Egal, wo man in Mainz baut, überall findet man beinahe ein Römerschiff oder zumindest Artefakte aus dieser Zeit. Besonders prominent passierte dies beim Bau der Römerpassage vor etwa zwanzig Jahren. Hier wurde beim Ausheben der Baugrube nicht nur ein römisches Isis- und Magna Marta-Heiligtum, sondern auch eine antike Bestattungsstelle entdeckt. Drei Jahre später eröffnete man die heutige Römer-Passage und Mainz war um eine unterirdische Attraktion reicher. Zur gleichen Zeit liefen übrigens die Ausgrabungen des Römischen Theaters am Südbahnhof. Heute heißt der Bahnhof „Römisches Theater“. Die freigelegten Artefakte sind aus dem Stadtbild kaum wegzudenken. Die Geschichten verdeutlichen, worauf man sich einlässt, wenn man unter die Erde geht: Eine Siedlung nach der anderen baute ihre Nutz- und Kultstätten auf den Überresten der Vorgänger. So finden Archäologen an derselben Stelle, nur in unterschiedlichen Schichten, Pfahlbauten, Brandschutt, Siedlungsreste, Fachwerkslehm, Dachschiefer, Kloaken und Kriegsschutt aus über 2.000 Jahren. Auch Mainz bietet eine erstaunliche Menge an unterirdischen Anlagen: Keller, Kasematten, Minengänge, Kanäle, Gruften – sie alle lauern im Dunkeln, ohne dass wir beim Spaziergang durch die Stadt etwas davon wahrnehmen. Einigen haben sie es jedoch besonders angetan.
Leerstandsmelder underground
„Mainzer Keller“ stand auf dem dicken Ordner, der Rupert Krömer und Sabine Theis-Krömer vor fast 15 Jahren in die Hände gedrückt wurde. Die beiden Köpfe vom „Vitruv-Verlag“ sollten daraus ein Buch machen. Wolfgang Balzer (bekannt als Leiter des Mainzer Garnisonsmuseums) und Klaus Benz (Fotograf der Rhein-Main-Presse) hatten über 50 unterirdische Orte in Mainz besucht, fotografiert und diese verortet. Das Ehepaar Krömer interessierte sich dafür, sah allerdings, dass noch einiges an verlegerischer Arbeit zu tun war, und ein Buch mit dem trockenen Titel „Mainzer Keller“ kaum der größte Verkaufsschlager werden würde. So kamen sie schließlich auf: „Mainzer Unterwelten: Entdeckung des Untergründigen“. In Kleinarbeit sortierte und strukturierte das Paar die gesammelten „Untergründe“. Und tatsächlich: Der Band verkaufte sich gut. Auch die zweite überarbeitete Auflage von 2008 ist im Handel mittlerweile vergriffen. Das feuchtfröhliche Mainz bietet darin eine immense Zahl an Wein-, Bier- und Sektkellern, diverse Grüfte und Krypten sowie ein beachtliches Maß an unterirdischen Militäranlagen – dazu ein gigantisches Entwässerungsnetz! Was aber macht man nun mit diesen Funden? Diese Frage trieb Rupert Krömer um, denn ein großer Teil der Mainzer Unterwelten ist schlichtweg ungenutzt. „Deswegen haben wir das Büchlein gemacht, um zu zeigen, welche Schätze wir hier haben“, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen. Seit 2004 setzt sich der Verein „Initiative Zitadelle e.V.“ für Sanierung und Erhalt der Stätte ein, aber auch für die vielfältige kulturelle Nutzung. Neben dem traditionellen OpenOhr-Festival finden so auf der Zitadelle – neben Kulturei und Stadtmuseum – diverse Veranstaltungen statt.
Von Krimis und Kellern
Ein weiterer Unterwelten-Akteur ist Rainer Sauer. Wir treffen ihn an einem kalten Wintertag. Zuerst geht es zahlreiche Stufen hinab, um in die Eingeweide des Linsenbergs am Römerwall (Nähe Binger Straße) zu kommen. Wir sind überrascht, dass es hier ein bisschen wärmer ist als draußen. Dies sei aber überhaupt nicht ungewöhnlich, erklärt Sauer. Das ganze Jahr über herrschen hier Temperaturen um die 14 Grad. Warm- und Kaltfronten wirbeln oberhalb der Erdoberfläche vieles auf, doch fünf bis sechs Meter unter der Erde bleibt alles ungefähr wie es ist. Wir bestaunen das Tonnengewölbe der Hauptkasematte von Fort Josef – die letzten 20 Stufen verlaufen innerhalb dieses gigantischen Kellers. Dann verschwindet Sauer unter einer Treppe und kurz darauf ist ein gleichmäßiges Rauschen zu hören: „Lüfter sind hier sehr wichtig – in allen unterirdischen Anlagen.“ Denn unter der Erde steht die Luft – zur Freude der Wärmeisolation, zum Leid der Sauerstoff- Abhängigen. Heute tut die Anlage ihren Dienst. Rainer Sauer ist Mitbegründer und erster Vorsitzender des Vereins „Mainzer Unterwelten e.V.“. Der Name ist kein Zufall. Die Idee dazu kam durch das von Rupert Krömer verlegte Buch. Der studierte Mineraloge Sauer recherchierte seinerzeit für ein anderes Buch – seinen fünften Krimi: „Tod in der Unterwelt“ (2007). Denn hinter Sauer verbirgt sich auch der Autor zahlreicher Rheinhessen-Krimis. So begeisterte er sich vor 15 Jahren für die beeindruckenden, unter Mainz schlummernden Forts mit ihren (Minen-)Gängen: „Hier war alles feucht und verschimmelt“, sagt er über den heute so repräsentativen Gewölbekeller von Fort Josef. Nachdem die Festungsräume und -gänge im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzräume für um die 1.000 Personen gedient hatten, wurden sie später teilweise verfüllt – für die Belüftung das Aus. Diesem Problem nahmen sich Sauer und sein Verein an und machten so vieles für die Mainzer wieder begehbar. Der Unterwelten e.V. ist fortwährend damit beschäftigt, weitere Gänge zugänglich zu machen und herzurichten. Erst vor wenigen Wochen wurde ein neuer Zugang in den Gängen des Forts gefunden, berichtet Sauer. In Mainz ist der Verein aber auch durch seine Führungen präsent, mit drei- bis viertausend Gästen pro Jahr. Sauer verbringt quasi mehr als einen Monat im Jahr unter der Erde. Im Dunkeln sehen kann er zwar nicht, aber: „Ich glaube, egal wo man mich rauslässt, ich könnte mich raustasten.“ Die Gänge der unterirdischen Festungen dienten früher unterschiedlichen Zwecken: Einerseits gab es großzügige Versorgungsgänge ins Stadtzentrum, andererseits die „Minengänge“, deren einziger Zweck die eigene Zerstörung (und im Endeffekt die der feindlichen Truppen) war: „Das lockert den Boden ungemein“, sagt Sauer, der nie um einen Spruch verlegen ist. Tatsächlich seien die Mainzer Minengänge jedoch nie zum Einsatz gekommen. Die Führungen laufen unter www.mainzerunterwelten.de.
Ratten und Monolithen
Ortswechsel: Mainz verfügt über 820 Kilometer Kanalisation. Damit ist der Entwässerungsbetrieb Territorial-Herrscher über die Unterwelt. Ralf Weber und Christian Hiß nehmen uns an einem verregneten Tag mit auf eine Tour zu den Highlights dieser Katakomben. Unsere erste Station ist am Zollhafen. An der Kreuzung von Kaiser-Karl-Ring und Rheinallee (bei der Berufsfeuerwehr) geht es zu einem Pumpwerk, für das ein Fachjournalist einst poetische Worte gefunden hat: „Hochwasserpumpwerk in Mainz: Schwarzer Monolith mit Basaltgranulat als Zuschlagsstoff.“ Die Massivität des Gebäudes mit der preisgekrönten Fassade macht Eindruck. Der 8,5 Meter hohe Bau ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Von hier aus geht es ganze 16 Meter in die Tiefe. Im Inneren des Monolithen befinden sich zwei gigantische Pumpen mit Rohren zu je drei Metern Durchmesser – wenn man in den Schacht reinguckt, eine der größten „Wehrplatten“ Europas (7,2m hoch und 3,7m breit). Die Pumpen sind problemlos in der Lage 5.000 Liter Wasser pro Sekunde abzutransportieren. Wenn es in Mainz 20 Jahre lang ununterbrochen regnen würde, wären wir dank dieses Wunderwerks vor einem Rückstau gefeit, der die Gullis zum Überlaufen bringen könnte. Wir setzen unsere Tour Gonsbach aufwärts fort. In einem Gonsenheimer Wohngebiet starren wir in ein bodenloses Loch. Gut, es ist „nur“ 18 Meter tief, aber den Boden sieht man trotzdem nicht – ein Abwasserbecken. Bevor wir ein paar Straßen weiter hinabsteigen, werden noch die „Lebensversicherung“ und der „Selbstretter“ hinzugezogen: ein Gaswarngerät und eine Sauerstoffdose. Mit diesen Geräten hat auch schon die damals recht neue Umwelt- und Verkehrsdezernentin Katrin Eder Bekanntschaft gemacht: 2012 wollte sie sich mit einer ganzen Truppe von Menschen ein Bild vom Arbeitsplatz der Abwasserbetriebler machen. Doch die (zu) große Menschenmenge hatte im Kanal in kürzester Zeit den Großteil des Sauerstoffs zu Kohlenstoffdioxid veratmet. Bekanntlich ist alles gut ausgegangen, es war aber aufregend. „Seitdem wollte keiner mehr in den Kanal“, meint Ralf Weber. „Jetzt wissen die auch, warum wir so viel Geld für Sicherheit ausgeben“, sagt Christian Hiß. Ich bin dankbar, dass sich jemand Gedanken über die Sauerstoffversorgung gemacht hat, als wir in diese Unterwelt hinabsteigen – übrigens nicht über eine Gulli-Leiter, sondern ganz bequem eine Treppe hinab. Vor uns eröffnet sich eine neue Welt: Auf Gitterbrücken spazieren wir über die Abwasserbecken in dieser unterirdischen Halle, die von Ratten bevölkert wird. Auch die Bekämpfung jener pelzigen Mainzer gehört zum Aufgabenbereich der Mitarbeiter von Hiß und Weber. Wie viele Ratten es genau in Mainz gibt, wisse man nicht, aber die alte Faustregel „Eine Ratte pro Mensch“ dürfte weiterhin stimmen. Diese Gewölbe unter Mainz stammen zum Teil noch aus dem mittleren 19. Jahrhundert – die Anfangszeit der Kanalisation. Als riesige Tonnengewölbe mit Klinkerstein sind sie nicht nur eine ingenieurstechnische Meisterleistung der damaligen Zeit, ihre architektonische Schönheit hat zum Teil schon etwas Kathedralenhaftes. Klar, auf tote Ratten und Gestank kann man verzichten, aber man versteht Christian Hiß: „Wenn man das erste Mal im Kanal ist, kriegt man Gänsehaut.“
Bodenloser Untergrund
Unsere kleine Reise in die Mainzer Unterwelt ist vorbei. Danach denkt man mehr daran, was sich unter seinen Füßen verbirgt. Nur auf die Information, dass unter unserer Wohnung eine mächtige Pipeline mit hochexplosivem Kerosin verläuft, hätte ich verzichten können. Und wenn das Privileg, die Kanalisation zu besichtigen, eher nur hartgesottenen Politikern und Journalisten vorbehalten ist, kann doch ein jeder die vielen anderen unterirdischen historischen Stätten wie Forts oder den Isis-Tempel besuchen. Und auch in den vielen kulturellen Locations wie Theater U17, Kulturei, Caveau, RedCat, unterhaus oder der Bluepoint-Sauna spielt sich vieles unterirdisch oder zumindest unter der Erdoberfläche ab. Hier gibt es noch vieles zu entdecken!
Ulrike Melsbach
Fotos: Jonas Otte und Klaus Benz