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Der Schildkrötenmann


von Christina Jackmuth
Fotos: Daniel Rettig

In Mainz Hechtsheim befindet sich die weltgrößte Sammlung figuraler Schildkröten. Joachim Woerner sammelt die Exponate aus aller Welt seit über 50 Jahren.

Gepanzerte Vierbeiner haben es Joachim Woerner besonders angetan. Davon zeugt schon die dezente Schildkröten-Anstecknadel an der Brusttasche seines Hemdes. Das Resultat seiner jahrelangen Sammelleidenschaft hat der heutige Rentner in einer Abstellkammer der Seniorenresidenz Pro Seniore in Hechtsheim zusammengepfercht. Dort tummelt sich eine der größten Sammlungen von figürlichen Schildkröten mit weit über tausend Stücken aller Erdteile und Zeiten: Schildkrötenschatullen, Schildkrötenbroschen, Schildkrötenpanzer, Schildkrötenaschenbecher, Schildkröten aus Halbedelstein, Bronze, Holz oder Leder und präparierte Schildkröten.
Besondere Raritäten sind der versteinerte Panzer einer Schildkröte aus Dakota, dessen Alter auf über 50 Millionen Jahre geschätzt wird, Antiquitäten, wie der über tausend Jahre alte Petschaft (ein Stempelkissen) mit Schildkrötengriff aus China – das Lieblingsstück Woerners – oder sehr Exotisches wie die kleinen Opiumgewichte oder die Schnupfdose aus Lapislazuli mit Goldader in Schildkrötengestalt. Ein ganz besonderes Stück ist auch der 250 Jahre alte Vorläufer des Füllfederhalters aus Japan, verziert mit der mythologisch behafteten Schildkröte, aus der ein Bart wächst. Ein Symbol für langjährige Treue und Anhänglichkeit, erklärt Woerner. Er ist ein wandelndes Lexikon, nicht nur was Schildkröten und deren Mythologie betrifft. Zu jedem noch so unscheinbar wirkenden Exemplar hat er detaillierte Informationen parat. Einige der Exponate sind von hohem Wert. Die kostbarsten lagern zur Sicherheit in einem Safe. Über den generellen Wert seiner Kollektion könne er schlecht reden. Einem Liebhaber oder Kenner sei sie zwischen 10.000 und 15.000 Euro wert.

Mit „Coca“ und „Cola“ fing alles an
Wie ist Woerner auf die Schildkröte gekommen? Auch an diese Anekdote erinnert er sich lebhaft. Das war vor mehr als 50 Jahren in Lissabon. Dort war der gelernte Kaufmann ab 1956 als Filialleiter für die Hoechst AG im Einsatz. Eines Tages, berichtet er, sei ein junger Amerikaner in seinem Büro erschienen, um für die offizielle Erlaubnis der bis dato verbotenen Einfuhr und Produktion von Coca Cola Unterschriften zu sammeln. Joachim Woerner sollte entscheiden, ob er und seine Mitarbeiter eine entsprechende Petition an die portugiesische Regierung unterzeichnen. Er hatte Bedenken, lehnte die Anfrage erst einmal ab und verabschiedete den Amerikaner. Doch dann durchfuhr ihn ein Geistesblitz: „Mir fiel plötzlich ein, dass zur Herstellung von Coca Cola thermische Phosphorsäure benötigt wird, eines der Spezialprodukte von Hoechst/Knappsack. Ich sprang auf, erreichte den Amerikaner gerade noch vor dem Fahrstuhl und holte ihn zurück ins Büro.“
Unter der Bedingung, dass Hoechst Erstanbieter und Lieferant von Phosphorsäure für Coca Cola werde, erklärte er sich bereit, die Unterschriften doch noch zu genehmigen. Per Handschlag besiegelte man den Deal. Der Amerikaner bekam, was er wollte, und Hoechst wurde über Jahre hinweg Exklusivlieferant für Coca Cola in Portugal.
Gleichzeitig hatte Woerner bei seinen Kollegen den Spitznamen Schildkröte weg, denn niemand außer ihm traf Entscheidungen so langsam und bedächtig: „Kurz nach der Unterschriftenaktion hatte ich Geburtstag. Als ich morgens ins Büro kam, stand auf meinem Schrank ein Holzkasten mit Sand, Steinen und Moos. Darin liefen zwei lebende Schildkröten herum, mit einem Leukoplaststreifen auf dem Rücken. Auf dem einen stand COCA, auf dem anderen COLA. Ein Geschenk meiner Mitarbeiter. Nur drei Tage später befand sich eine weitere lebende Schildkröte mit der Aufschrift „Pepsi“ in dem Kasten.“ Wenn Besucher in sein Büro kamen, bestaunten sie die Reptilien und nahmen an, er habe ein besonderes Faible dafür. Das hatte bald zur Folge, dass sich Woerner vor Geschenken kaum noch retten konnte: „Ich bekam Briefbeschwerer, eine Tischklingel, einen Aschenbecher, ein Stück Seife in Form einer Schildkröte und wurde so zum Schildkrötenfan.“ Seitdem hat er mit gezieltem „Schildkrötenblick“, wie seine Kinder und Enkelkinder sagen, Schildkrötenutensilien aus aller Welt gesammelt. Viele Stücke sind eng mit dem Lebensweg des sympathischen älteren Herrn verknüpft. Denn mit seiner Schildkröten-Strategie ist er weit gekommen – bis zum Direktor bei Hoechst und für mehrere Jahre nach Thailand und Brasilien.
Dennoch möchte Woerner sich nun – nach über 50 Jahren – von seiner Sammlung trennen, nicht etwa aus finanziellen Gründen, sondern schlicht aus Platzmangel. Der potenzielle Käufer sollte ein echter Liebhaber sein und die Sammlung am besten komplett übernehmen. Darauf legt er großen Wert. Einzelstücke auf dem Trödel zu verramschen, das täte ihm weh. Vielleicht findet sich ja auf diesem Wege ein Liebhaber oder Aussteller mit Bedacht.