„Es gibt kaum eine Schule, an der nicht gebaut wird“, sagt Eckart Lensch (SPD). Der neue Mainzer Sozialdezernent bezieht sich damit auf Bildungseinrichtungen, für die er seit Juli vergangenen Jahres als Leiter des Dezernats für Soziales, Kinder, Jugend, Schule und Gesundheit verantwortlich ist. Neben den Privatschulen lässt er damit jedoch auch die Einrichtungen außen vor, die nicht zum Abitur führen. Was aber nicht bedeutet, dass nicht auch dort gebaut wird. Bereits vor vier Jahren hatte sein Amtsvorgänger Kurt Merkator Investitionen in Höhe von 200 Mio. Euro in die Sanierung und Erweiterung von Schulen und Turnhallen angekündigt. Trotz der nun geballten Power geht Lensch nicht davon aus, dass es in der Vergangenheit Versäumnisse gegeben hat: „Viele Schulgebäude stammen aus den 60ern und 70ern. Ihr Zyklus geht zu Ende“, argumentiert er. Sein Wiesbadener Amtskollege Axel Imholz sagt: „Was in 30 bis 40 Jahren nicht ausgegeben worden ist, das schafft man nicht in zehn Jahren.“ Im letzten Sommer hat die Task Force „Schulbau“ installiert, in der Mitarbeiter von Schulamt, Hochbauamt und Kämmerei zusammen arbeiten. Neu ist die Einführung des Prinzips der Kassenwirksamkeit. Hier soll mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in kürzerer Zeit mehr erreicht werden. Das soll mehr Flexibilität und parallel laufende Bauvorhaben ermöglichen.
Steigende Schülerzahlen
Der Handlungsbedarf wächst auch durch den Anstieg der Schülerzahlen. So werden derzeit an den Mainzer Grundschulen 7.155 Kinder beschult. Für das Schuljahr 2027/28 geht man von 8.586 Anmeldungen aus, eine Steigerung von beinahe 20 Prozent. „Wir brauchen daher mindestens zwei neue weiterführende Schulen“, rechnet Lensch. Geht es nach dem Dezernenten, dann bekommt Mainz auch ein siebtes städtisches Gymnasium und eine vierte Integrierte Gesamtschule (IGS). Letzteres vor allem aufgrund der Elternwünsche. So gäben die Anmeldezahlen einen Hinweis darauf, dass die Vorliebe für diese Schulform wüchse. Zwei Varianten wären somit denkbar: „der Neubau einer IGS oder eine Umwandlung“, erläutert Lensch. Allerdings lassen die jüngsten Signale aus dem Bildungsministerium erwarten, dass es nicht zu einer Umwandlung kommen wird. Man kann derzeit nicht wirklich auf eine der vier bestehenden Realschulen Plus verzichten. Für eine weitere IGS müsse man also nach einem anderen Standort suchen.
Kirchliche Träger mischen mit
Zur Vielfalt in der Schullandschaft tragen auch Einrichtungen bei, die sich nicht in staatlicher Trägerschaft befinden. Das Mainzer Ganztagsgymnasium Theresianum etwa ist eine von drei Einrichtungen, die sich in Trägerschaft des Bistums befindet. Gerade sind 3 Mio. Euro in den Übergangsstandort auf dem IBM-Gelände in Mainz-Hechtsheim investiert worden, damit das Schulgebäude am Oberen Laubenheimer Weg in den kommenden zwei Jahren für 25 Mio. saniert werden kann. Das Bistum erhält dabei Zuschüsse vom Land und auch die Lehrkräfte sind im Staatsdienst. Als christliche Schule in katholischer Trägerschaft gehören Gottesdienste in der Kapelle und an hohen Feiertagen genauso dazu wie ein Seelsorge-Team: „Wir haben den Anspruch, dass wir anders miteinander umgehen“, sagt Schulleiter Stefan Caspari. Daher wird in der 11. Klasse ein Sozialpraktikum durchgeführt, bei dem die Schüler Einblick in die Arbeit eines Hospizes, der Altenpflege oder einer Kita gewinnen. Auch pädagogisch setzt man Schwerpunkte. In Tischgruppen soll kooperatives Lernen gefördert werden. Ein Thema wie die Reformation wird interdisziplinär in mehreren Fächern behandelt. Individualisiertes Lernen wird gefördert. So heißt es zwei Mal im Jahr: freie Studienwahl, bei der es keine Noten, sondern Anerkennung zu gewinnen gibt – was Kreativität und Risikofreude fördere. In der Oberstufe besteht zudem die Möglichkeit Neigungsgruppen beizutreten, deren Konzept als „besondere Lernleistung“ eine von zwei mündlichen Prüfungen ersetzen kann. Auch die Eltern werden stark einbezogen.
Waldorf = Tanzen?
In stärkerem Maße ist die Elternschaft an der Freien Waldorf- Schule in Mainz-Finthen eingebunden. Nicht zuletzt deshalb, weil Privatschulen in Rheinland-Pfalz kein Schulgeld erheben dürfen, wenn sie Beiträge vom Land erhalten wollen. Da diese an der Waldorf- Schule jedoch nur 60 Prozent der Kosten decken, müssen die Eltern den Rest über einen Förderverein erwirtschaften. Bei den Kosten des Schulbaus ist das Verhältnis sogar umgekehrt. 7,5 Mio. Euro hat die Elternschaft seit 1978 in den Standort investiert: „Dafür haben wir ein ordentliches Schulgebäude, ohne Schimmel“, sagt Beate Schürer, Mitglied im Elternrat. Gemeinsam mit den Mitarbeitenden fungiert die Elternschaft auch als Träger der Schule, die ihre Schülerschaft zwölf Jahre nach eigenem Lehrplan unterrichtet. Noten werden hier erst ab der 12. Klasse verteilt. Die angehenden Abiturienten werden dann in nur einem Jahr auf die Abschlussprüfung vorbereitet, die in Kooperation mit dem Land erfolgt: „Wenn man zwölf Jahre hier groß geworden ist, schadet es nicht, wenn man ein Jahr Druckbetankung erhält“, sagt Geschäftsführer Götz Döring. Ohnehin könne man ja Kinder nicht auf das vorbereiten, was in zwanzig Jahren wichtig ist. Man könne nur Fähigkeiten anlegen. „Es geht nicht darum, für die Wirtschaft zu erziehen, sondern Kinder so zu stärken, dass sie ihren eigenen Weg gehen können; sozialverträglich in Zusammenarbeit mit anderen“, ergänzt der Diplom-Kaufmann. Auf dem Schulhof wird der Umgang gelobt, den die meisten Lehrkräfte pflegen: „Das ist freundschaftlich. Wir werden als Menschen behandelt“, findet die 15-jährige Maria, die jeden Tag eine Stunde mit dem Zug anreist. Der Lehrstoff sei jedoch ungleichmäßig verteilt: „Von der 8. auf die 9. Klasse wird der Druck viel höher“, ergänzt die gleichaltrige Livia. Dennoch bleibt der anthroposophisch geprägte Unterricht einzigartig. So beackern die Schüler in der 3. Klasse ein Stück Land, ernten und verwerten die Feldfrüchte. Auf das Erlebte greifen sie sowohl in der 7. als auch in der 12. Klasse zurück, wenn es um das Thema Verdauung geht.
Reformschulen sind auch dabei
An der Wiesbadener Reformschule „Campus Klarenthal“ sind im Sommer vergangenen Jahres die ersten Abiturienten abgegangen. Dort ist ein Team aus zwei Lehrkräften aktiv, außerdem Sozial-, Förder- und Diplompädagogen – „um die Schüler optimal zu fördern, jeden nach seinen Bedürfnissen“, erläutert Schulleiter Carlos Müller. In der Ganztagsschule können die Kinder früh Verantwortung für Hühner, Hasen oder Bienen übernehmen. Sie organisieren in der 8. Jahrgangsstufe ihre Klassenfahrt selbst und suchen sich in der 9. Klasse eine persönliche Herausforderung, bei der sie zum Beispiel zehn Tage ohne Mobiltelefon leben oder mit wenig Geld im Wald zelten. Das hilft manchen, früh selbstständig zu werden, so wie dem 16-jährigen Marc Schneider: „Gern gehe ich nicht in die Schule. Ich kann bereits, was ich für mein Studium brauche. Aber es ist besser hier hin zu gehen als anderswo“, ist er sich sicher. Später möchte er Grundschullehrer werden. Bei rund zehn Prozent der 420 Schüler handelt es sich um inklusive Kinder mit Förderschwerpunkten, etwa bei der geistigen Entwicklung, dem Lernen oder im emotional-sozialen Bereich.
Inklusion und Vielfalt
In der Inklusion sieht Claudia Keck, Leiterin des Schulamts für Wiesbaden und den Rheingau-Taunus-Kreis, die zentrale Herausforderung im Bildungssystem. Daher ist sie froh, dass sich im Frühjahr insgesamt sechs Schulbündnisse zu diesem Thema im Schulamtsbezirk bilden wollen. Ein Modell, das sie sich auch für andere Themenbereiche wünschen würde. Schließlich können auch von staatlichen Schulen wichtige Impulse ausgehen. Zum Beispiel von den vier hessischen Versuchsschulen, zu denen die Wiesbadener Helene-Lange-Schule zählt: „Kompetenzorientierter Unterricht, die Vermittlung von IT-Kenntnissen und die Verpflichtung der Schulen zur individuellen Förderung sind an dieser Stelle ebenso zu nennen wie die Umsetzung der Schwerpunkte Inklusion, Integration und Ausbau des Ganztagsangebots“. In Rheinland-Pfalz setzt man dagegen auf Vielfalt: „Die eine Schule der Zukunft wird es nicht geben. Wir brauchen für unterschiedliche Schüler unterschiedliche Lösungen“, beschreibt Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) ihre Vorstellungen. Schließlich haben immer noch manche ein Problem ihren Platz im Bildungssystem zu finden. Wie zum Beispiel Noah, der Sohn von Gabi Reichert: „Mein Junge hat mir damals gesagt: Es ist zu laut und zu chaotisch in der Schule, ich kann nicht lernen. Dann hat man mir Ritalin angeboten. Dabei war es nicht unser Kind, das unruhig gewesen ist“, berichtet sie, wie es dazu gekommen ist, dass sie nun im rheinhessischen Bubenheim das Freilernen ausprobieren.
„Wir hatten erst mal Angst, dass das nicht funktioniert und daraufhin ein halbes Jahr die Probe aufs Exempel gemacht“, ergänzt Ehemann Gunter. „Freilerner“ bilden sich selbstbestimmt und selbstorganisiert. Was in vielen Ländern selbstverständlich ist, nämlich die Möglichkeit, seine Persönlichkeit auf diese Art frei zu entfalten, unterliegt in Deutschland normalerweise der Schulpflicht und ist damit eigentlich (noch!) gesetzeswidrig. Noah habe die Ruhe dennoch so sehr genossen, dass er in sechs Monaten 80 Bücher gelesen habe. Nach der Rückkehr an die „normale“ Gesamtschule Ingelheim habe Tochter Amy eine Eins nach der anderen geschrieben und Bruder Esra sei seinem Lateinkurs sogar voraus gewesen. Für die Familie hat der reguläre Schulbetrieb dennoch nicht funktioniert, so dass sie sich schließlich endgültig aufs Freilernen umgestellt haben. Da die Eltern beruflich mehr als sechs Monate pro Jahr zum Fotografieren im europäischen Ausland unterwegs waren, wurde dies trotz Schulpflicht möglich: „Die Kinder brauchen keine Tipps. Man muss sich selbst so weit wie möglich raus nehmen und sie machen lassen“, verrät Gabi Reichert ihr Familienrezept. Erfolgreich war es zumindest: Noah hat die Schule mit einem Schnitt von 3,7 verlassen, dann seinen Realschulabschluss mit 1,7 gemacht und absolviert zurzeit seine Abiturprüfung. Der ältere Bruder Esra kommt prima in seinem Geologie-Studium zurecht und Schwester Amy könnte sich vorstellen, nach ihrem Abitur Bücher zu schreiben. Ihre Mutter hat bereits an einem mitgewirkt, das sich mit dem Freilernen auseinandersetzt: „Man sollte Leute nicht kriminalisieren, deren Kinder die Schule verweigern“, findet sie. Manchen könnte geholfen werden, wenn andere Form des Lernens ermöglicht würden.
Text Hendrik Jung Fotos Kai Pelka
Vielen Dank für den interessanten Artikel.
Wie hat sich denn Frau Reichert den Ärger mit dem Schulamt erspart? Ich habe mich selbst ein wenig mit Freilernen beschäftigt und bin ziemlich abgeschreckt worden. Und Auswandern wollte ich jetzt auch nicht unbedingt…