Seit die Mainzer Stadtteile Amöneburg, Kostheim und Kastel nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten vergleichsweise willkürlich der Stadt Wiesbaden zugerechnet wurden, wird deren Zugehörigkeit in regelmäßigen Abständen thematisiert. Vor allem Kastel, dessen Bestehen bis zur Römerzeit zurückverfolgt werden kann, macht nicht den Eindruck eines Niemandslandes – im Gegenteil. Die Kastelerinnen und Kasteler machen so einiges möglich, und wenn sie dabei Unterstützung aus einer der beiden Landeshauptstädte bekommen, umso besser.
Am Rande
Selbst wenn manche Kastel nur am Rande wahrnehmen, die Reduit kennt jeder. Das knapp 200 Jahre alte Bauwerk beherbergt unter anderem das Museum zu Kastels umfangreicher Geschichte, verfügt aber auch über einen Innenhof, der bestens für Märkte und Feste geeignet ist. Diesen Monat wird beispielsweise die Johannisnacht mit einem Feuerwerks-Open-Air-Konzert begangen (26. Juni) und im Juli versorgt das Riverside Stomp Festival Kastel mit Ska- und Reggae- Rhythmen (8. Juli). Überdies ist die Reduit auch einfach eine stilvolle Kulisse für sommerliches Strandgefühl am Rheinufer, mit längerer Abendsonne als in Mainz. Wer kurzentschlossen ein paar schöne Stunden am Wasser verleben möchte, der wird auf der einen Seite der Brücke von Strand und Biergarten beglückt und auf der anderen Seite vom magischen Kobaltblau der Kransand Bistrobar samt Crêpes-Bude nun direkt nebendran angezogen. Direkt neben dem neuen Spielplatz gelegen, entsteht hier sogar ein meterhoher Aufzug, der barrierefreien Zugang von oberhalb der Brücke gewährleisten soll. Inbetriebnahme noch unbekannt.
Spiel- und Spaßbeton
Ein restaurierter Industriekran aus den 50er Jahren prägt die westliche Seite des Kasteler Rheinufers und erinnert daran, dass der Rhein jahrhundertelang in erster Linie als Handelsverbindung diente. Das danach benannte Areal „Kransand“, welches vor allem in den Sommermonaten bis spätabends in Sonnenlicht getaucht ist, wurde schon in den vergangenen Jahren mit breiten Stufen und Grünflächen versehen und ist heute ein Ort für zwangloses Beisammensein. Obwohl auch Spiel- und Sportangebote für Kinder ab acht Jahren bereitstehen, wird die Fläche zur Zeit vor allem von Teenagern und jungen Erwachsenen genutzt, denn hier befindet sich nun einer der besten Skateparks der Region mit Rampen, Halfpipes, allem was das Skater- und Inliner-Herz begehrt. Direkt nebendran stärkt ein Sportler seine Muskeln (Calisthenics) an einem ausgefeilten Trainingsgerüst, und an der neuen Kletterwand ist auch schon jede Menge los. Hier, an der Schnittstelle zu den beiden Hauptstädten, spielt es kaum eine Rolle, ob man gerade in Mainz oder Wiesbaden unterwegs ist, beide Städte und Spots sind leicht zu erreichen. Der Park scheint in der Tat der Begegnungsort zu sein, als der er gedacht wurde.
Haushoch und meterweit
Wer Kastel lediglich durch- oder überquert, dem entgeht ein Rausch aus Formen und Farben. Denn die Stützmauern von Brückenkopf und Bahndamm bilden massive graue Flächen, bei deren Anblick es jedem Graffiti-Sprayer in den Fingern juckt. Und da Sprayer in den seltensten Fällen kriminelle Schmierfinken sind, sondern oft engagierte Künstler, wurde, ausgehend von der Szene rund um den Wiesbadener Schlachthof, das Festival „Meeting of Styles“ ins Leben gerufen. Die gut vernetzten Gründer organisieren in der ganzen Welt Treffen, bei denen Künstler unter legalen Bedingungen den öffentlichen Raum gestalten. Zuschauer sind während des Festivals willkommen, aber vor allem danach kann jeder Passant sich über die entstandenen Wandgemälde freuen. Auch in Kastel haben sich die Werke über die ursprünglich vorgesehenen Mauern hinaus verbreitet, da verschiedene Betriebe und Privatpersonen ihre Gebäude zur Verfügung gestellt haben. Wer die Figuren und Muster liebgewonnen hat, sollte noch schnell ein Erinnerungsfoto schießen, denn vom 14. bis 18. Juni findet das nächste internationale Meeting of Styles-Festival statt.
Hochgebirgsgerichte
Etwa weiter, in der Großen Kirchenstraße, hätte man ein nepalesisch- indisches Restaurant nicht unbedingt erwartet: Aber Suraj und Rima Sonar, die Betreiber des „Himalaya Sherpa“, sind genau dort, wo sie sein wollen, denn so ein Geheimtipp wie ihre Gaststätte verbreitet sich in einem Ort wie Kastel schneller als in großen Städten. Suraj Sonar ist mit Leib und Seele Gastronom. Er, seine Frau und aushilfsweise auch seine Tochter überzeugen mit Kochkunst und gutem, freundlichem Service. Seine Gerichte auf einer Speisekarte aufzulisten und zu sortieren, ist ein Zugeständnis an die Kunden, die wissen sollen, was sie erwartet. Doch Sonar strahlt, wenn er schildert, wie gerne er experimentiert, variiert und improvisiert. Allein über die vielen Verwendungsmöglichkeiten von Zimt oder den Einsatz eines Biryanis (ein großer Topf, in dem viele Zutaten gleichzeitig gegart werden) könnte er lange sprechen. So etwas wie eine Beilage scheint es für ihn nicht zu geben, er behandelt alle Bestandteile einer Speise mit derselben Aufmerksamkeit und Kreativität. Alle Komponenten ergänzen einander, Grundgeschmack, Gewürze und Konsistenz gehen immer wieder neue Verbindungen ein. So finden sich auf der Karte allein dreizehn vegetarische Hauptgerichte (alle auch in einer veganen Version möglich), schlicht weil für Suraj Gemüse genauso inspirierend ist wie Huhn oder Lamm.
Koffein im Blut
Johannes Gammersbach steckte noch mitten in den Ausbauarbeiten des Ladenlokals, das er gerade angemietet hatte. Die älteren Kasteler, die vorbeigingen und sahen, dass hier ein Café Gestalt annahm, waren zu Tränen gerührt: Endlich wieder ein behaglicher Ort am Babbeleck! So kam die Kaffeerösterei Kastel, die Gammersbach hier 2009 gründete, gleich zu ihrem Spitznamen. Der kleine Platz auf halber Höhe der Mainzer Straße war schon in den 60er Jahren als „Babbeleck“ bekannt. Damals war die Straße noch eine belebte Einkaufszone, die sich in den folgenden Jahrzehnten jedoch immer mehr lichtete, bis es in den frühen 2000er Jahren kaum noch einen Ort und einen Grund zum Babbeln gab. Davon ließ sich Gammersbach nicht abschrecken. Als der gelernte Kellner und große Freund der Kaffeebohne seine eigene Rösterei einrichten wollte, fand er in Innenstadtnähe keine passenden Räumlichkeiten. An seinem Wohnort begegnete dem Kasteler jedoch eine Menge Leerstand, die Mieten waren noch zu stemmen, und er ahnte, dass er seine Mitbürger mit seiner Leidenschaft für hochwertigen und frisch gerösteten Kaffee anstecken konnte. Heute begegnen sich hier Koffeinverehrer, die aus einer Vielfalt von Sorten und Anbaugebieten den idealen Stoff für ihre Kaffeemühlen und -maschinen auswählen, und die Anhänger des gepflegten Kaffeeklatsches. Regelmäßig kann man der Röstung beiwohnen, die Gammersbach in den Räumen des Cafés betreibt. Interessierten erzählt er gerne von seiner Reise nach Kolumbien, zu Pflanzern und Farmern, oder auch von seinen Besuchen bei den Agenten und Lieferpartnern in Hamburg. Über die Jahre hat sich eine Gemeinschaft der Kaffeeröster entwickelt, eine regelrechte Röstergilde, deren Mitglieder in regem Kontakt stehen. Denn für diesen Beruf gibt es keine Fachhochschule und kein Lehrbuch. Das Handwerk kann man sich nur durch beherztes Ausprobieren und Tüfteln selbst beibringen: wer jedoch in freundschaftlichem Austausch mit seinen Kolleginnen und Kollegen steht, erfährt womöglich ein paar Tricks und Kniffe.
Bohne ist gut, Kirsche ist besser
Auch Lisah Dietrich und Constantin Müller widmen ihre Aufmerksamkeit der Kaffeepflanze. Sie verwerten allerdings einen Bestandteil, der bisher selten beachtet wurde: das Fruchtfleisch der Kaffeekirsche, genannt Cascara. Seit sie es bei einem befreundeten Röster zum ersten Mal in Form von Tee probiert hatten, dachten sie darüber nach, wie sie diesen Rohstoff, der oft als Abfall betrachtet und bestenfalls noch als Dünger verwendet wird, produktiv nutzen könnten. Da sie beide einen guten Aperitif zu schätzen wissen, machten sie sich mit der Mazeration vertraut, dem Einlegen von Grundstoffen in Alkohol, bis dieser Farbe und Geschmack der Zutaten angenommen hat. Sie kombinierten die Kaffeekirsche mit weiteren Obstsorten und fügten Gewürze und Zucker bei. Das Ergebnis ist ein origineller Likör mit einzigartigen Aromen, der nun den Namen LACASCARA trägt. Als im Februar 2022 das Kaffeefruchtfleisch als neuartiges Lebensmittel zugelassen wurde, nahm die Vermarktung konkrete Formen an. Lisah Dietrich und Constantin Müller gaben ihre bisherigen Tätigkeiten auf (Dietrich kommt aus dem Marketing, Müller aus der Filmproduktion) und gründeten die LACASCARA GmbH. Seitdem vertreiben die beiden von Kastel aus ihre Kreation über den Onlineshop und beliefern Restaurants und den Einzelhandel. Die Mazeration findet in einer Industrieküche in Groß-Gerau statt, die Rohstoffe stammen aus Kolumbien. Durch die guten Beziehungen zu deutschen Kaffeeröstern ist das Team umfassend über die Lieferkette informiert und bemüht sich um einen fairen Handel mit den kolumbianischen Farmern, den nachhaltigen Anbau und eine schonende Bearbeitung der Pflanzen. Noch führen Dietrich und Müller die Produktion und den Verkauf komplett selbst durch, doch die Nachfrage wird langsam zu groß, um das Arbeitsaufkommen nur zu zweit zu bewältigen. Es ist abzusehen, dass sie ihre Firma noch erweitern werden.
Leben und lesen
Eine gute Geschichte nutzt sich nicht ab, egal wie oft sie gelesen wird. Diesen Umstand macht sich der Wiesbadener Bücherbasar zu Nutze. Dieser Second Hand-Buchladen führt so ziemlich jedes Genre und jedes Format, das je auf Papier gedruckt wurde, dazu CDs, DVDs und gutes altes Vinyl. Und ein schön gestaltetes Buch reizt nicht nur zum Lesen, deshalb stehen hier auch dekorative und praktische Objekte zum Verkauf, die aus Buchcovern oder -seiten gefertigt sind.
Der Basar mag nicht so leicht zu finden sein, doch für passionierte Lesende lohnt es sich, gezielt das Kasteler Gewerbegebiet anzusteuern. So ein Sortiment braucht Platz und der ist in Zentrumsnähe unerschwinglich. In der Anna-Birle-Straße jedoch kann das Angebot angemessen präsentiert werden. 350 qm eines Industriegebäudes sind hier noch bezahlbar und bieten nicht nur Raum für Lesestoff. Dank seiner großzügigen Maße wirkt der Ort trotz der ungewöhnlichen Lage freundlich und einladend. Durch die breiten Fenster flutet Licht herein, mit bunten Kissen versehene Sitzgelegenheiten laden zum Bleiben und das integrierte Café verbreitet anziehenden Kaffeeduft. Hier fand auch schon eine Krimi-Lesung statt und weitere Veranstaltungen sollen folgen. Das Angebot wird allein durch Spenden bestritten, so dass die Preise auch zum kleinsten Geldbeutel passen. Doch mit Hilfe dieses Konzepts werden nicht nur Lesehungrige mit günstigem Nachschub versorgt. Vom Betreiber, der Werkgemeinschaft Wiesbaden, wird mit dieser Einrichtung auch eine Möglichkeit geschaffen, Menschen eine sinnvolle Tätigkeit zu geben, denen auf dem regulären Arbeitsmarkt kaum eine Chance eingeräumt wird. Ein großer Teil der Angestellten lebt mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen und entspricht nicht den oft recht beschränkten Vorstellungen vom idealen Arbeitnehmer. Hier werden sie gebraucht und nach ihren Neigungen und Fähigkeiten eingesetzt, dazu kommt der soziale Austausch mit Kollegen und Kunden.
Kastel gemeinsam gestalten
Man entdeckt noch mehr solcher kleinen Signale des Zusammenhalts, wie den Kleiderladen AKK, der gebrauchte Kleidung zu günstigen Preisen anbietet, oder den „Vortagsladen“ (GUT), in dem das Backhaus Schröer Ware vom Vortag zu heruntergesetzten Preisen verkauft. Aber es werden auch größere Veranstaltungen ins Leben gerufen, die nur durch die Zusammenarbeit und die Beteiligung der Gemeindemitglieder möglich werden, wie die Kulturtage AKK, zu denen die Einwohner selbst Programm-ideen beisteuern und es organisieren. In Kastel gibt es zwar so manches dunkle Schaufenster und nicht jede Häuserzeile mag adrett und modern wirken, doch gerade dieses Stadium bietet für Familien und Kleinunternehmer noch Spielraum, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen. So ist übrigens in den letzten Jahren auch die eine oder andere exklusive Eigentumswohnung mit Blick auf den Rhein entstanden, die für viele Ortsansässige wohl unbezahlbar wäre. Und es haben sich noch mehr Wohnprojekte und -initiativen gebildet wie etwa der Hausverein „KB07“. Die Vereinsgründung ermöglichte es einer Wohngemeinschaft, ihr zum Verkauf stehendes Haus selbst zu erwerben, bevor es nach einer Komplettsanierung zu einem horrenden Preis als Spekulationsobjekt enden konnte. In der „Kasteler Wohndorfgemeinschaft“ bilden die Bewohner mehrerer Wohneinheiten eine Gruppe, die sich gegenseitig unterstützt und mit vereinten Kräften einen sparsamen und nachhaltigen Lebensstil anstrebt. Ähnliches planen die Mitglieder von „Gemeinsam leben in Kastel e. V.“ (GliK), die in der ehemaligen Kaserne „Kastel Housing“ in drei Gebäuden seit Herbst 2022 eine Mietergemeinschaft für Menschen in allen Lebenssituationen, Altersstufen und Einkommensschichten bilden. Günstiger und doch halbwegs zentrumsnah geht es nur noch weiter Richtung Kostheim. Die Quartiere entwickeln sich jedenfalls, viel Neues entsteht und Kastel & Co. sind mal wieder einen Stadtspaziergang für neue Entdeckungen wert.
Text Ines Schneider