen Kaisertor und Zollhafen hatte die Stadt zweimal ihre Bürger befragt, mit dem Ergebnis, dass sich die Menschen vor allem mehr qualitatives, ökologisches Grün wünschen. Folgt man dem Wunsch der Bevölkerung, sollen die Pflanzen und Grünflächen klimaresilient sein und zu mehr Biodiversität beitragen. Mit Spannung wird auch die Gestaltung des Bürgerufers an der Zollhafen-Nordmole erwartet. Dort war ein 700 Meter langer Grünstreifen als „Wohnzimmer für die Neustadt“ versprochen worden. Der Entwurf der Berliner Architekten SINAI sieht dafür einen gewissen Anteil an Grünflächen und Bäumen vor. Das Konzept zeichnet sich aber sonst durch Rampen, Stufen und Böschungen aus und lässt einen nach Süden hin immer schmaler werdenden Grünstreifen erahnen. Eine naturnahe Spielmöglichkeit und Naherholungsnutzung sei beschränkt und nur kleinflächig gegeben – Grillen ist nicht vorgesehen. Insgesamt wird es laut den bisher bekannten Visualisierungen also ein eher schmaler Streifen Grün, der dem sonst komplett bebauten und versiegelten Zollhafen gegenübersteht. Mit einer Fertigstellung des Bürgerufers rechnete die Zollhafen GmbH bis vor kurzem noch in 2025. Seitdem ist es lange still um das Projekt geworden. Bleibt zu hoffen, dass der Ruf nach mehr Grün in Zukunft mehr Gehör findet.

Text Katja Marquadt Fotos Stephan Dinges

1 response to “Klimaangepasst? Wie Mainz Klimaschutz- und Begrünungsfantasien hinterherhinkt

  1. Traurige Realität: Erst mal alle Bäume abhacken, jedes Grün restlos beseitigen, das ist die Devise bei jeder Baumaßnahme, egal ob privat oder von der Stadt verantwortet.
    Die Planungen für die Mombacher Straße sind nur eines von vielen Beispielen.

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