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Arbeit 4.0 – Mainz / Betriebsschließungen und die digitale Veränderung

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von Ejo Eckerle und Katharina Dubno (Fotos)

Die digitale Vernetzung verändert die Arbeitswelt, während in Mainz Betriebsschließungen für Unruhe sorgen.

Die Arbeitswelt der Zukunft ist voller Fragezeichen. Kommen Taxis und Güterzüge bald ohne Fahrer aus? Werden Bargeld und Bankberater überflüssig? Basteln Chirurgen und Zahnärzte mit Hilfe von 3D-Druckern Zahnersatz und Prothesen? Verschwinden die Jobs von Ingenieuren, Rechtsanwälten, Versicherungsberatern – und kommen dafür neue Berufe, die wir heute noch gar nicht kennen? Und was passiert mit den traditionellen Industrien? Die „digitale Revolution“ der Industrie 4.0 hat begonnen.

Ihr Treibstoff sind immer leistungsfähigere IT-Systeme, hochentwickelte Robotik und Sensorik, 3D-Technik und riesige, vernetzte Datensammlungen: Big Data, die große Welle des industriellen Umbaus, rollt. Sie erfasst nicht nur Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten, sondern auch zunehmend hoch qualifizierte Fachkräfte. Was geschieht mit den Beschäftigten? Wo entstehen neue Arbeitsplätze?

Bedrohte Arbeitsplätze?

Entweder übertreffen sich Prognosen gegenseitig mit Horror-Szenarien oder malen uns eine rosarote Zukunft aus. Die Bundesregierung hält sich in ihrem „Grünbuch Arbeit 4.0“ zurück: „Was offen ist, wie die Beschäftigungsbilanz in der digitalen Ökonomie ausfallen wird. Software-Lösungen lassen den Automatisierungsgrad weiter steigen.“

Konkreter wird da eine Studie der ING-DIBA, die kürzlich deren Chefvolkswirt Carsten Brzeski auf einem Kongress des „Demografienetzwerkes FrankfurtRheinMain“ präsentierte: „59 Prozent der Arbeitsplätze sind bedroht. Unter dem Strich werden sich Tätigkeiten und ganze Berufsfelder ändern. Es wird sehr viel mehr Menschen treffen als wir uns vorstellen können. Alles was digitalisiert, automatisiert werden kann, wird es auch werden.“ Die Gegenrechnung macht die Unternehmensberatung Boston Consulting auf: „Bis 2025 fallen 610.000 Arbeitsplätze von sieben Millionen in der Industrie weg, es entstehen aber 960.000 neue.“

Beispiel Finanzbranche

Ein Gradmesser für das, was auf uns zukommt, ist die Finanzindustrie. Im Frankfurter Gallusviertel hat sich das Unternehmen „vaamo“ niedergelassen, ein typisches Start-Up mit derzeit knapp 20 Angestellten. Die beiden Gründer, Oliver Vins und Thomas Bloch, kommen aus dem traditionellen Bankgeschäft. Mehr als die Hälfte der Menschen, die dort vor ihren Rechnern sitzen sind keine Bankkaufleute, sondern IT-Spezialisten oder Designer. Ihre Aufgabe ist es, die Investmentplattform „vaamo“ am Laufen zu halten, Produktideen zu entwickeln und diese umzusetzen.

Oliver Vins hat in seiner früheren Tätigkeit als Berater bei McKinsey gesehen, dass bei den Geschäftsbanken die Möglichkeiten der Digitalisierung eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Vieles von dem, was sie ihren Kunden anböten, entspräche nicht deren Bedürfnissen: zu teuer, zu unflexibel, speziell auch für eine jüngere Kundengeneration. „Deshalb haben wir uns überlegt, einen einfachen und transparenten Zugang für Finanzanlagen zu schaffen“, sagt Vins. Transaktionsgebühren, Aufschläge oder Depotgebühren entfallen hier.

Ganz und gar unbescheiden gibt er sich, wenn man ihn auf die Erfolgsaussichten seines Geschäftsmodells anspricht: „Wir setzen mit unserem Konzept auf eine hohe Benutzerfreundlichkeit, ein leicht verständliches Produkt mit vollautomatisierten Prozessen und das zu günstigen und transparenten Preisen, mit dem Ziel, in einigen Jahren die führende Alternative zum Anlageangebot traditioneller Banken zu sein.“

_MG_9529bearbDas System Blockchain

Was die Zukunft der Digitalisierung für die Finanzhäuser mit sich bringt, davon hat auch der Mainzer Programmierer und ITUnternehmer Heiko Hees eine genaue Vorstellung. „Neben dem bestehenden hohen Kostendruck steht der Finanzbranche künftig auch noch das Problem ins Haus, dass viele ihrer Dienstleistungen noch relativ zentral abgewickelt werden.“ Hier greifen mittlerweile schon andere Methoden, Stichwort bargeldloser Zahlungsverkehr, die dezentrale Systeme anbieten, etwa die so genannte Blockchain.

Das System der Blockchain basiert darauf, dass alle Beteiligten in einem Netzwerk die Authentizität und Richtigkeit einer Zahlung prüfen können, als korrekt melden und damit buchen. Das, was bisher der Mensch erledigte, wird in Sekunden von gigantisch vielen Rechnern abgearbeitet, fehlerfrei und lückenlos nachweisbar. Die Blockchain ist ein digitaler Kontoauszug für Transaktionen zwischen Computern, der jede Veränderung genau erfasst. Damit ist die Information nicht (oder nur mit ungeheurem Aufwand) manipulierbar und verifiziert. Das alte Bankgeschäftsmodell wird entbehrlich.

Mit seinem Unternehmen brainbot technologies AG, das im Zollhafen sein Quartier aufgeschlagen hat, arbeitet Heiko Hees derzeit an einer Blockchain basierten Zahlungsverkehr-Infrastruktur, die es auch Menschen ohne Zugang zu Finanzinfrastruktur, etwa in Entwicklungsländern, ermöglichen soll, am Finanzsystem teilzunehmen. Das betrifft rund 2 Milliarden Menschen weltweit: „Das Problem ist, dass diese Menschen zu arm sind, als dass es sich für Banken rechnen würde, ihnen ein Konto einzurichten. Die Folgen sind weniger Kredite im Wirtschaftskreislauf und geringeres Wachstum. Wenn man das Problem löst, wird es zumindest in den Entwicklungsländern auch viele neue Jobs schaffen“, so die Prognose des IT-Experten.

Betriebsschließungen als Vorboten?

Gewiss, es sind bisher nur leise Vorboten der Veränderung, aber das Gespenst der Betriebsschließung und der Verlagerung von Arbeitsplätzen geht um. So auch beim Mainzer Traditionsunternehmen Nestlé. Noch sind es in erster Linie Menschen, knapp 400 Arbeiter und Angestellte, die dort Materialien ordern, Maschinen bestücken und den Produktionsprozess steuern. Dennoch hat es das Unternehmen erwischt, noch ehe digitalisierte Arbeitsprozesse im großen Umfang dort einzogen. Ende 2017 soll die Fabrik geschlossen werden.

Das Werk des Lebensmittelgiganten stellt am Standort Mombach Kakaopulver und löslichen Kaffee her. Letzterer wird im so genannten Extraktionsverfahren produziert. Das erzeugt eine hohe Luftfeuchtigkeit und die setzte dem 1958 errichteten Firmengebäude im Laufe der Jahrzehnte immer mehr zu. Statt es gründlich zu renovieren will Nestlé den Betrieb lieber 2017 stilllegen.

Guido Noll von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten (NGG) hat die Hoffnung allerdings noch nicht aufgegeben. „Wir haben dem Aufsichtsrat einen Alternativ-Vorschlag übermittelt. Das Extraktionsgebäude soll auf dem Grundstück der Firma Cargill neu errichtet werden, um dann das Stammwerk zu sanieren.“ Damit spricht er einen weiteren Industriestandort an, der, soviel ist bereits sicher, verschwinden wird. Cargill verarbeitet in Mainz Rapssaat zu Pflanzenöl und Rapsschrot. „Dieser Standort ist Wettbewerbsnachteilen in einem Umfeld mit niedrigen Margen ausgesetzt“, steht in einer Pressemitteilung des Unternehmens. Auf gut deutsch: die Sache rechnet sich nicht mehr. Hier stehen rund 50 Arbeitsplätze auf dem Spiel.

dbSinkendes Schiff DB Cargo

Unruhige Zeiten stehen auch der Bahn-Logistiktochter DB Cargo bevor. Das Hauptquartier des Unternehmens schmiegt sich wie ein Containerdampfer an das Ufer des Rheins neben dem Malakoff- Center. Was auf der „Brücke“ beschlossen wird, sorgt innerhalb der Belegschaft für erhebliche Unruhe. Derzeit arbeiten dort knapp 1.000 Mitarbeiter, bald schon könnten es 400 weniger sein. Dietmar Muscheid, Vorsitzender des DGB Rheinland-Pfalz, ist alarmiert: „Die Stellenstreichungen bei DB Cargo wären nach der gerade erst angekündigten Schließung des Nestlé-Werks der zweite schwere Schlag für den Wirtschaftsstandort Mainz.“

Ob die Stellen wirklich gestrichen oder möglicherweise nur an andere Orte verlagert werden, ist aber bis heute noch nicht klar.  Unbestritten ist: Schon seit Jahren kämpft DB Cargo mit miesen Bilanzen. Die Gründe dafür sieht der DGB-Chef in einer schlechten Geschäftspolitik: „Die wirtschaftlichen Probleme sind nicht auf die Beschäftigten zurückzuführen, sondern das Ergebnis eines mangelhaften Managements in der Chefetage. Auch in der Bundespolitik wurde geschlafen: Alle reden davon, wie wichtig es sei, Kohlendioxid zu sparen und deshalb einen größeren Teil des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene zu bringen. Die politischen Rahmenbedingungen dafür wurden aber nicht geschaffen.“

All der schlechten Nachrichten zum Trotz, es gibt auch Positives zu vermelden, zum Beispiel die geplante Firmenzentrale des Finanzdienstleisters Deutsche Anlagen-Leasing (DAL) an der Emy-Roeder-Straße, die bis 2017 fertiggestellt sein soll. Auf einen Schlag werden dadurch nicht nur 240 bisher an verschiedenen Standorten tätige Mitarbeiter, sondern zudem fast 2.000 weitere Angestellte, die bei verschiedenen Tochtergesellschaften tätig waren, in Mainz ihren neuen Arbeitsplatz beziehen. Wie nachhaltig diese Stellen sein werden, muss sich noch zeigen, schließlich gehört die Finanzbranche zu jenen, deren Transformationsprozess gerade erst begonnen hat.

Aus Dampfkraft wird Big Data – Die Geschichte der
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Industrie 1.0: von der manuellen Arbeit zur mechanisierten
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durch Elektrizität und Fließbänder
Industrie 3.0: von der Massenfertigung zur Automatisierung
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