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Wie nah ist Nahost? Mainzer reden über den Nahost-Konflikt

Gut 2.900 Kilometer Luftlinie sind es von Mainz bis zur israelischen Partnerstadt Haifa. Wie nah uns der Nahe Osten ist, ließe sich demnach schnell beantworten: Die Region ist sehr weit weg. Gleiches gilt für den Nahost- Konflikt. Die meisten von uns wissen glücklicherweise nicht, was es bedeutet, auf einem Stück Land zu leben, auf dem immer wieder Kriege ausgetragen werden.

Doch als es im Mai 2021 zum erneuten bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Hamas kam, löste dies auch in Deutschland Reaktionen aus. Antisemitismus und Islamfeindlichkeit flammten auf, gewaltvolle Parolen waren zu hören und Demonstrationen zogen vor deutsche Synagogen. In Ulm wurde ein Anschlag verübt. In Mainz blieb es ruhig. Gemeinsam unterzeichneten jüdische und muslimische Gemeinden eine Erklärung, in der sie sich gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit aussprachen. Sie setzten ein Zeichen der Solidarität, ohne Partei zu ergreifen. „Wir sind geeint in der Haltung, dass Juden und Muslime hierzulande nicht für die Geschehnisse im Nahen Osten mitverantwortlich gemacht werden dürfen“, hieß es in dem Schreiben. „Es darf nicht das Bild entstehen, dass Differenzen essenziell im Judentum oder im Islam begründet sind“, unterstreicht Peter Waldmann, Mitgründer des Jüdisch-Muslimischen Bildungswerkes Maimonides. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, bedurfte einer Erklärung. Doch was macht den Konflikt so emotional? Wie viel hat er mit Deutschland, wie viel mit Mainz zu tun? Wie nah ist der Nahe Osten?

 

Der palästinensische Küchenchef Iyad Alraee nach Feierabend

Iyad Alraee über Heimat
Es ist ein lauer Sommerabend und auf den Tischen vor einer hiesigen Weinstube leuchten Kerzen. „Das Thema ist sehr emotional für mich“, beginnt Iyad Alraee und zündet sich eine Zigarette an. Der 37-jährige Mann im weißen Shirt hat gerade seine Schicht als Küchenchef beendet. Seitdem er 2008 aus Palästina wegging, um in Mainz Maschinenbau zu studieren, kocht er im Nebenerwerb in Mainzer Lokalen. Er liebt gutes Essen und er liebt seine Heimat. Seine Worte über Palästina fügen sich schlecht in die entspannte Atmosphäre des Abends. Er hat sich vorbereitet und möchte nichts Falsches sagen. Iyad möchte, dass man ihn versteht. „Der Krieg hat für uns im Jahr 1948 begonnen“, setzt er an. „Meine Großeltern hatten damals erst ein Kind. Sie wurden aufgrund des Krieges aus ihren Häusern vertrieben und als sie später zurückkamen, waren die Häuser besetzt,“ Aufgrund des UN-Teilungsplans von 1947 und dem Palästinakrieg im darauffolgenden Jahr kam es zu einer Vertreibung von rund 726.000 Palästinensern. Iyad selbst ist in Gaza aufgewachsen. Der Gazastreifen sei palästinensisches Autonomiegebiet und werde nicht von allen Ländern als Staat anerkannt, erklärt er. Als Kind habe er in ständiger Gefahr gelebt. „Ich habe meinen besten Freund auf dem Schulweg verloren. Wir wurden auf der Straße beschossen und haben uns versteckt. Als es ruhiger wurde, ist er aufgestanden, während ich noch gekniet habe. Ein Schuss ging direkt in seinen Bauch.“ Dann schweigt er einen Moment, während im Hintergrund ein fröhliches Stimmengewirr zu hören ist. Seine Worte hallen nach und schaffen Bilder im Kopf. Immer wieder betont Iyad, dass das nichts mit Religion zu tun habe. „Propheten aller Religionen haben in diesem Land gelebt. Das Land gehört nicht den Muslimen, sondern den Palästinensern, seien es Juden, Christen oder Muslime“, dabei wird er lauter. „Es ist mir egal, ob Juden, Christen oder Muslime das Land führen. Aber Palästina gehört nicht den Russen, nicht den Amerikanern, nicht den Europäern. Und trotzdem mischen sich alle ein.“ Stattdessen gehe es bei dem Konflikt um wirtschaftliche Interessen und politische Probleme, auch um Interessen der Europäer, meint er. „Letztendlich geht es in der Welt meistens um Macht, Geld und Ressourcen. Warum exportiert man Waffen, wenn man nicht hofft, vom Krieg zu profitieren?“ Aus dieser grundsätzlichen Frage spricht die Erfahrung tiefer Wunden. „Durch den ständigen Krieg sind wir gar nicht in der Lage, uns zu entwickeln.“ Nah geht einem der Nahost-Konflikt, falls man wie Iyad Alraee aus der Region stammt und Menschen dort leben, die man liebt.

Ein Blick in die Geschichte
1896 schrieb der Wiener Journalist Theodor Herzl seine programmatische Schrift über die Herstellung des Judenstaats. Damit griff er einen uralten Gedanken auf und markierte zugleich den Beginn des modernen Zionismus. Gut 50 Jahre später, nachdem der Holocaust seine Idee hatte unverzichtbar werden lassen, wurden seine Pläne tatsächlich realisiert. Am 14. Mai 1948 verkündete Ben Gurion in einem Teilgebiet des heutigen Israels die Staatsgründung. 26 Jahre lang war die Region zuvor britisches Mandatsgebiet gewesen. Einen Tag nachdem die Briten abgezogen waren und Israel als Staat bereits von den USA anerkannt worden war, griffen Truppen aus Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon und dem Irak den einen Tag alten Staat an. Die arabische Allianz akzeptierte den von der UN vorgenommenen Teilungsplan nicht. Der erste israelisch-arabische Krieg, den Israel gewann, sollte später von den Israelis „Unabhängigkeitskrieg“ genannt werden. Unter Vermittlung der UN entstanden im Jahr 1949 Waffenstillstandsverträge sowie neue Waffenstillstandslinien, die das Territorium Israels im Vergleich zum ursprünglichen UN-Teilungsplan um ein Drittel vergrößerten. Es folgten viele weitere Kriege. Seit Staatsgründung befindet sich Israel im dauerhaften Konflikt mit jenen, auf deren Land man den Staat errichtete. Der Dialog wird heute unter anderem dadurch erschwert, dass weder die Hamas, die als terroristische Vereinigung gilt und auch am 10. Mai diesen Jahres den Beschuss auf Israel eröffnete, noch die Regierung der palästinensischen Autonomiegebiete mit Mahmud Abbas als Präsidenten, Interessen palästinensischer Bürger angemessen vertreten können. Zudem erschwert der Bau israelischer Siedlungen, die außerhalb der Waffenstillstandslinie von 1949 liegen, den Dialog. Diese wurden von den Vereinten Nationen sowie vom Internationalen Gerichtshof als völkerrechtlich illegal eingestuft, jedoch in den vergangenen Jahren unter der nationalkonservativen Regierung mit Benjamin Netanjahu als Ministerpräsidenten vorangetrieben.

Politiker Johannes Gerster ist ehemaliger
Bundestagsabgeordneter und Israel-Kenner (Foto: J. Gerster)

Eine historische Pflicht
Eine kräftige Stimme ist am anderen Ende der Leitung zu hören. Es spricht der ehemalige Bundestagsabgeordnete Johannes Gerster, der vier Jahre lang Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft war. „Fragen Sie mich ruhig freche Fragen“, meint er scherzhaft, doch die Thematik wird ernst. Gersters Eltern versteckten während des Drittens Reiches jüdische Mitbürger und brachten sie außer Landes. Zu einer Zeit, in der ein großes Schweigen über den Schrecken des Zweiten Weltkrieges lag, redeten sie offen über die Verbrechen der Deutschen. Das habe ihn für das Schicksal der Juden empfänglich gemacht. Es mag auch sein Interesse am Staat Israel bestärkt haben. „Ich war mit Israel verbunden, bevor ich in die Politik bin und blieb es, nachdem ich mich freiwillig aus der Politik herausgenommen hatte“, erzählt der frühere CDU-Politiker. Nach seinem Rückzug aus der Politik ging er mit seiner Frau nach Israel, um das dortige Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung zu leiten. „Ich bin stolz auf dieses Konrad- Adenauer-Konferenzzentrum, das vor allem den deutschisraelischen Beziehungen dient“, sagt Gerster. Neben einer guten Beziehung zwischen Deutschland und Israel sei auch immer eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Israel und Palästina das Ziel gewesen. „Den Frieden konnten wir nicht bringen“, resümiert er. Angesichts der Komplexität der Schwierigkeiten war der Anspruch hoch gesteckt für einen deutschen Politiker. Bedenkt man die Mitschuld, die der Westen aufgrund des Holocausts sowie aufgrund seiner Übergriffigkeit im Zuge der Völkerrechtsmandate an heutigen Problemen im Nahen Osten trägt, bleibt die eigene Rolle kritisch zu hinterfragen. Historisch gesehen haben wir vielleicht nicht das Recht, uns als Streitschlichter zu inszenieren. Vielleicht haben wir nicht einmal das Recht, über Betroffene zu sprechen, was auch diesen Artikel in Frage stellt. Nah ist uns der Nahost-Konflikt aufgrund unserer deutschen Vergangenheit und der damit einhergehenden Verantwortung, Haltung zu zeigen gegen Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und das Erstarken rechter Kräfte. „Was mich bedrückt, ist, dass Antisemiten lauter werden. Das ist eine völlig idiotische Haltung vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte“, so Gerster.

Peter Waldmann ist einer der Gründer des jüdisch-muslimischen
Bildungswerkes Maimonides

Jüdisch-muslimisches Miteinander
Nah geht uns Mainzer der Nahost-Konflikt, wenn wir wie Iyad Alraee aus einer der Regionen stammen. Nah ist er uns aufgrund unserer Politik und Vergangenheit. Nah ist uns der Nahost-Konflikt jedoch nicht aufgrund Mainzer Moscheen und Mainzer Synagogen. Nah ist er uns auf keinen Fall aufgrund hiesiger Religionsvertreter. „In den 80ern gab es noch ein solidarisches Verhältnis zwischen jüdischen und muslimischen Gemeinden und jetzt werden diese durch Konfliktherde im Nahen Osten, die einen immensen Antagonismus bedeuten, in Konflikte reingezogen. Das ist problematisch, weil es einen politischen Konflikt zu einem Konflikt zwischen Juden und Muslimen macht, was logischerweise immer auch eine rassistische Komponente in sich trägt“, erklärt Peter Waldmann, der bis 2013 das Amt des Landesvorsitzenden der jüdischen Gemeinden von Rheinland- Pfalz innehatte. Die Sätze des promovieren Geisteswissenschaftlers sind dicht und schlagen schnelle thematische Brücken. Sie sind nicht schwarz oder weiß, so wie es auch die Situation nicht ist. Gemeinsam mit einem Freund, dem Imam Mustafa Cimsit, der in Frankfurt islamische Religionswissenschaft studierte und Vorsitzender des Landesverbandes rheinlandpfälzischer Muslime ist, gründete Waldmann das jüdisch-muslimische Bildungswerk „Maimonides“. „Wir saßen zusammen und Mustafa kam auf die Idee, ein Bildungswerk zu schaffen. Dieses sollte kommunikativen Raum bieten und das jüdisch-muslimische Verhältnis wieder anders gestalten“, erzählt er. Mit dem Bildungswerk wollten sie den negativen gesellschaftlichen Tendenzen etwas entgegenzusetzen. Namensgebend ist der im 12. Jahrhundert lebende Philosoph Maimonides, der sowohl im Judentum als auch in der islamischen Welt eine große Rolle spielt und symbolisch für ein produktives Miteinander steht. „Interessanterweise galt die muslimische Welt den Juden lange als Vorbild für ein Miteinander“, sagt er. Schaut man auf die 1.700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland zurück, die gerade landesweit gefeiert werden, so müsse man auch die lange Tradition des jüdisch-muslimischen Miteinanders betrachten.

Aysen Bostan und Dilek Çakır am Rhein

In den Fußstapfen Maimonides
Das Bildungswerk arbeitet auch ganz praktisch, ohne dabei in „multikulturellen Kitsch zu verfallen“, wie Waldmann es mit einem leichten Schmunzeln beschreibt. So gibt es beispielsweise das Projekt „Couragiert!“. Ziel sei es, Multiplikatoren für die Präventionsarbeit gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit im Rhein-Main-Gebiet auszubilden. „Es ist wichtig, zu unterscheiden“, betont Waldmann: „Hier geht es um deutsche Staatsbürger, die jüdischen Glaubens sind und um solche, die muslimischen Glaubens sind. Vom Nahost-Konflikt sind wir nicht unmittelbar betroffen, das ist etwas, was Palästinenser und Israelis unter sich ausmachen müssen. Es ist dramatisch, dass Wechselwirkungen bestehen. Die Identifikation des Konflikts mit einzelnen Parteien ist problematisch und hat sehr schnell den Moment des rassistischen Argumentierens. Als ob alle Muslime Hamas- Anhänger wären oder als ob alle Juden mit der Siedlungspolitik einverstanden sind. Das stimmt ja nicht.“ Peter Waldmann hat einen festen Standpunkt und wirkt dennoch offen für Auseinandersetzungen. „Die meisten sind nett zu uns, aber manche scheinen in uns etwas anderes zu sehen“, antworten Aysen Bostan und Dilek Çakır auf die Frage nach antimuslimischem Rassismus. Vielleicht wurde Juden und Muslimen bisher zu wenig Raum gegeben durch die deutsche Presse und Öffentlichkeit. Höchste Zeit, um in die Fußstapfen des Maimonides zu treten.

Text Lena Frings Fotos Simon Spieske