Direkt zum Inhalt wechseln
|

Die Zanggasse: Wahre Schönheit kommt von innen


von Katharina Bosliakov
Fotos: Ramon Haindl

Dutzende Polizisten, Zivilfahnder und vermummte Mitglieder des Spezialeinsatzkommandos riegeln den hinteren Abschnitt der Zanggasse von der Außenwelt ab. Niemand darf die Straße verlassen, Passanten werden einer Kontrolle unterzogen. Bei dieser Razzia stellt die Polizei 10.000 Euro Bargeld und Drogen sicher. Sechs Dealer werden festgenommen. Zwei Tage später, am 22. Juli 2005, hat es die Zanggasse im Mainzer Bleichenviertel in die Schlagzeilen geschafft: „Polizei nimmt Drogenszene hoch“, hieß es in der lokalen Presse. Diese und weitere Meldungen wie „30-Jährige Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen“ und „Streitigkeit endete mit Messerstich“ erscheinen in der Trefferliste, wenn man im Onlineportal der rheinland-pfälzischen Polizei nach der Zanggasse sucht. Die meisten Meldungen gehen auf die Jahre vor 2005 zurück – danach wird es ruhig. Die Drogendealer sind weg, die Kriminalitätsrate ist deutlich zurückgegangen, doch der schlechte Ruf der Gasse bleibt.

„Die sauberste Ecke von Mainz ist das nicht“, sagen selbst die Mainzer. Über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte, hat sich die Gasse ihr so genanntes Schmuddelimage erarbeitet und wird es nur schwer wieder los. Das äußere Erscheinungsbild tut sein Übriges: Der Putz bröckelt, manch zwielichtige Gestalt stolpert Richtung Bahnhof, einige Ladenlokale stehen leer. „Dabei hat es unheimlich viele Vorteile, hier zu wohnen“, sagt Ingrid Schütz. Für die 70-Jährige ist die Zanggasse schon immer ihr Zuhause gewesen. „Einkaufsmöglichkeiten, Banken, die Post, der Bahnhof – alles ist in unmittelbarer Nähe. Ich würde nicht woanders wohnen wollen.“

Oft genutzt, kaum beachtet

Und tatsächlich lohnt es sich, den Mythos „Rotlichtmeile“ zu hinterfragen. Auf ihren 250 Metern Länge bietet die Zanggasse eine ungewöhnliche Vielfalt an Geschäften, multikulturelles Flair und weist noch heute Strukturen auf, die sich über Generationen hinweg fest verankert haben. Und ja, auch ein Hauch von Erotik schwingt mit. Dennoch ist seit Jahren merklich ein Transformationsprozess im Gange, der die Zanggasse in ein besseres Licht rückt, ihren Charme aber unangetastet lässt. Gerade das Nicht-Konservative macht sie interessant und erinnert daran, was sich Städte wie Mainz oft zum Ziel setzen: nämlich weltoffen und lebendig zu sein. Um dem Negativimage des Bleichenviertels auf die Schliche zu kommen, führt der Weg nicht an Rita Heuser vorbei. Die Namensforscherin vom Institut für Geschichtliche Landeskunde der Uni Mainz erklärt, dass der Name „Zankgass“ im Jahr 1687 erstmals erwähnt wurde – in der ursprünglichen Schreibweise mit „k“. Zeitgleich wurde das Bleichenviertel angelegt, ehemals ein Wiesengelände mit kleineren Wegen. „Dort siedelten die Weber, die ihre Tuche färbten, trockneten und aufhellten. Daher auch der Name ‚Bleichenviertel’. Es war üblich, Gewerbe, die Lärm, Dreck und Geruch verursachten, möglichst weit in den Außenbezirken anzusiedeln“, sagt Rita Heuser. So fanden die Handwerker ihren Platz an der mittelalterlichen Stadtmauer, die durch die heutige Hintere Bleiche und Kaiserstraße verlief. Und obwohl im 18. Jahrhundert der Adel in die Bleichen zog und große Hofanlagen errichten ließ, konnte sich der Abschnitt nahe der Stadtmauer nie zu einem vornehmen Viertel entwickeln.

Multikulturell und studentisch

Noch heute liegen in diesem Bereich unübersehbar die beiden Erotik-Etablissements „Lido“ und „Carlton Bar“. Das „Lido“ gibt es seit 40 Jahren. Das Lokal wirbt damit, täglich schon ab 13 Uhr geöffnet und „stimmungsvolle Musik“ parat zu haben. Neue „Animierdamen“ seien jederzeit willkommen, verrät ein Zettel an der Eingangstür. Zwischen „Lido“ und „Carlton Bar“ zieht in sündigem Rot auch das „Dorett“-Schild die Blicke der Passanten auf sich. Pierre Scherner, Sven Hummel und Francesco Musso haben im Oktober 2010 das „Dorett“ nach seiner Schließung im Jahr 2009 wieder eröffnet. Nicht mehr als Strip-Bar, sondern als „Bar für das Mainzer Nachtleben“, wie Scherner sagt. Weinrote Samtvorhänge, Gemälde von nackten Frauen, die im schummrigen Licht nur schwer erkennbar sind, und eine original Kupfer-Theke aus den 50er-Jahren: Der kitschig-französische Stil wurde absichtlich beibehalten. Ab Mitternacht füllt sich der Club, ein bunt gemischtes, nicht zu junges Publikum tanzt, redet, trinkt. Scherner glaubt, mit dem „Dorett“ eine Nische gefunden zu haben, „puffig mit modernen Elementen“, nennt er sie. Architektur-Student Malte findet das Ambiente toll und die Bedienung lieb. „Die rufen auch mal ein Taxi, wenn man’s selbst nicht mehr schafft“, grinst er.
Ein Taxi brauchen Helena, Annika und Ronny nicht. Die drei Studenten haben einen kurzen Weg nach Hause, eine WG schräg gegenüber in der Zanggasse. „Die Gegend kann man schon als etwas schäbig und heruntergekommen bezeichnen. Aber wir fühlen uns sehr wohl. Und so eine günstige Wohnung in zentraler Lage findet man nicht noch einmal“, meinen sie.
Vornehmlich seit den 90er Jahren zieht es Studenten-WGs in die Zanggasse. Die Wohnungen sind groß, vergleichsweise günstig und vor allem partytauglich. Die Anziehungskraft der Gasse auf Studenten findet die Geografin Sandra Petermann nicht ungewöhnlich. Bis 2009 hat sie selbst dort gewohnt und spricht – abgesehen von günstigen Mietpreisen – von Anzeichen für eine beginnende Transformation zu einem besseren Image der Straße: „Einerseits wohnen dort sozial Schwächere, andererseits suchen viele Studierende genau dieses Ambiente und finden es nicht zuletzt durch die Einzelhändler vor Ort cool und multikulti.“ Auf die Zanggasse trifft vieles zu: Sie ist geschichtsträchtig, studentisch, ausländisch, laut, heruntergekommen, dynamisch – nur ganz bestimmt nicht langweilig. Die Namensforscherin Rita Heuser weist auf Überlieferungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin, nach denen besonders die Hintere Bleiche als „schwarzes Viertel“ galt. „Ihre Bewohner nannten sich sogar selbst ‚Lappehaiser’, eine Abwandlung von ‚Lappenhaus’.“ Das Lappenhaus sei zuerst Kaserne, dann Militärhospital, dann Armenhaus und letztlich Hilfsschule gewesen. Repräsentativ war das nicht. Zudem kann das Wort „Lappe“ als abwertende Bezeichnung einer Person stehen. So trug das letzte Stück der Zanggasse ab der Hinteren Bleiche zu ihrem schlechten Ruf bei.

Ein Mix aus Alt und Neu

Am anderen Ende der Gasse nahe der Großen Bleiche, im Friseursalon von Jens Müller-Steinbrech, hängt eine Schwarzweiß-Fotografie an der Wand. Sie ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden: Skelettartig heben sich vereinzelte Überreste von Häuserwänden in die Höhe. Dort, wo einst Fenster waren, klaffen mannshohe Löcher. Von der Zanggasse ist 1945 nicht mehr viel übrig, lediglich die Häuser im Schmuddelviertel haben die Bombenangriffe überlebt.
Auch das Haus der Familie Schütz, heute Zanggasse 9, wurde komplett zerstört, die Bewohner evakuiert. 1959 kehrt die damals 18-jährige Ingrid Schütz mit Ihrer Mutter in die Zanggasse zurück, mühsam bauen sie das Haus wieder auf. „Ich habe praktisch mein gesamtes Leben hier verbracht und weiß, welchen Wandel diese Straße durchgemacht hat“, sagt Ingrid Schütz. Sie blickt nachdenklich durch die großen, runden Gläser ihrer Brille, wirkt fast ein wenig eulenhaft. „Es kamen viele ausländische Bürger hinzu und eröffneten ihre Geschäfte – Lebensmittelmärkte, Friseursalons und den Zeitschriftenladen. Ich gehe sehr gerne dorthin.“ Nachteile am innenstadtnahen Wohnen sieht die 70-Jährige nicht, es werde nur selten zu laut. Im zweiten Stockwerk hat sich Ingrid Schütz ein gemütliches Zuhause eingerichtet: schwere Holzmöbel, zahlreiche Familienfotos und eine blumenübersäte Terrasse. Viele mögen der Ansicht sein, die Zanggasse könnte einen neuen Außenanstrich vertragen – in ihrem Inneren ist sie jedoch genauso vorzeigbar wie jede andere Straße auch.
Etwa 357 Mainzer sind mit ihrem Erstwohnsitz hier gemeldet. Darunter Studenten, Migranten, Alteingesessene, aber auch Familien mit Kindern. Diese Mischung trägt dazu bei, dass sich die Zanggasse seit jeher in keine Schublade stecken lässt. Schon 1989 schrieben Journalisten über die Gasse: „Zwiebeln, Zwirn und Zwielicht – nichts passt zusammen“. Das Heterogene spiegelt sich auch in den einzelnen Geschäften wider. manche Dienstleistungen mag es doppelt geben, aber kein Laden ist wie der andere.

Vielfalt auf 250 Metern

Sabir Mohammad Rahimi hievt einen Zehn-Kilo-Reissack auf den nächsten. In „Rahimis Asia Markt“ ist sonst kein Platz. Die Säcke sind bunt bedruckt, mit Pflanzen oder indischen Ornamenten. Als die Stapel etwa bis zur Brust reichen, hört Sabir auf. Kunden möchten bedient werden. Ein älterer Herr grüßt mit „Salem Aleikum“ und kauft Fladenbrote und frische Kräuter. „Ich verkaufe asiatische, indische, pakistanische und afrikanische Lebensmittel. Und ein bisschen Kosmetik. Das sind die großen Vorteile meines Ladens“, meint Sabir, der in Afghanistan geboren ist und das Geschäft vor zwei Jahren von seinem Vorgänger übernommen hat. Indische Gewürze in meterlangen Regalen, Bohnen in allen Farben, exotisches Wurzelgemüse – was es in deutschen Lebensmittelgeschäften nicht gibt, findet man bei „Rahimis Asia Markt“. „Zwei Euro bitte“, sagt Sabir zu einem Kunden indischer Abstammung, der Mangos kauft. Der Mann reicht ihm eine Münze, die wie ein Zwei-Euro-Stück aussieht. Sabir lacht: „Das sind fünf Rupien!“ Der Mann greift erneut ins Portemonnaie und antwortet in fehlerfreiem Deutsch, dass die Rupien sein Talisman seien. „Hier hast du deine zwei Euro“, lacht er. Sabirs frische Mangos sind in der ganzen Gegend bekannt. „Das sind wirklich die süßesten Mangos, die ich je gegessen habe“, beteuert Sebastian Linke, der mit zwei Freunden in der Zanggasse 24a die Bürogemeinschaft „Media Colada“ eröffnet hat. „Auch wenn es mal schmutzig und laut ist – wir brauchen diese Energie und Inspiration für unsere Arbeit. Das Leben auf der Straße hat schon fast südländisches Flair.“ Überhaupt ist die Zanggasse beliebt bei Medienschaffenden und Kreativen – so hat der Maler und Bildhauer Karol Rousin sein Atelier in der Zanggasse 1, wo er auch Zeichenkurse anbietet. In der Zanggasse 9a verweist ein unscheinbares Klingelschild auf eine Galerie für aktuelle Kunst, „Z9A_international“ genannt. „Es ist unheimlich spannend hier“, fasst Anne Böschen den Facettenreichtum der Gasse zusammen. Die 48-Jährige ist selbst Künstlerin und lebt seit 2004 mit Mann und Tochter in der Zanggasse.
Eine Top-Lage ist die Zanggasse nicht, dafür aber innenstadtnah und bezahlbar: Genau die richtige Location für den „Orcish Outpost“, einen Fantasy-Spieleladen von Anja Paaßen und Michael Schmid. Hier fällt es nicht schwer, in eine Welt mit dunklen Zauberwäldern, feuerspeienden Drachen und schrulligen Zwergen abzutauchen. Die Wände sind voll gehängt mit Zinnfiguren, die als Requisiten für unterschiedliche Spiele dienen. Das Anmalen der eigenen Figuren mit Acrylfarbe gehört für die wahren Fans – vorwiegend Erwachsene – zum Ritual dazu. Brettspiele, Kartenspiele, Magazine, Fantasy-Bücher und Comics – im „Orcish Outpost“ gibt es alles, nur keine Computerspiele. Aber auch wer nichts kaufen möchte, kann einfach zum Spielen vorbeikommen. Dem Laien mögen Fantasy-Spiele als nerdiges Hobby erscheinen – wo aber wären sie besser aufgehoben als in der Zanggasse?

Ein deutlicher Wandel vollzieht sich

Auf ihren 250 Metern haben sich etwa 40 Geschäfte, Bars, Büros und Einrichtungen niedergelassen, in denen man auf die unterschiedlichsten Nationalitäten trifft. Von türkischen Friseursalons über nordafrikanische Lebensmittelgeschäfte bis hin zur italienischen Textilreinigung ist alles dabei.
Trotz ihres umfangreichen Angebots und ihrer Lebhaftigkeit war die Gasse noch nie ein Publikumsmagnet. Viel häufiger werden die parallel gelegene Neubrunnenstraße und Bahnhofstraße genutzt. „Die Einzelhandelsstruktur in der Zanggasse deckt einen kurzfristigen Bedarf und ist wenig auf Laufkundschaft ausgerichtet“, erklärt die Geografin Sandra Petermann. Die Inhaber bestätigen das, vor allem die Friseure, Lebensmittelhändler und der „Orcish Outpost“ können fast nur aufgrund ihrer Stammkunden bestehen und verlassen sich daher auf sie. Solange Stammkundschaft und Einwohner ihre Nachfrage nicht komplett verlagern, bleibt auch die Vielfalt der Geschäfte und Dienstleistungen erhalten. Und diese Vielfalt trägt wiederum dazu bei, die Zanggasse weiter aufzuwerten. Wahre Schönheit kommt eben doch von innen, ganz gleich, wie grau die Fassaden sein mögen. „In den vergangenen Jahren hat sich die Gasse deutlich gewandelt“, bestätigt Hans-Günther Nagel, stellvertretender Dienstleiter bei der Polizeiinspektion Mainz 1. „Heute gibt es dort kein höheres Kriminalitätsaufkommen als in anderen vergleichbaren Bereichen der Innenstadt.“ Auch nicht an partyreichen Wochenenden.
Am frühen Sonntagmorgen sind auch die letzten Nachtschwärmer aus der Zanggasse verschwunden. Die Bars lassen ihre Rollläden herab. Das „Dorett“ wird mit einem kleinen Vorhängeschloss versehen. Nicht vertragene Alkoholreste trocknen auf dem Asphalt. Heute wird es ruhig bleiben, die Gasse gönnt sich eine Pause und atmet durch. Bis am Montag die Geschäfte wieder eröffnen. Dann kehrt das Leben in die Zanggasse zurück. Ganz ohne Zivilfahnder und Polizeirazzien.