
Handwerk bedeutet Leidenschaft, Tradition und stetigen Wandel. Fünf Menschen erzählen, wie sie ihren Beruf gefunden haben – von der Schornsteinfegerin auf den Dächern von Mainz bis zum Bäckermeister, der seit Jahrzehnten mit Herzblut in der Backstube arbeitet. Ihre Geschichten zeigen, wie Kreativität und Innovation traditionelle Berufe neu definieren.
Ob auf den Dächern der Stadt, in Backstuben oder an der Töpferscheibe – das Handwerk lebt von Leidenschaft, Tradition und stetigem Wandel. Fünf Menschen erzählen uns ihre Geschichte: von unerwarteten Karrierewegen, Herausforderungen und innovativen Ideen. Ihre Berufe sind mehr als nur Arbeit – sie sind Kreativität, harter Alltag und Zukunft zugleich.

Zwischen Ruß und Aussicht
Marie Damke ist keine Frau, die das Rampenlicht sucht. Die 23-Jährige trägt ihren schwarzen Arbeitsanzug mit Selbstverständlichkeit und spricht unaufgeregt über einen Beruf, der mehr ist als Ruß und Kehren. „Man sieht jeden Tag was anderes, trifft neue Leute und hat die Aussicht von den Dächern – das macht es aus“, sagt sie. Seit 2016 arbeitet sie als Schornsteinfegerin in Mainz-Ebersheim und Hechtsheim. Dabei war dieser Weg keinesfalls vorgezeichnet. Nach dem Abitur wollte Damke Lehrerin werden, absolvierte Praktika, die sie enttäuschten. „Ich habe schnell gemerkt, dass Schule nichts für mich ist.“ Ein Zufall brachte sie in Kontakt mit dem Schornsteinfegerhandwerk, und schon nach zwei Wochen Praktikum war klar: Hier passte etwas. Der Wechsel aufs Dach und in die Ausbildung erwies sich als Glücksgriff. Damke ist heute eine von wenigen Frauen in einer traditionell männlich dominierten Branche. Ihre Anwesenheit fällt auf – manchmal neugierig, manchmal mit leisen Zweifeln beäugt. „Man muss sich beweisen“, sagt sie nüchtern, ohne sich darüber zu beschweren. Ihre Professionalität und das technische Verständnis stehen dabei außer Frage. Damke arbeitet eigenständig, misst Heizungen, überprüft Abgasanlagen und übernimmt Sanierungsarbeiten an Schornsteinen. „Man braucht ein Interesse an Technik und darf keine Angst davor haben, sich die Hände schmutzig zu machen.“ Der Beruf erfordert nicht nur handwerkliches Geschick, sondern auch körperliche Ausdauer. Treppen vom Keller bis auf das Dach zu steigen, gehört zum Alltag, doch Damke winkt ab. „Der Körper gewöhnt sich daran.“ Ihre Begeisterung liegt vor allem in der Vielseitigkeit des Handwerks. Der technische Wandel, etwa durch Wärmepumpen und neue Heizsysteme, hält die Branche in Bewegung – für Damke eine Herausforderung. Neben all dem bleibt ein Aspekt essenziell: der Kundenkontakt. „Man kommt ins Gespräch, lernt Menschen kennen, und jeder Tag ist anders.“ Vielleicht ist es gerade diese Mischung aus handwerklicher Präzision und menschlicher Begegnung, die ihren Beruf zur Berufung gemacht hat. „Morgens aufzustehen und sich auf die Arbeit zu freuen – das ist unbezahlbar.“

Tradition trifft Innovation
Jonas Dämgen ist 30 Jahre alt und Dachdeckermeister aus Laubenheim. Seine Geschichte beginnt nicht mit einem Kindheitstraum vom Handwerk, sondern mit einer unkoordinierten Phase nach der Schule. „Ich bin eigentlich nur durch meinen Vater ins Dachdeckerhandwerk gekommen. Er hat den Betrieb im Hunsrück geleitet, und ich hatte dadurch erste Berührungspunkte.“ Die Ausbildung erwies sich als Fügung. Dämgen fand Freude daran, mit den Händen zu arbeiten und die Resonanz der Kunden zu erleben. Besonders schätzt er die Vielfalt der Arbeitsorte und das Zusammenspiel im Team. „Alleine ein ganzes Ziegelwerk umzudecken – das geht nicht. Man braucht das Team, das ist wie im Fußball.“ Nach einigen Jahren Berufserfahrung zog es ihn nach Berlin, wo er in einem anderen Umfeld arbeitete. „Da bin ich schnell an meine Grenzen gestoßen. Die Baustellen waren größer, die Dokumentation und Bürokratie umfangreicher. Aber dort hatte ich den ersten Kontakt mit der Digitalisierung.“ Hohe Gebäude und die Beratung von Kunden brachten ihn dazu, innovative Lösungen zu suchen. Eine dieser Lösungen war der Einsatz von Drohnen zur Vermessung von Dächern. „Wir haben irgendwann gemerkt, dass wir aus den GPS-Koordinaten und Bilddateien der Drohne eine 3D- Projektion erstellen können. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch Kosten.“ Bei einem großen Projekt in Frankfurt konnten sie durch den Drohneneinsatz 50 Prozent einsparen. „Das hat Aufmerksamkeit erregt und das Thema Digitalisierung vorangebracht.“ Zurück in Mainz gründete er seine eigene Firma, zunächst in einem Weinkeller in der Neustadt. „Es war chaotisch, wir hatten viel Platz, aber alles unterirdisch. Trotzdem haben wir uns durch den Prozess der Selbstständigkeit gekämpft und viel gelernt.“ Heute sitzt das Unternehmen in Laubenheim und zählt rund 30 Mitarbeiter, darunter die ersten Auszubildenden. „Wir sind ein junger Haufen mit vielen Fehlern, aber auch vielen Lösungen. Hier kann man viel lernen.“ Dämgen betont, dass das Dachdeckerhandwerk sich im Wandel befindet. „Es ist ein Klimahandwerk. Wir müssen Gebäudehüllen energieneutral gestalten und Speicherplätze für Energie schaffen.“ Dabei verbindet er Tradition und Innovation. Der Schiefer, ein klassisches Material aus dem Hunsrück, erlebt dank neuer deutscher Bergwerke ein Comeback. Gleichzeitig setzt das Unternehmen auf cloudbasierte Dokumentation und digitale Prozesse. Für junge Menschen sieht er im Dachdeckerhandwerk eine spannende Perspektive. „Wir sind so material- und rohstoffvielfältig wie kaum ein anderer Beruf. Wer kommunikativ ist, Humor hat und bereit ist, körperlich mit anzupacken, wird bei uns viel Freude haben.“

Reben, Wildreben, Zukunftswein
Eva Vollmers Traum hat seinen Ursprung in den sanften Hügeln Rheinhessens, wo sich endlose Reben mit dem Horizont verbinden. Tief verwurzelt in ihrer Heimat Ebersheim, führt die 42-jährige Winzerin mit Leidenschaft ein elf Hektar großes Bio-Weingut. Neben dem Weinbau betreibt sie auch Ackerbau und eine kleine Pferdezucht. Hier vereint sich Tradition mit Innovation und Natur mit sozialem Engagement: „Das ist eine gemischte Landwirtschaft aus Bio-Ackerbau und Bio-Weinbau und angeschlossen noch Pferde, die so ein bisschen den sozialen Aspekt halten.“ Schon dieser Ansatz zeigt, dass Eva Landwirtschaft als Kreislauf versteht, in dem jede Komponente ihren Platz und Wert hat. Sie jongliert mit Aufgaben zwischen Weinberg, Lagerlogistik und Marketing. „Manchmal ist man im Lager am Arbeiten, dann kommt ein Kunde, dann wechselt man zu dem, und draußen wartet der Weinberg.“ Dabei braucht es nicht nur Organisationstalent, sondern auch kreative Flexibilität, um den Anforderungen des Winzerberufs gerecht zu werden. „Der Beruf ist einfach gigantisch spannend und vielseitig. Es passiert von jetzt auf gleich immer etwas Neues.“ Ihre Begeisterung für den Weinbau ist nicht nur berufliche Leidenschaft, sondern eine Familientradition, die sie weiterentwickelt hat. Schon früh war sie zwischen Acker und Weinberg unterwegs, sei „immer große Mähdrescher gefahren“, und habe auch „super viel und gerne mit der Hand geschafft.“ Der direkte Kontakt zur Natur, das Pflegen der Trauben und das Mitfiebern mit den Reben gehören zu ihrem Lebenselixier. „Man zittert in seinem Leben ständig mit der Rebe mit. Die ist wie so ein Baby, das mit aufwächst.“ Schon seit der Gründung ihres Weinguts im Jahr 2007 betreibt sie konsequent Bio-Anbau. Doch sie will mehr: „Die Frage war, ob es so etwas wie einen Super-Bio-Wein gibt.“ Ihre Antwort darauf ist das Konzept des „Zukunftsweins“, bei dem robuste Rebsorten mit Kulturreben kombiniert werden. „Wir können damit 80 Prozent des Pflanzenschutzes einsparen, und das ist eine gigantische Zahl.“ Für Eva ist die Verbindung von Umweltbewusstsein und Innovationsgeist die Zukunft des Weinbaus. Dabei ist sie nicht allein. Die Arbeit auf dem Weingut ist ein Familienprojekt: Ihr Mann, ihre Eltern und sogar ihre Kinder helfen mit, wenn auch noch spielerisch. „Meine Kinder wurschteln schon mit. Die sind acht und zehn, das heißt eher just for fun.“ Mit Herzblut und Kreativität begleitet sie den Weg des Weins von der Rebe bis ins Glas. Und dabei bleibt sie stets offen für Neues. Denn Winzersein bedeutet für Eva Vollmer nicht Stillstand, sondern Wachstum und Weiterentwicklung. „Das ist ein Beruf, den könnte man dreimal studieren und wäre noch nicht fertig.“

Keramik und Kreativität
Stephanie Wagner empfängt ihre Besucher in ihrem lichtdurchfluteten Keramikstudio in Mainz-Finthen mit einem offenen Lächeln. In der liebevoll renovierten Scheune eines alten Bauernhauses scheint die 33-Jährige angekommen zu sein — sowohl beruflich als auch persönlich. Doch ihr Weg dorthin war alles andere als gewöhnlich. Tatsächlich begann ihre Karriere fernab von Drehscheiben und Glasuren. „Ich habe ursprünglich Eventmanagement in Heidelberg studiert. Nach dem Studium habe ich in der Modebranche unter anderem in Frankfurt und Düsseldorf im Marketing und Vertrieb gearbeitet“. Doch mit der Pandemie 2020 kam die Wende: „Ich habe wieder mehr Dinge gemacht, die mir Spaß machen, so habe ich wieder mit dem Töpfern begonnen.“ Im Sommer 2023 ging es nach Mainz. Aus dem Hobby sollte mit der Eröffnung des eigenen Töpferstudios im April 2024 schnell ihr Beruf werden. Ein Ort der Begegnung und der Kreativität entstand. Wagner bietet Töpferkurse und Workshops unter anderem für Kindergeburtstage, Junggesellenabschiede und Gruppen der Ferienbetreuung an. „Jeder Tag sieht anders aus“, sagt sie begeistert. Besonders beliebt seien Drehscheibenkurse. Doch sie produziert auch selbst: Auftragsarbeiten für Restaurants etwa gehören mit zu ihrem Arbeitsalltag. Da sei die Nachfrage besonders an Tellern groß: „Ich produziere gelegentlich 200 Teller für ein einziges Restaurant.“ Man merkt sofort, dass Stephanie zur neuen Generation von Handwerkerinnen gehört, die traditionelle Berufe mit modernen Ideen gestalten: „Vor allem in der Keramikbranche sehe ich viele schöne Geschichten von Leuten, die diesen Beruf ergreifen, obwohl sie keinen klassischen Ausbildungsweg eingeschlagen haben“, beschreibt sie die Veränderungen im Handwerk. Dennoch müsse das Handwerk heute mehr leisten als früher: „Mehr Marketing, eine intensive Kundenbetreuung und eine dauerhaft positive Atmosphäre sind gefragt.“ Ihre Keramik überzeugt durch ihre rustikale Ästhetik: Naturtöne wie Beige und Blau dominieren, ihre Stücke haben bewusst „noch ein bisschen Gewicht“. Dabei legt sie Wert auf Nachhaltigkeit: „Reste können fast immer wiederverwendet werden.“ Eine weitere Veränderung folgte im Dezember 2024. Stephanie eröffnete zu ihrem Keramikstudio in Finthen eine offene Keramikwerkstatt mit dem Namen „Stephs Clay Corner“ in der Kaiserstraße. „Vom Prinzip funktioniert es wie ein Fitnessstudio. Du bezahlst einen monatlichen Mitgliedsbeitrag und kannst das gesamte Zubehör der Werkstatt benutzen und selbst töpfern“, beschreibt sie das Konzept. Und es wird gut angenommen und liegt voll im Trend.

Bäcker mit Leib und Seele
Es ist tiefste Nacht, wenn Oliver Pfaff in seine Backstube tritt. Während andere noch schlafen, beginnt für den 57-jährigen Bäckermeister der Arbeitstag. „Mein Tag in der Backstube beginnt um 2:30 Uhr,“ sagt er. Seine Bäckerei in Finthen führt er in vierter Generation. Seit 2003 leitet er die Bäckerei – Conditorei – Confiserie Oliver Pfaff. Der Geruch von frischem Brot und süßen Kreationen durchzieht die Backstube. Pfaff hält einen Kreppel in der Hand. „Genau das war meine Motivation, Bäcker zu werden: Man stellt ein handfestes Produkt her und kann dabei auch ein wenig kreativ sein.“ Kreppel sind in der Fastnachtszeit der Kassenschlager. „Es kann vorkommen, dass wir pro Tag mehrere Hundert von denen verkaufen“, erzählt Pfaff. Der Weg zum Bäcker war für ihn jedoch nicht vorgezeichnet: „Eigentlich wollte ich als Jugendlicher technischer Zeichner werden,“ erinnert sich Pfaff. Doch nach der Schule entschied er sich für das Handwerk. „Ich habe meine Bäckerausbildung damals in Wiesbaden gemacht, bin dann ein wenig herumgekommen, aber am Ende wieder hier gelandet.“ Erfahrungen in anderen Betrieben hätten ihm sehr geholfen. Wenn man Oliver Pfaff im Alltag begleitet, fällt einem schnell das hohe Arbeitspensum auf. „Ich arbeite 80 Stunden die Woche. Wer kommt denn sonntags in den Laden und macht Sauerteig?“ fragt er und lacht. Doch der Personalmangel macht ihm zu schaffen: „Die Abbruchquote von Lehrlingen ist auch bei uns zu spüren. Wenn uns einer verlässt, müssen wir das mit unserem Personal kompensieren. Das klappt nur bedingt.“ Und auch das Kundenverhalten hat sich gewandelt: „Morgens kommt fast niemand mehr zum Bäcker.“ Der Boom der saisonalen Spezialitäten, wie dem Kreppel, kommt Pfaff da sehr entgegen. Daneben hat die Digitalisierung das Handwerk erfasst und verändert. Pfaff erzählt davon, dass er sich eine Fritteuse mit integriertem Computer gekauft habe, die die Kreppel alle sieben Minuten automatisch wendet. So bleibe mehr Zeit für andere Dinge, wie zum Beispiel Papierkram. Eigentlich sollte der auch digitalisiert werden, doch es hakt laut Pfaff bei den Behörden: „Wir haben alle Rechnungen und Berichte digital eingereicht, was von uns verlangt wurde, doch die Behörde war noch nicht auf digital umgestellt und lehnte es ab. So konnten wir nochmal schriftlich von vorne anfangen.“ Und wie blickt der Bäckermeister in die Zukunft? „Wie es mit dem Betrieb weitergeht, wenn ich in Rente gehe, steht noch in den Sternen. Ich werde noch ein paar Jahre weitermachen.“ Vorher gibt es aber noch etwas zu feiern: „Wir feiern 25 Jahre Jubiläum dieses Jahr.“ Bis dahin bleibt Oliver Pfaff, was er immer sein wollte: ein Bäckermeister mit Herzblut.
Text: Leo Rosch
Fotos: Melanie Billian