Es ist heiß im Hechtsheimer Gewerbegebiet. Die Sonne brennt auf den Asphalt, wolkenloser Himmel gewährt einen weiten Blick auf die Silhouetten der Innenstadt. Normalerweise verirren sich hierhin selten Menschen, die nicht gerade bei Möbel Martin einkaufen oder DHL-Lieferungen ausfahren. Doch Anfang Juni hat der Möbelriese Nachbarn bekommen. Grasende Kamele, spielende Kinder und Wohnwägen mit Wäscheleinen verraten, dass hier jemand lebt.
Ansichten eines Clowns
„So romantisch wie es sich manch einer vorstellt, ist das Zirkusleben lange nicht mehr“, lacht ein rundlicher Mann im weißen T-Shirt trocken und wischt sich die schmutzigen Hände an seiner Arbeitshose ab. Sein Name ist Timmy und er ist Clown. Mit seiner Familie und über 50 Tieren gehört er zum Zirkus Carelli, der hier für zwei Wochen zwischen kastenförmigen Industriegebäuden seine Zelte aufgeschlagen hat. „Es ist in erster Linie ein Knochenjob.“ Die schweren Zelte müssen aufgebaut werden, die Tiere wollen gefüttert und versorgt sein. Immer wieder fallen Reparaturen an, um die sich Timmy nicht selten persönlich kümmert. Außerdem wird eingekauft, die Kostüme werden gewaschen und die nächste Vorstellung vorbereitet.
Von den Städten, in denen sie spielen, bekommen die Carellis (ein Künstlername) in der Regel wenig mit. „Ich würde gerne mal abends etwas trinken gehen“, gesteht der 37-Jährige, „aber das ist nicht so einfach, wenn man ständig am Arbeiten ist.“ Gerade die Mainzer Lebensart hat es ihm angetan, bei einem Promobesuch der Innenstadt am Samstagvormittag. „Das hat richtig Spaß gemacht. Ein bisschen über den Markt spazieren und dann eine kühle Weinschorle. Da bekommt man schon Lust, länger zu bleiben.“ Aber aus dem Zirkusgeschäft aussteigen und sesshaft werden? Für Timmy undenkbar. „Zirkus ist wie eine Droge. Ich lebe für die schönen Momente.“ Momente wie der Abschluss einer erfolgreichen Abendvorstellung. Begeisterte Kinder und jubelndes Publikum.
Seit seinem siebten Lebensjahr steht er in der Manege, erst als Assistent, dann als Artist. 1996, ausgerechnet im Mainzer Volkspark, wendet sich das Blatt: Bei einer Nummer mit dem „Todesrad“ stürzt der damals Siebzehnjährige aus elf Metern Höhe. Mit mehreren Knochenbrüchen wird er in die Uniklinik eingeliefert: Ein Fall für den Rollstuhl. Den Rollstuhl darf er nach einem Jahr wieder verlassen, doch die Artistenkarriere ist gelaufen. „Im Herzen war ich eigentlich schon immer Clown“, schmunzelt er, „und nach dem Sturz blieb mir ohnehin nichts anderes übrig.“
Gelernt hat er es nie, das Clownsein. Während der Vorstellung in Hechtsheim wirkt er jedoch routiniert und unaufgeregt. Zweideutige Witze, Gesangseinlagen und wildes Gerangel mit seinem Esel Manolito. Timmys Lachnummern zünden, vor allem bei den jungen Zuschauern. „Die Mainzer sind ein gutes Zirkuspublikum“, stellt er fest. „Vielleicht meine neue Lieblingsstadt.“ Schon bald geht es weiter nach Tauberbischofsheim bei Würzburg. Dort zwei Wochen, dann zur nächsten Station. Nur im Winter machen die Carellis Pause. „Ich wohne da, wo mein Wagen gerade steht“, sagt Timmy, „Mehr brauche ich nicht, um mich daheim zu fühlen.“ So etwas wie Urlaub kenne er nicht. „Es ist paradox, aber wenn ich mich zu sehr entspanne, verkrampfe ich“, lacht er. „Einmal die Woche gehe ich in die Sauna, das ist alles, was ich an Urlaub brauche.“
Von amerikanischer Wildnis ins Rheinhessische
Wenige Kilometer weiter nördlich verbringen zwei junge Amerikaner gerade ihren Sommerurlaub. „Wir sind zum ersten Mal in Europa“, sagt Courtney, die mit ihrem Bruder Ryan heute an einer Stadtführung teilnimmt. „Die alten Gebäude sind beeindruckend. Wo wir herkommen, gibt es so etwas nicht“, erzählt Ryan kopfschüttelnd, den Blick in Richtung Dom. Der 20-Jährige und seine zwei Jahre ältere Schwester stammen aus Ellijay, einer 1.600-Seelen-Gemeinde in den Bergen des US-Bundesstaats Georgia. Vom Rathausplateau geht es am Rheinufer entlang in die Altstadt. „People drink a lot of wine here“, erklärt die Touristenführerin , „and are known to have a relaxed attitude towards life.“ Das Klischee des strengen, humorlosen Deutschen sieht Courtney in Mainz nicht bestätigt. „Ich war tatsächlich erleichtert, wie nett die Leute hier sind“, gesteht die Studentin. „Ich dachte, sobald sie unseren Akzent hören, wären sie genervt. Amerikaner seien in Europa nicht sehr beliebt, hatte man mir gesagt.“
„People drink a lot of wine here“, erklärt die Touristenführerin , „and are known to have a relaxed attitude towards life.“
Ob das wirklich an den Mainzern liegt oder bloß an der Trinklaune der Marktfrühstückbesucher? Vielleicht auch an Heidi, Courtneys und Ryans Großtante, die das Geschwisterpaar begleitet. Die gebürtige Wackernheimerin ist vor fünf Jahren mit ihrem Ehemann in seine Heimat gezogen. „In Ellijay hat man mehr mit Bären und Eichhörnchen zu tun als mit seinen Nachbarn“, sagt sie und grinst. Mit Mainz und Europa habe das Leben dort kaum etwas gemein. „Das ist alles ziemlich neu für uns“, gibt auch Courtney zu. Zuvor hatte Heidi sie auf eine Schiffstour durch den Rheingau mitgenommen. Nach Mainz stehen vier Tage München und Garmisch an, bevor der Flug nach Hause geht. Volles Touristenpaket eben, mit vielen Eindrücken in kurzer Zeit.
Der Gast aus Alexandria
Deutlich mehr Zeit genommen hat sich Aziz. Der 26-jährige Ägypter lebt seit fast einem Jahr in Mainz, um zu seiner Praktikumsstelle bei Star Alliance am Frankfurter Flughafen zu pendeln. Zum Wintersemester geht er wieder zurück nach Hamburg. Dorthin ist er 2015 von Alexandria gezogen, um im Master „Information and Communication Systems“ zu studieren. „Mainz ist keine Metropole wie Hamburg oder Alexandria, aber eben auch keine Kleinstadt“, sagt er, „das gefällt mir ziemlich gut. Die Leute sind nicht so unnahbar.“ Im Gegensatz zu Hamburg hat er hier schon viele Kontakte geknüpft.
Ein besonderer Glücksfall war seine erste Wohngemeinschaft: „Als ich letzten Sommer hier angekommen bin, habe ich etwas Vorübergehendes gesucht. Da bin ich auf ein WG-Angebot gestoßen.“ Zwei Monate lang wohnte er zur Zwischenmiete in einer Studenten-WG in der Oberstadt, mit Sara und Miriam. Die beiden zeigten ihm die Stadt, nahmen ihn mit ins Theater und auf Kneipentouren. Gemeinsam mit Sara schloss er sich der „bunten Liga“ an, Hobbyfußballern, die sich jedes Wochenende zum Kicken treffen. „Jeder kann mitmachen. Die einzige Voraussetzung ist der Spaß am Fußballspielen.“
Gerade für Menschen, die wie Aziz noch wenig oder gar kein Deutsch sprechen, bietet der Fußballtreff eine willkommene Abwechslung. Denn Kommunikation geht hier auch ohne Worte. „Deutsch lernen möchte ich trotzdem“, sagt Aziz (in einwandfreiem Deutsch). Dazu macht er einen Sprachkurs und übt gemeinsam mit einer Tandempartnerin, Filiz. Auch Filiz hat er über Miriam kennengelernt. Er bringt ihr Arabisch bei, sie ihm Deutsch. Mittlerweile treffen die beiden sich auch privat, teilen denselben Freundeskreis. „Alles, was ich über deutsche Kultur weiß, habe ich in Mainz gelernt“, stellt er fest.
In Hamburg lebte er in einer internationalen WG, bekam vom Stadtleben wenig mit. „Darauf habe ich keine Lust mehr. Wenn ich zurück nach Hamburg gehe, will ich wieder mit Deutschen zusammenwohnen und etwas mitbekommen von der Stadt.“ Ob er sich vorstellen könne, dauerhaft in Mainz zu leben? Energisches Nicken. „Es könnte auch eine andere Stadt sein. aber in Deutschland würde ich gerne länger bleiben.“ Neben seinen Freunden lässt er auch eine Alltag gewordene Routine zurück, wenn er Ende Juli wieder in den Norden zieht. „Mein Lieblingsplatz in Mainz ist die Eisenbahnbrücke. Jeden Morgen und jeden Abend blicke ich aus meiner S-Bahn auf den Rhein. Das wird mir fehlen.“
Polnisches Lehrstück
Joanna Kulska blickt unterdessen von ihrem Büro über den Campus der Universität. „Sorry für die Unordnung. Ich bin gerade am Packen“, entschuldigt sich die gut gelaunte Polin zur Begrüßung. Seit Ostern lehrt sie am Institut für Politikwissenschaft Polonistik. Ihre Gastdozentur ist Teil des Masters „European Studies“, ein trinationales Studienprogramm der Unis Mainz, Dijon und Opole. Mit Mainz verbindet Joanna eine lange Geschichte: „Für meinen ersten Job nach dem Abschluss brachte mich eine gute Freundin nach Mainz, um mir zu zeigen wie das Erasmus-Programm funktioniert. Polen war noch nicht Teil der EU und Erasmus an polnischen Unis kaum bekannt.“ Noch heute koordiniert die 43-Jährige das Erasmusprogramm ihrer Heimatuni in Opole. „Der Austausch bietet eine einzigartige Gelegenheit für junge Menschen aus Europa. Er hat eine ganz besondere Generation von Studenten geprägt“, schwärmt sie. Dozenten- und Studentenaustausch scheinen sich dabei kaum zu unterscheiden. Das Leben spielt sich auf dem Campus ab, die Wochenenden sind Ausflügen und Kultur vorbehalten. In Mainz wohnt Joanna sogar im Studentenwohnheim. „Ich fühle mich sehr wohl hier an der Uni. Wenn ich mal frei habe, gibt es nichts Schöneres, als ein Glas Riesling mit Freunden in der Innenstadt zu genießen. Oder einen Abstecher in eins der kleinen Weindörfer am Rhein.“ Trotz ihrer unaufhaltsamen Begeisterung packt auch eine Vollblut-Europäerin wie Joanna manchmal das Heimweh. Deshalb geht es nun erst einmal für eine Woche auf Heimaturlaub. „Wenn ich hier eine Sache vermisse, ist es meine Familie“, gesteht sie.
Dafür hat Musiker Anton Berman seine eigene Lösung gefunden: Der 34-Jährige hat Freundin und Tochter kurzum eingepackt und mitgenommen. Wohnhaft in Berlin ist er drei Wochen lang Gast am Staatstheater. „Als Musiker am Theater muss ich mich immer nach meinem Regisseur richten“, erklärt er. Gemeinsam mit Jan-Christoph Gockel inszeniert er momentan „Meister und Margarita“, nach Michail Bulgakows Klassiker. „Wenn Jan-Christoph und ich zusammen arbeiten, ist das wie eine Jamsession. Wir improvisieren, proben mit den Schauspielern, passen die Szenen an, tauschen uns aus. Insgesamt ein sehr dynamischer Prozess.“
Am Staatstheater ist es für das Duo nach „Schinderhannes“ und „Ich, Pinnochio“ bereits die dritte Produktion. Dass Antons Beruf auch Berufung ist, merkt man im Gespräch schnell. „Ich komme aus Moskau. Als ich zwölf war wurde mir eine Blockflöte in die Hand gedrückt, ich sollte eine Tänzerin begleiten. Seitdem habe ich im Grunde nie etwas anderes gemacht“, lächelt er. Als Jugendlicher kam er mit seiner Familie nach Deutschland. „Ich hatte eine sehr naive Vorstellung vom Westen. Jeden Tag Orangensaft trinken und Nike-Schuhe tragen. Wie kann es den Leuten da schlecht gehen, dachte ich mir.“ Doch Orangensaft und Markenkleidung waren kein Garant für ein erfülltes Leben. Der anfängliche Zauber verflog, dafür lernte Anton die Unterschiede zu schätzen.
„Ich bin immer noch regelmäßig in Moskau und mache dort Straßentheater. Aber die russische Theaterkultur ist anders als die deutsche.“ Schnelllebige Stücke, kurze Proben- und Laufzeiten sind in Deutschland gang und gäbe. „In Russland probt man bis zu einem Jahr für ein Stück. Und es läuft dann teilweise über mehrere Jahre.“ Die aktuelle Produktion wird in zwei Wochen abgespielt. Bloß zehn Termine gibt es dafür in Mainz. „Auch wenn ich nie lange an einem Ort wohne, versuche ich mir jedes Mal vorzustellen, dass es mein neues Zuhause ist“, sagt Anton. Oft beschränken sich seine sozialen Kontakte auf das Theater, aber er versuche immer, so viel wie möglich mitzunehmen. „Es ist schließlich auch Lebenszeit.“
An Mainz gefällt ihm besonders das Studentische. Man merke, dass hier viele junge Menschen leben, im Publikum wie in der Stadt. Trotz der unterschiedlichen Größe vergleicht er Mainz mit seiner Wahlheimat Berlin. „Das Gute an kleinen Städten ist, dass hier noch viel entsteht. In Berlin ist alles schon da.“ Auch die Lebensqualität schätzt er im Vergleich zu anderen Städten, die er bespielt, sehr hoch. „Man merkt, dass hier Wert auf das Wohlbefinden der Menschen gelegt wird. Der Rhein und der Wochenmarkt machen viel aus. Und die ganze Weinkultur; dass die Leute so viel draußen sind.“
Das Vagabundenleben ist für Anton längst zum Dauerzustand geworden. Langfristig sieht er sich allerdings in der Sesshaftigkeit. „Ich bin vor kurzem Vater geworden. In dem Moment war mir klar, dass es so nicht weitergeht.“ Fürs nächste Jahr stehen bereits viele Projekte an, denn neben seiner Arbeit am Theater spielt er auch in zwei Bands. Sein musikalisches Zuhause hat er irgendwo zwischen experimentellem Elektro und wildem Klezmerpunk gefunden. Sein geografisches Zuhause? „Im Moment immer da, wo meine Familie ist.“ Auf der Durchreise. Eindrücke von Gastfreundschaft und Heiterkeit bleiben. Wirklich Negatives verbindet niemand mit Mainz. Ob als Tagestourist oder Dauergast – die Stadt übt einen besonderen Charme auf seine Besucher aus. Andere Städte mögen größer, schöner und spannender sein, aber Mainz bleibt in Erinnerung. Sind es die Menschen oder der glitzernde Fluss? Man weiß es nicht. Man schunkelt nur.
Text Ida Schelenz Fotos Domenic Driessen