Es war einmal vor zwei Jahren. So könnte das Märchen um das Dieselfahrverbot in Mainz lauten, welches kein Ende findet. Wir schreiben das Jahr 2018, als die Deutsche Umwelthilfe (DUH) die Stadt Mainz auf sauberere Luft verklagen will. Begründung: Die Luft in Mainz, aber auch in weiteren Städten der Rhein-Main- Region, ist so hoch mit dem Dieselabgasgift Stickstoffdioxid (NO2) belastet, dass jährlich zehntausende Bürger erkranken und viele hundert vorzeitig sterben. Man spricht von der Einhaltung des NO2-Grenzwertes auf 40 Mikrogramm pro Kubikmeter (μg/m³) – ein Vorsorgewert, der gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Belastung mit Luftschadstoff vorbeugen soll. Es handelt sich um eine europarechtliche Vorgabe, die in allen EU-Staaten seit 2010 einzuhalten ist.
Überschreitung des Grenzwertes
In Mainz jedoch zeigt 2018 eine Messstelle an der Parcusstraße (Bahnhof) 2017 mit 48 μg/m³ eine deutliche Überschreitung der 40 Mikrogramm. Dazu kommen weitere Abweichungen an der Binger Straße mit 59, der Rheinallee mit 58 und dem Neubrunnenplatz mit 53 Mikrogramm. Was zu viel ist, ist zu viel, findet nicht nur die DUH und bereitet eine Klage gegen die Stadt vor. Stadt(verwaltung), IHK, HWK & Co. stemmen sich dagegen: „Niemand beabsichtigt, größere Gebiete zu sperren“, sagte Verkehrsdezernentin Katrin Eder (Grüne) und verweist als neueste Maßnahmen auf die Umrüstung der Busflotte, das Straßenbahnnetz sowie den Radverkehr. Nicht die Stadt, sondern die Automobilindustrie solle „einen Zahn zulegen“ bei der Umrüstung und nehme hier „keine Vorreiterrolle“ ein. Doch die DUH bleibt unerbittlich – und hat gute Chancen. Auch andere Städte wie Berlin, Hamburg, Stuttgart, sogar Darmstadt, haben (teilweise) Dieselfahrverbote. Mainz windet sich – und viele Händler, Handwerker und alle, die auf Diesel angewiesen sind, zittern. Baudezernentin Marianne Grosse: „Ein Dieselfahrverbot zieht der Stadt wirtschaftlich den Stecker.“
Fahrverbot droht
Schließlich das Urteil im Oktober 2018: Wenn es bis zum nächsten Sommer (2019) weiter bei erhöhten Werten bleibt, drohe ein Dieselfahrverbot, so das Gericht. Angewendet werden könnte es ab dem 1. September 2019. Der Luftreinhalteplan der Stadt enthalte nach Auffassung des Gerichts keine ausreichenden Maßnahmen. Ein Schock für die Stadtspitze und OB Ebling äußert sich: „Was uns alle eint, ist die Tatsache, dass uns die Gesundheit der Bürger äußerst wichtig ist. Wir setzen uns deshalb weiterhin dafür ein, nachhaltig für gute Luft zu sorgen und den Stickoxidausstoß weiter zu senken. Es bleibt aber auch festzuhalten, dass das Gericht kein Fahrverbot ausgesprochen hat, sondern uns einen Gestaltungsspielraum eröffnet, um Fahrverbote zu verhindern. Insbesondere ein flächendeckendes Fahrverbot ist mit dem Urteil in weite Ferne gerückt und wir werden alles dafür tun, dass es nicht zu Fahrverboten kommen muss. Die Möglichkeiten der kommunalen Einflussnahme sind jedoch begrenzt.“ Ende Februar 2019 dann ein weiterer Hoffnungsschimmer: Das Dieselfahrverbot für Wiesbaden wird abgewendet. Bei der Verhandlung am Verwaltungsgericht sei anerkannt worden, dass Wiesbadens Luftreinhalteplan der vielversprechendste in ganz Deutschland sei. Kann Mainz es also doch noch schaffen? Gemischte Gefühle. Und im November 2019 dann der Hammer: Die Deutsche Umwelthilfe startet neue Vollstreckungs- und Klageverfahren. Der Grenzwert von 40 Mikrogramm werde noch immer in vielen Teilen der Innenstadt überschritten. Die DUH fordert die Stadt daher erneut dazu auf, das Urteil umzusetzen und Diesel- Fahrverbote einschließlich Euro 5 einzuführen.
Verbot kommt – vorerst
Die Stadt steht nun mit dem Rücken zur Wand. Um Klarheit und Planungssicherheit zu schaffen, sieht man sich im Januar 2020 dazu gezwungen, Flagge zu bekennen und das Dieselfahrverbot auf der Rheinachse ab dem 1. Juli 2020 auszusprechen. Dazu soll Tempo 30 auf der Rheinachse, Parcusstraße und Kaiserstraße eingeführt werden, später in der kompletten Innenstadt. Mit dem streckenbezogenen Fahrverbot will die Stadt verhindern, dass ein Dieselfahrverbot für die komplette Innenstadt kommt. Und die Deutsche Umwelthilfe? Sie begrüßt das Einlenken: Im Ergebnis würden täglich 13.000 weniger (Diesel)autos die Theodor- Heuss-Brücke und damit die Innenstadt passieren.
Corona und Sperrungen
Alles scheint nun klar – doch alles kommt anders. Denn Anfang 2020 passieren zwei Dinge. Zum einen ist im Januar die Theodor-Heuss- Brücke für drei Wochen gesperrt. Und dann besucht uns im März ganz offiziell: Corona. Die Sperrung der Brücke ist insofern interessant, als dass nun klar wird, wie ruhig die Innenstadt sein kann, wie viele Pendler also eigentlich Mainz durchfahren, statt die Autobahnringe um die Stadt herum zu nutzen – und wie Verkehrsströme so doch noch reduziert werden könnten. Im Verkehrsdezernat geht man in sich und sammelt neue Daten und Erkenntnisse, ob es nicht vielleicht doch noch andere Lösungen gibt, den innerstädtischen Verkehr und damit Luftschadstoffe zu reduzieren. Und Corona legt schließlich sowieso alles lahm. Stadt und DUH vereinbaren Ende März eine Verschiebung des geplanten Dieselfahrverbots vom 1. Juli um drei Monate auf den 1. Oktober 2020. Die Einführung von Tempo 30 soll jedoch wie angekündigt ab dem 1. Juli erfolgen. So wird Zeit gewonnen – und nicht nur das, sondern auch Platz geschaffen für weitere Überlegungen. Ein neues Gutachten zeigt plötzlich eine Alternative zum Dieselfahrverbot: Heraus kommt ein Maßnahmenpaket in Form eines neuen Luftreinhalteplans. Mitte Juni 2020 gipfelt die Entwicklung in eine Pressekonferenz: Verkehrsdezernentin Eder teilt hier mit, dass nun doch kein Dieselfahrverbot mehr kommen soll: „Vor dem Hintergrund gesunkener Belastungen im Jahresmittel sowie der gutachterlich prognostizierten Schadstoff- Reduktion durch die Einführung von Tempo 30 auf der Rheinachse zum 1. Juli wird das zum 1. Oktober angekündigte Fahrverbot für Dieselfahrzeuge Euro 5/V nicht in den ,Luftreinhalteplan 2016-2020 aufgenommen.“ Zusätzlich sei ergänzend geplant, auf der Rheinachse eine „Umweltspur“ für Busse, Taxen und Radfahrer einzurichten, um die Belastungen gerade am „Hotspot Rheinallee / Ecke Kaiserstraße“ – zu reduzieren. Eder weiß jedoch auch: „Zu dieser Wahrheit gehört: Sollten im ungünstigsten Fall auf der Rheinachse wider Erwarten massive Überschreitungen der Grenzwerte auftreten, muss die Diskussion eines streckenbezogenen Dieselfahrverbotes – dann nur Euro 4/IV – neu geführt werden.“ Beifall von fast allen Parteien ist ihr sicher. Und zwei Wochen später folgt Tempo 30 in der kompletten Innenstadt.
Wie sind die Reaktionen?
Parteien und vor allem viele Anwohner begrüßen Tempo 30, da sie sich nun zumindest etwas mehr Ruhe erhoffen. Verkehrsdezernentin Eder habe jedoch auch für chaotische Verhältnisse beim öffentlichen Personennahverkehr gesorgt, rügt der verkehrspolitische Sprecher der ÖDP. „Die Verkehrsbetriebe hatten keine Zeit, die Busfahrpläne an das neue Tempolimit anzupassen.“ Dadurch seien Verspätungen entstanden. Mitunter komme es vor, dass Autofahrer, die sich an Tempo 30 halten, von hinter ihnen fahrenden Bussen angehupt werden, um sie zu schnellerem Fahren zu nötigen, damit die Busse die Fahrpläne einhalten. „Bei 90 Fahrten auf einer Linie sind wir am Tag schnell bei 90 Minuten“, so ein MVG-Sprecher. Dieses „Mehr“ an Fahrzeit führe in der Folge zu „erheblichen zusätzlichen Betriebskosten“. Aufs Jahr gesehen kämen durch den verlängerten Einsatz Mehrkosten im sechsstelligen Bereich zustande. Mit dem Ende der Sommerferien werden die längeren Fahrzeiten in den Fahrplänen berücksichtigt. Zudem sei man in der Abstimmung mit der Stadt, um „durch eine ÖPNV-freundliche Schaltung einiger innerstädtischer Ampeln eine reibungslosere Fahrt der Busse zu ermöglichen“. Denn dies ist das nächste Problem: Weniger Emissionen passieren nur, wenn der Verkehr fließt und nicht ständig an Ampeln stecken bleibt. An Letzterem scheint es aber zu hapern. Katrin Eder: Man habe im Zuge der Umstellung auf Tempo 30 ein externes Fachbüro damit beauftragt, „eine Programmierung der Ampeln zu erstellen, die einen möglichst guten Verkehrsfluss gewährleisten soll“. Diese Programmierung könne aber nicht zentral vorgenommen werden, sondern müsse „an jeder Ampelanlage einzeln aufgespielt werden, was Zeit in Anspruch nimmt“. Vorher habe man die Programmierung nicht vornehmen können, da man dann den Verkehrsfluss bei Tempo 50 gestört hätte. „Aber so, dass jeder glücklich ist, werden wir die Ampelschaltung auch dann nicht hinbekommen. Für den Radverkehr ist die Ampelschaltung momentan sehr viel schlechter als für die Autos.“
Blitzer und Kontrollen
Zur Kontrolle der Geschwindigkeit postiert die Stadt zudem täglich einen mobilen Blitzer an vier verschiedenen Stellen der Innenstadt. Er soll demnächst Unterstützung durch neun stationäre Anlagen auf der Rheinachse und im Stadtgebiet erhalten. Im ersten Monat seien auf der Rheinallee 499 Geschwindigkeitsverstöße festgestellt worden und auf der Kaiserstraße 399. Insgesamt kamen Bußgelder in Höhe von 21.000 Euro zusammen. Bei den meisten Geschwindigkeitsüberschreitungen seien die Autofahrer aber nicht wesentlich zu schnell unterwegs gewesen. Nur bei 2,5 Prozent der Überschreitungen (23 Fälle) seien die Autos schneller als 51 Kilometern pro Stunde gefahren. Bis die festen Geräte, die allesamt im Laufe des Jahres 2021 installiert werden sollen, ihre Kosten wieder reingeblitzt haben, wird es ein wenig dauern: Die Gesamtkosten für die Anlagen liegen laut Allgemeine Zeitung bei rund zwei Millionen Euro.
Fazit
Einige Stellschrauben sind also noch zu drehen. Zudem entwickelte die Stadt gemeinsam mit zwei externen Fachunternehmen ein Netz aus Luftqualitätssensoren und Verkehrszählkameras. Dieses soll künftig die Datenbasis liefern, um mit Hilfe künstlicher Intelligenz Zusammenhänge zwischen Luftschadstoffen und Verkehr sichtbar zu machen. Denn das Problem: Die Zusammenhänge zwischen den Werten auf der einen und Wetter und Verkehrslage auf der anderen Seite konnten in Mainz aufgrund eingeschränkter Datenlage – wenn überhaupt – bisher nur in statischen Modellen und mit hohem Aufwand herausgearbeitet werden. Erst durch den Aufbau neuer Sensorik, könnte eine genauere Abschätzung der Wirkweisen erfolgen. Es bleibt somit spannend. Auch ob die Pendler weiterhin durch Mainz fahren oder demnächst auf die Autobahnen ausweichen. Und ob es damit zu weniger Rückstaus und Schwankungen der Grenzwerte kommt. Und natürlich vor allem: Wie sich die Deutsche Umwelthilfe letztendlich positionieren wird.
David Gutsche
Das Foto mit der Bildunterschrift „Verkehrsdezernentin Katrin Eder (Grüne) und
ihre Truppe stellen die Innenstadt auf Tempo 30 um.“ ist in der Boppstraße – Höhe Hausnummern +/- 2 0 – aufgenommen worden. In der Boppstraße gilt schon jahrelang Tempo 30 und ist zur Zeit eine Baustelle. Von Umstellung auf Tempo 30 kann also gar keine Rede sein. Ich vermute das Foto wurde zu einem anderen Anlass aufgenommen worden. Oder?