Text Benjamin Schäfer Fotos Katharina Dubno
„Es ist Schabbat. Wenn ihr jetzt das Licht anmacht, müsst ihr es auch wieder ausmachen. Ich darf jetzt keine elektrischen Geräte mehr bedienen“, sagt Peter Kuri. An den Fassaden der Wohnanlage, die man aus seinem Wohnzimmerfenster sieht, sind an diesem Freitag die letzten Strahlen der Abendsonne gerade abgeglitten. Der pensionierte Lehrer entzündet nun die Kerzen, die am wöchentlichen Feiertag der Juden das Licht der elektrischen Lampen ersetzen.
Der Schabbat, Samstag, gehört im Judentum Gott. An ihm soll keine Arbeit verrichtet werden, darunter fällt auch das Bedienen elektrischer Geräte. „Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht“, heißt es in den zehn Geboten, die als Teil des Alten Testaments auch dem Christentum zugrunde liegen. Darauf beruht hierzulande die Sonntagsruhe: Die meisten Geschäfte sind geschlossen, alles geht etwas langsamer. Manche Menschen besuchen eine Kirche. Die Religion prägt also unseren Alltag, auch wenn wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Dabei gibt es immer wieder Streit um die Frage, was heilig ist und was nicht. Demgegenüber stehen Atheisten wie etwa die der Giordano-Bruno-Stiftung, die seit 2010 auch in Mainz ansässig ist. „Gottlos glücklich“ wollen sie nach eigenen Angaben sein und mit dem ganzen Theater, egal welcher Glaubensrichtung, ein für allemal Schluss machen. „Spiritualität“ verliert aber nicht an Brisanz. Dabei muss es sich nicht zwingend um Religion handeln. Diese wird vor allem als Glaube an eine überweltliche Macht und als ein festes Regelwerk angesehen. Dies führt mitunter zu Konkurrenzdenken und starren Gebräuchen und wird deswegen kritisiert. Viele Menschen wollen heute ihre eigenen Erfahrungen machen: Sich erden, meditieren, entschlacken, Yoga machen, Horoskope lesen oder einfach nur „in der Natur sein“. Daher rührt auch die neue „Ganzheitlichkeit“ in der Medizin, Ernährung oder Ökologie: Der Mensch will wieder Eins sein und nicht einzeln, sich verbunden fühlen mit etwas Größerem – auch außerhalb der Fußball-Weltmeisterschaft. Wir besuchen ein paar Menschen, die ihren Himmel auf Erden gefunden haben. Oder bleiben immer Fragen offen? Und: Was ist Spiritualität überhaupt?
„Jede Mutter macht Energiearbeit“
Dass Menschen sich Rituale und Überzeugungen zusammenbauen, die ihnen gerade passen, wird vor allem von den traditionellen Religionsgemeinschaften kritisiert. „Man kann Dinge aus dem Flow heraus machen oder aus Stress“, hält der 45-jährige Heilpraktiker Joachim Deschermaier dagegen. Der dunkelhaarige, schlanke Mann mit angenehmer Stimme und wenigen tiefen Falten im Gesicht macht nach mehreren Stationen als Rettungssanitäter und Physiotherapeut neben der Osteopathie heute vor allem „Spirituell- Energetische Heilarbeit“. Durch „Einfühlung“ und ohne viel Berührung baut Deschermaier eine Verbindung zu seinen Klienten auf. So bringe er die Energie desjenigen, etwa durch ein Streichen mit den Händen, wieder zum Fließen. Er selbst sieht sich als Heiler, sogar Schamane. „Wir leben einen normalen Alltag“, stellt Monika Snela-Deschermaier dabei klar. „Jede Mutter, die nach einem Wehwehchen pustet oder die Hände auflegt, macht Energiearbeit“, so versucht sie den Begriff zu entzaubern. „Das Entscheidende ist das Bewusstsein“, fügt ihr Mann hinzu. Auch die Kinder Martha und Malina, eineinhalb und drei Jahre alt, werden jeden Abend „geerdet“, indem sie sich liegend vorstellen, ihnen würden Wurzeln wachsen, sodass „die Energien des Tages in die Erde abfließen können“, wie Deschermaier es beschreibt. Visualisieren nennt sich das und erfreut ich zunehmender Beliebtheit nicht nur in esoterischen Zirkeln. Auf die Bereitschaft des anderen, sich auf sich selbst einzulassen, kommt es dabei an. Die ist nicht immer gegeben – auch Leute, die nichts „mit Spiritualität am Hut haben oder mit unbewussten Widerständen kommen“, so Snela-Deschermaier, ließen sich von ihrem Mann behandeln. Bei solchen laufe die Behandlung dann nach dem Motto: „Mach mir das Leiden weg, aber mach mich nicht schmutzig!“ Aber sie stellt klar: „Energie-Arbeit setzt die Bereitschaft zu arbeiten voraus!“ Spiritualität und Heilung haben also viel mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun, vielleicht mehr als mit überirdischen Geheimnissen. Wenn jemand ihn etwa Esoteriker nenne, sei ihm das egal, sagt Deschermaier. „Das Wort Esoterik bedeutet im eigentlichen Sinne die Innenschau, der innere Weg.“ Und dann bringt er die griffige Formel: „Spiritualität ist Geist und Lebendigkeit.“
Geist und Körper
Mit dem lateinischen „Spiritus“, der nach dem Alten Testament als „Atem“ Gottes Wirksamkeit auf Erden ausmacht, ist man beim Markenkern von Spiritualität: der Suche nach dem Unsterblichen, der Seele, im Hier und Jetzt. Nach dem was ist – und bleibt. „Es ist ein Problem, dass der Geist in der Physik nicht vorkommt“, erklärt der Jude Peter Kuri den Hintergrund, warum er es vermeidet, einen Lichtschalter am Schabbat zu betätigen. „Ich glaube, dass der Mensch ein geistiges Wesen ist, dass er aber seinen Geist abgelegt hat.“ Dieser Geist scheint für ihn, der als Dozent für Physik einst die Studenten beweisen ließ, dass die Lichtgeschwindigkeit unendlich ist, eher ein Geheimnis zu sein als für die Deschermaiers. Der gemütlich wirkende Kuri, mit Schnauzbart und Freiburger Akzent, trat dereinst zum Judentum über, als Krönung seiner lebenslangen Faszination für Israel und die hebräische Sprache. Heute gibt er etwas wehmütig zu: „Ob es einen Gott gibt, weiß ich nicht. Ich weiß aber auch nicht, dass es ihn nicht gibt.“ Die Auflösung aller Widersprüche ist im Leben vielleicht auch unmöglich. Kuri, der Suchende, Zweifelnde, hofft am Lebensende jedoch „so nah bei Gott zu sein, dass alles in Ordnung ist“. Spiritualität klingt für ihn dabei aber zu vergeistigt: „Der Mensch hat zu viel zu erledigen dafür.“ Dennoch hält sich auch Kuri an religiöse Traditionen. Sie sind für ihn Verhaltensvorschriften, an denen man sich abarbeiten kann, oder eben Halt finden, Reibungen nicht ausgeschlossen. „Ich bin aber kein Orthodoxer“, meint er trocken in Anspielung auf Juden, die die Regeln genauestens befolgen. Es „nerve“ ihn zwar, dass er am Schabbat wegen des Arbeitsverbots nicht einmal schreiben dürfe, aber andererseits verhelfen ihm das Ritual und die Gebete zu neuen Gedanken. Wenn Kuri betet, macht er es wie alle gläubigen Juden: Es werden Schritte nach vorne und zurück vollführt, das Gebetsbuch geküsst, und vor allem gelesen und gesungen. Bei Deschermaier könnte das auch „Achtsamkeitsmeditation“ heißen. Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen ist maximal, dass die einen gemeinsam zur „Funkstation“ Synagoge, Kirche usw. gehen, während die anderen sich von überall aus auf ihren eigenen Atem besinnen (können).
Beten im Büro
Den Ort seiner Besinnung muss sich Ramazan Ertugrul oft mühsam suchen. Der 33-jährige Muslim ist IT-Berater und pendelt wöchentlich zwischen seinem Wohnort Mainz-Kastel und seinem Arbeitsort in Bonn. Wenn er im Büro ist, ist das Beten kein Problem, nicht mehr. Einen ruhigen Raum hat ihm sein Arbeitgeber nach einigen „Diskussionen“ bereit gestellt, erzählt Ertugrul. Nur bei seinen Kunden werde es schwierig, „einfach mal den Gebetsteppich auszurollen“. Zwar gibt es für ihn und alle anderen beschäftigten Muslime die Möglichkeit nachzubeten, aber: „Mir fehlt etwas, wenn ich nicht gebetet habe“, stellt der junge Mann fest. „Das Gebet ist ein Zwiegespräch mit Gott, dann gibt es kein Denken an den kaputten Computer-Server“, erzählt der IT-Berater mit der sanften Stimme, mit der er täglich seine Kundengespräche führt. Trotzdem verrichtet er nach Möglichkeit fünf Mal pro Tag das Gebet und erfüllt damit eine der grundlegenden „fünf Säulen des Islam“. Diese bestehen aus dem täglichen Glaubensbekenntnis, dem täglichen Gebet, dem einmonatigen Fasten, der jährlichen Armengabe und der Pilgerfahrt nach Mekka. Im Fastenmonat („Ramadan“ bzw. türkisch „Ramazan“) darf ein Muslim zudem zwischen Aufgehen und Untergehen der Sonne nicht trinken, essen, rauchen oder Beischlaf tätigen – um sich „gedanklich zu säubern und zu befreien“, so Ertugrul. Letztes Jahr fiel diese Zeit in den Juli und dauerte mitunter 17 Stunden. Trotzdem fühlte er sich damals „geistig und körperlich am fittesten“, und: „Selbst meine Montagskopfschmerzen waren weg!“
Nicht immer „Peace und so“
Zum Tanken von Kraft zieht sich auch die Buddhistin Heidi Kassai jeden Morgen auf ihr Gebetskissen zurück. „Nam Myo Ho Renge Kyo“ lautet die Formel, ein „Mantra“, das sie stets wiederholt. „Diese Formel drückt das universelle Gesetz von Ursache und Wirkung aus“, erläutert die ehemalige Kulturmanagerin. Kern des Satzes, des gesamten Glaubens, ist, dass man jederzeit selbst Ursache von Freude und Leiden ist und deswegen auch selbst die Verantwortung für sein Leben übernehmen muss. „Wenn du Auto fährst und regst dich auf über jemanden, bist du zutiefst mit dieser Person verbunden“, erklärt Kassai mit festem Blick. „Dann geht es darum, die eigene Wut zu überwinden. Die Mitmenschen geben also immer Hinweise darauf, was du an deinem eigenen Leben ändern kannst.“ „Totale Verantwortung“ übernehme sie auch beim Beten für ihr Leben. Und wenn sie damit fertig ist, trägt sie ihr Mitgefühl in die Welt: So leistet sie Öffentlichkeitsarbeit für das buddhistische Gemeindezentrum Bingen, engagiert sich gegen Atomwaffen und pflegt Kontakte zu anderen religiösen Gemeinschaften. Mitgefühl steht bei ihr im Zentrum des Handelns und Denkens – nicht Gott. Da schellt plötzlich die Türklingel. Handwerker kommen herein und fahren eine Waschmaschine in die Wohnung – ohne Ankündigung. Kassai erteilt ihnen sichtlich genervt eine Abfuhr: „Ich bin nicht immer ‚Peace‘ und so“, sagt die Friedensbewegte und ihre Augen blitzen.
Sich Zeit nehmen
„Die Krankheit vieler Christen ist, dass sie zu viel schaffen“, stellt Erika Maria Asamoah dagegen fest. Die frisch Pensionierte hat zeitlebens gearbeitet, als Nachtschwester und Arzthelferin in Hessen und Mainz. Ein „bewegtes Familienleben“ habe sie gehabt, so die 65-Jährige. Sie ist Katholikin und merkte irgendwann, dass etwas schief lief: „Du machst alles für Menschen, aber für Gott hast du keine Zeit.“ Also nahm sie Kontakt zu einem Kloster auf, kaufte sich Bücher und betete sieben Mal am Tag. Trotzdem sei sie immer zeitlich ins Hintertreffen geraten. Bis eine 80-jährige Nonne zu ihr sagte: „Ein Gott, der aus Wasser Wein machen kann, kann auch aus Arbeit ein Gebet machen.“ – „Rödeln“ nennt Frau Asamoah diesen alten abgelegten Aktionismus heute. „Es ist gescheiter, wenn man sich erst mal hinsetzt und entspannt“, fasst sie ihre Erfahrung – auch auf spirituellem Gebiet – zusammen. Die Erfahrung und der Humor sind der Frau mit dem dunklen Kurzhaarschnitt ins Gesicht geschrieben. Heute konzentriert sie sich auf die Tätigkeit in der Liebfrauen-Gemeinde in der Neustadt, betreut den Kindergottesdienst und die anschließende Chorprobe. Das Gebet kann für sie auch nur ein Seufzer „Oh Gott“ sein, „so wie es gerade aus mir herauskommt“. An der „starren Liturgie“ der katholischen Kirche hat sie Einiges auszusetzen. Beim Erwähnen des Katholikentages in Regensburg „schaudert“ es sie. Ihr Mann Kofi stammt aus Ghana (Westafrika) und arbeitet in einem Altenheim. Die Mahlzeiten sind eine seltene Zusammenkunft der Familie, zu der auch Kofis beide Söhne gehören. Und dann passiert es, ganz klassisch: „Wenn der Tisch voll ist, kommt immer jemand auf die Idee und spricht ein Gebet für alle“, erzählt Erika Asamoah. Spiritualität bedeutet also letztlich für jeden etwas anderes, etwas eigenes, persönliches, doch auch Verbindendes. Es fußt auf der unmittelbaren Erfahrung und ist auch immer ein Zeichen der Suche. „Das Leben wird zum spirituellen Weg, wenn ich Antworten suche. An diesen Punkt kommen alle Menschen – also ist jeder ein spiritueller Mensch“, sagt Therapeut Deschermaier. Der „Raum, in dem wir von Herzen kommunizieren“ ist ein Ort der Begegnung, so wie Kirche, Moschee, oder draußen in der freien Natur. Dort kann man seine Zeit auch nicht mit Lichtschaltern verschwenden, egal wem oder was man begegnet.