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„Wir müssen den Gesamtzusammenhang sehen“ – Die Missbrauchsvorwürfe gegen das Bistum Mainz

Mehr als tausend Seiten umfasst die Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Mainz. Stephanie Rieth, zuständig für das Thema sexualisierte Gewalt, spricht im Interview über die schwierige Aufarbeitung.

Von wie vielen Betroffenen reden wir derzeit?
Die Studie spricht von 401 Betroffenen. Dazu zählen Minderjährige, darunter auch sehr junge Kinder sowie erwachsene Schutzbefohlene. Das ist grausam. Der Gewinn der Studie liegt darin, dass sie vielen Menschen eine Stimme verleiht und manche anregt, sich auch im Nachhinein und auch nach vielen Jahren noch zu Wort zu melden. Bei den Tätern schauen wir nicht nur auf Kleriker, sondern auch auf haupt- und ehrenamtliche Laien. Die hohe Zahl ergibt sich durch das Betrachten auch solcher Fälle, die staatlicherseits nicht strafrechtlich verfolgt werden, weil etwa Verjährung eingetreten ist. Aber kirchenrechtlich können wir bei Grenzverletzungen noch Maßnahmen ergreifen.

Wie konnten diese Grenzen überhaupt erst missachtet werden?
Innerhalb der Kirche gibt es systemische Rahmenbedingungen, die Übergriffe begünstigt haben. Dazu gehört zum Beispiel das Priesterbild. Der Priester wurde oft auf ein Podest erhoben, sodass diesem eher geglaubt wurde als beispielsweise den Erzählungen eines Kindes. Auch kann auf Freizeiten eine große Nähe entstehen, die Missbrauch ermöglichen kann. Man wird nie gänzlich verhindern können, dass es Menschen gibt, die sich fehl verhalten. Durch geeignete Präventionsmaßnahmen wie etwa unsere eigens entwickelte Schutzkonzepte wollen wir aber überall dort, wo Kirche verantwortlich handelt und arbeitet, Schutzräume schaffen, in denen sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene sicher fühlen können.

Kann man den Vertrauensbruch der Kirche durch derartige Schutzkonzepte wieder reparieren?
Es ist ein mühsamer Weg, Vertrauen wiederherzustellen. Aber ich denke, dass das funktioniert, und dies bemerke ich auch schon. Zum Beispiel weil Menschen beteiligt werden und die genannten Schutzkonzepte partizipativ erarbeitet werden. Menschen erhalten so das Gefühl, wieder wahr- und ernstgenommen zu werden. Wir erleben eine Bereitschaft der Menschen, sich auch differenziert mit der Studie und den Vorfällen auseinanderzusetzen. Unser Ziel ist es, der Sache auf den Grund zu gehen und systemisch zu verändern. Dazu gehören maßgeblich Prävention und Kommunikation. Es darf keinen mehr geben, der sagt: „Das geht mich nichts an.“ Es reicht aber nicht aus, dabei nur auf Kardinäle, Bischöfe und Täter zu schauen, sondern wir müssen das ganze System betrachten. Auch Gemeinden und Familien waren daran beteiligt, dass dies in diesem Ausmaß geschehen konnte. Das ist aber keine Relativierung kirchlicher Schuld. Wir haben einen erheblichen Anteil daran.

Wieso werden diese Missbrauchsskandale erst jetzt so stark thematisiert und dagegen gearbeitet?
Bei der Aufarbeitung und Betrachtung der Fälle muss immer der historische Kontext mit bedacht werden. So gibt es zum Beispiel erst seit 2001 Leitlinien innerhalb der Kirche, die ein geordnetes Verfahren festlegen. Erst damit gab es erstmals Regeln für den Umgang mit sexuellem Missbrauch. Dies hat mit der Zeit den Umgang damit verändert. Die EVV-Studie hat gezeigt, dass die vollständige Einhaltung der Regeln erst nach und nach erfolgte. Die derzeitige Bistumsleitung mit Bischof Kohlgraf und Generalvikar Bentz arbeitet intensiv das Thema auf. Dazu gehört auch, dass ich als Nicht-Klerikerin Teil der Bistumsleitung geworden bin, um wieder Vertrauen zu gewinnen und Transparenz herzustellen.

Wie gehen Sie damit um, dass noch immer Beschuldigte im Amt sind? Jede beschuldigte Person unterliegt einer Einzelfallprüfung. Das entscheiden aber nicht nur wir allein, sondern mit Personen eines externen Beraterstabs. Dabei kann es dazu kommen, dass der Einsatz mancher Personen nicht mehr möglich ist.

Können Verantwortungsträger von damals heute noch mit Konsequenzen rechnen?
Wir werden uns auch mit Verantwortungsträgern auseinandersetzen, die in der Studie nicht namentlich genannt sind, um diese womöglich noch zur Rechenschaft zu ziehen und Konsequenzen zu ergreifen.

Wie sieht der weitere Umgang mit der Studie in Zukunft aus?
Aufgabe des Bistums und der Aufarbeitungskommission wird es auch sein, aus den Ergebnissen weitere Arbeitswege aufzuzeigen. Dazu gehört zum Beispiel die Erinnerungskultur. Wie schaffen wir es, dass Betroffene Gehör finden und sichtbar werden? Es ist eine bleibende Aufgabe, dass wir uns mit den Vorfällen und den Menschen auseinandersetzen. Betroffene haben hierbei immer Vorrang.

Ist es richtig, dass die Betroffenen sechsstellige finanzielle Entschädigungen erhalten?
Das wird von Einzelnen gefordert. Wir haben uns bewusst dazu entschieden, innerhalb des Systems der Anerkennungsleistungen zu bleiben. Dieses bundesweite Verfahren ermöglicht eine Art Basisgerechtigkeit. Für jeden Betroffenen heißt Befriedung etwas anderes. Die unabhängigen externen Kommissionen legen für jeden Einzelfall fest, welche Anerkennungsleistung die Kirche zahlen muss.

Interview Maike Schuppe