Zum Inhalt springen
|

Der „Plan de Mayence“: Die vertane Chance der Stadt Mainz

Boppstraße 1945: Bei Kriegsende ist Mainz zu 80 Prozent zerstört (Foto Stadtarchiv)

Im Jahr 1946, ein Jahr nach Kriegsende, sollte Mainz nicht nur wiederaufgebaut, sondern als radikale Zukunftsvision völlig neu erfunden werden – geplant von der französischen Besatzungsmacht und Stararchitekt Marcel Lods. Der ambitionierte „Plan de Mayence“ versprach eine funktionale, moderne Stadt mit großzügigen Grünflächen, Hochhaussiedlungen und klaren Zonen für Kultur, Verwaltung und Wohnen. Doch der Traum einer Modellstadt scheiterte am Widerstand der Bevölkerung, politischen Konflikten und der Realität der Nachkriegszeit.

Marcel Lods

Am 8. Mai dieses Jahres jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum achtzigsten Mal – ein Anlass zur Rückschau auf die Umbrüche, Trümmer und Träume jener Nachkriegszeit, die fast vollständig in Vergessenheit gerieten. Während überall in Deutschland der Wiederaufbau begann, wäre in Mainz beinahe ein radikal anderes Kapitel geschrieben worden: Ein französischer General, ein visionärer Architekt und der Wille, aus Ruinen eine „Stadt der Zukunft“ zu schaffen, formten zwischen 1946 und 1948 das Projekt „Plan de Mayence“. Doch was als bahnbrechende Neugeburt gedacht war, scheiterte am Widerstand der Stadtbevölkerung, politischen Spannungen – und nicht zuletzt am Geist der Zeit.
Die damaligen Pläne aber sind erhalten geblieben und seit 2016 im Besitz des Landesmuseums. „Durch die erhaltenen Original-Pläne können wir nachvollziehen, wie die ersten Jahre nach Kriegsende in Mainz ungefähr abliefen, und sie geben uns eine Erklärung dafür, warum Mainz erst spät, oft chaotisch, wieder aufgebaut wurde“, sagt Museologe Gernot Frankhäuser in Hinblick auf den „Plan de Mayence“.

 

 

General Pierre Koenig

Nach der Zerstörung kommen die Franzosen
Nachdem Mainz, unter anderem in der Bombennacht vom 27. Februar 1945, zu 80 Prozent zerstört worden war, übernahmen 1945 die Franzosen die Kontrolle über das linksrheinische Gebiet. Wer sich damals durch die zerbombten Straßen wagte, stolperte nicht nur über Geröll, sondern auch über die Frage: Wie weiter? General Pierre Koenig, oberster Vertreter der französischen Militärregierung, hatte sich in Abstimmung mit der französischen Führung eine Antwort überlegt: Mainz sollte nicht einfach wiederaufgebaut werden, es sollte neu erfunden werden. Wieso Kaputtes aufwendig rekonstruieren, wenn der Abriss der zerstörten Viertel und die Planung einer ganz neuen Stadt möglich waren? Koenig erklärte Mainz zur Hauptstadt der französischen Besatzungszone. Somit gewann die Stadt alsbald eine politische und auch infrastrukturtechnische Bedeutung. Der Wiederaufbau sollte Koenig nach ein Zeichen setzen: für französische Baukultur, politische Stärke und eine europäische Zukunft. Der Auftrag für diesen radikalen Wandel wurde daraufhin dem Pariser Stararchitekten Marcel Lods erteilt. Der Franzose war ein Meister der modernen Architektur, ein Jünger Le Corbusiers und glühender Verfechter der Charta von Athen, die das städtische Chaos vergangener Jahrhunderte durch Ordnung, Licht und Luft ersetzen wollte. In seinen Augen war das zerstörte Mainz kein Unglück, sondern eine einmalige Gelegenheit. Warum sich mit Flickwerk begnügen, wenn man eine Stadt von Grund auf neu und effizient planen konnte? Lods bezog mit einem 12-köpfigen Team, darunter auch der persönliche Zeichner Le Corbusiers‘ Gérald Hanning, ein Büro auf dem Linsenberg und soll zu Beginn seiner Arbeit sogar mehrmals mit dem Flugzeug über Mainz geflogen sein, um sich ein akkurates Bild vom Stadtbild und den Verkehrsachsen zu machen.

Rainer Metzendorf ist ehemaliger Architekt und Lods-Experte Foto: Stephan Dinges

Eine futuristische Stadt
Der frühere Architekt und Stadtplaner Rainer Metzendorf ist ein Experte, wenn es um die geplante architektonische Neuausrichtung von Mainz nach dem Zweiten Weltkrieg geht. Er beschreibt das französische Vorhaben folgendermaßen: „Mit dem renommierten Architekten Marcel Lods wurde ein Planer berufen, der das „Mayence“ der Zukunft radikal neu denken wollte – als funktional durchstrukturierte, rationale Idealstadt, losgelöst von der deutschen Vergangenheit. Eine Utopie, die dennoch sehr detailliert ausgearbeitet wurde.“
Während sich die Mainzer im ersten Jahr nach Kriegsende vor allem nach einem Dach über dem Kopf sehnten, sahen die neuen Herren der Stadt eine Chance. Der „Plan de Mayence“ sollte die Stadt in drei Zonen aufteilen: ein kulturelles Zentrum im Bereich der erhalten gebliebenen Altstadt, ein Regierungsviertel in Fluss- nähe und eine „ville verte“, eine „grüne Stadt“, auf dem Boden der Neustadt, des Bleichenviertels und des heutigen Stadtteils Hartenberg-Münchfeld, in der moderne Hochhausscheiben wie Baumstämme in der Landschaft stehen – versetzt, belichtet, technisch perfektioniert und jedes mit einem eigenen Park vor der Haustür ausgestattet. „Jede Wohnung sollte einen Balkon besitzen und die Stadt entsiegelt werden“, berichtet Metzendorf. Durch und durch modern, wenn man bedenkt, dass im Mainz der Gegenwart immer noch heiß über Entsiegelungen und eine Begrünung der Stadt diskutiert wird. Dabei plante Lods mit 92 qm großen Wohnungen als Standard für Familien. Die Industriegebiete wären, wenn es nach dem Pariser gegangen wäre, auf die rechtsrheinische Seite verlagert worden, um eine bessere Luftqualität in der Stadt herzustellen. Die Verkehrsachsen wurden von Lods neu gedacht: So sollte eine Autobahn beim heutigen Pariser Tor in der Oberstadt beginnen und auf direktem Wege nach Paris führen und zwei neue Brücken den Verkehr über den Rhein auf die Kasteler Seite entlasten. Die Autobahnauffahrt hinter dem Pariser Tor wurde Jahre später dann auch realisiert. Ein Rheintunnel war geplant, der Wiesbaden und Mainz unterirdisch verbinden sollte. Zudem wurden ein Groß-Bahnhof und ein Flughafen auf der gegenüberliegenden Rheinseite entworfen, der in Konkurrenz zum Frankfurter Flughafen an den Start gehen sollte. Der Lods-Plan sah vor, einen Großteil der stätischen Bebauung abzureißen und durch quasi autofreie, fußgängerund fahrradfreundliche Wohnviertel zu ersetzen. Der in seiner beruflichen Laufbahn mit dem Bau von Kindergärten bekannt gewordene Lods setzte auch im Bereich der Bildungsinfrastruktur auf die Devise „Licht und Luft“, indem er Freiluftschulen plante, in denen die Schüler in „Outdoor-Klassenräumen“, unter wehenden Baumkronen lernen konnten. Ob dies mit dem deutschen Wetter kompatibel gewesen wäre, bleibt im Nachhinein fraglich. Gernot Frankhäuser sieht in Lods Plan den Abriss kulturellen Erbes: „Die alten Adelshöfe, der Schillerplatz und viele Kirchen sollten einfach weg. Einzig und allein der Dom und die Gebäude der südlichen Altstadt sollten bleiben, da sie im Krieg nicht zerstört wurden.“

Gernot Frankhäuser bewahrt im Landesmuseums Teile der Pläne auf

Ablehnung, Streit und das Ende des Traums
Doch was den Franzosen als zukunftsweisende Utopie erschien, stieß bei den Mainzern auf Ablehnung. Viele wollten ihr „Goldenes Mainz“ zurück – kein autoritär oktroyiertes „Mayence“. „Die Mainzer mochten ihr altes Mainz – selbst in Trümmern. Die Vorstellung, dass die letzten noch stehenden Altbauten mutwillig abgerissen werden und durch Hochhäuser ersetzt werden sollten, löste Empörung aus“, erklärt Metzendorf. „Obendrauf kam auch noch die Frage der Eigentumsverhältnisse. Die Häuser, die Lods abreißen wollte, lagen in privater Hand.“ Und so dauerte es nicht lange, bis auch die Stadtverwaltung gegen Lods Pläne vorging. Gerhardt Lahl, Leiter des städtischen Planungsamts, entwarf heimlich einen Gegenplan, der auf den historischen Stadtgrundriss setzte und auf enge Abstimmung mit Wiesbaden zielte. Auch der Stuttgarter Professor und Architekt Paul Schmitthenner wurde herangezogen – als Symbolfigur eines traditionellen, „deutschen“ Bauverständnisses. Schmitthenners Vorstellung eines traditionsbewussten Wiederaufbaus fand zwar ebenfalls nicht uneingeschränkte Zustimmung, aber sie lag laut Metzendorf näher an dem, was die Mainzer sich wünschten und was realisierbar war: „ein Wiederaufbau mit Bedacht, nicht eine neue Stadt auf den Ruinen der alten“. Als die französische Militärregierung die Gegenvorschläge untersagte und Amtsleiter Erich Petzold entließ, kulminierte der Konflikt: ein innenpolitischer Machtkampf, der schließlich auch das Verhältnis zwischen General Koenig und Lods zerstörte. „Koenig warf Lods zu große Nähe zu deutschen Behörden und sogar zur amerikanischen Zone vor“, so Metzendorf – ein „Rosenkrieg“, der 1948 in Lods’ Ausweisung gipfelte. Ein intensiver Austausch von Seiten Lods‘ mit den Amerikanern ist laut Metzendorf belegt. Der Architekt wusste, dass ohne die finanzielle Hilfe der Amerikaner seine Pläne nicht verwirklicht werden konnten, da Frankreich aufgrund der fünfjährigen deutschen Besatzung keinen Franc mehr in der Tasche hatte und somit auch kein aufwendiges Finanzpaket hätte schnüren können. Zudem war die Wirtschaftskraft der Stadt auf null, da die Industriebetriebe, die einst die Stadt finanziert hatten, wie die Anlagen der ehemaligen Stadtteile Bischofsheim und Gustavsburg nun in der amerikanischen Besatzungszone lagen. Und so wurde kein einziges Projekt des „Plan de Mayence“ umgesetzt, obwohl konkrete Bauanträge, wie ein Scheibenhaus-Komplex in der Wallstraße, bereits gestellt waren.

Wiederaufbau in den 50er Jahren
Der „Plan de Mayence“ war damit Geschichte. Lods kehrte enttäuscht nach Paris zurück, die Vision der Modellstadt verblasste. Der Wiederaufbau von Mainz verlief, nachdem die Währungsreform 1948 und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 vollzogen wären, ohne übergreifendes Konzept – „pragmatisch, langsam und oft widersprüchlich“, so Frankhäuser. Die Franzosen hatten sich durch die Staatsgründung zunehmend aus Rheinland-Pfalz zurückgezogen, der Wiederaufbau von Mainz wirkte bis weit in die 50er Jahre eher provisorisch: „Auch das Landesmuseum ist ein Beispiel für den privatfinanzierten Wiederaufbau.“ Raymond Schmittlein, damals Angehöriger der französischen Militärregierung, finanzierte Teile aus eigener Tasche. Bereits 1950 waren die Bauarbeiten abgeschlossen. Erst 1960 wurde ein offizieller Aufbauplan verabschiedet. „Für die 2000-Jahr-Feier der Stadt, die 1962 stattfand, wollte man schnell die Infrastruktur flottmachen und die letzten Trümmer, die in den Straßen herumlagen, wegräumen“, erzählt Frankhäuser. Der Traum, Mainz als Kunstwerk einer neuen Zeit zu gestalten, erfüllte sich nie. Provisorium statt Musterbeispiel der Moderne Doch was hätte werden können? Hätten sich Lods‘ Pläne durchgesetzt, wäre Mainz heute womöglich ein Musterbeispiel funktionalistischer Stadtmoderne: effizient, durchorganisiert, mit klaren Zonen für Wohnen, Arbeiten und Freizeit. „Möglicherweise auch ein Touristenmagnet a la „Corbusier-Bauten‘“ in Marseille“, überlegt Frankhäuser. Hochhäuser hätten in geometrischer Strenge in den Himmel geragt, der Verkehr wäre weitgehend aus der „Ville verte“ verbannt worden, und zwischen all dem hätte es durch die großflächige Anlage von Parks gegrünt. Der Dom und die Altstadt hätten als pittoreske Insel in einem Meer aus Beton gedient, Symbole der Vergangenheit, die brav in die Kulisse der Fortschrittsutopie eingebettet wären. Stadtplanerische Elemente erhielt Mainz nur in geringen Dosen. So wurden in der Ludwigsstraße Ende der 1960er Jahre die allseits bekannten Pavillons errichtet, die als neue Verkaufsfläche den Einzelhandel beleben sollten. Lods‘ Pläne sind heute dagegen kaum bekannt – und doch lehren sie viel über Macht, Modernität und die Spannungen zwischen Vision und Wirklichkeit. Sie erzählen von einer Zeit, in der Städte nicht nur gebaut, sondern symbolisch aufgeladen waren: als Ausdruck von Politik, Kultur und Herrschaft. Vielleicht war der „Plan de Mayence“ weniger eine vertane Chance als vielmehr ein gescheiterter Versuch, eine traumatisierte Stadt mit den Mitteln technokratischer Utopie zu heilen.

Text: Leonard Rosch
Fotos: Stadtarchiv

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert