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Tauschringe: Ohne Moos viel los


von Monica Bege
Fotos Jana Kay

Auf den Spuren bargeldloser Verrechnungssysteme – sensor beleuchtet Tauschringe

Endlich sind die Hemden gebügelt, das Zimmer frisch gestrichen und der Computer läuft auch wieder ordentlich. Gekostet hat es nur: Zeit. Bei Tauschringen ist das immer so. Sie funktionieren bargeldlos und sind eine Plattform, auf der Dienstleistungen – manchmal auch Waren – zum Tauschhandel vermittelt werden. Sie sind lokal ausgerichtet und gut vergleichbar mit organisierter Nachbarschaftshilfe. Da Hemdenbüglerin und Schrankzusammenbauer in der bilateralen Nachfrage nur selten überein kommen, werden Zeitkonten geführt. Alle Tätigkeiten sind gleich bewertet, es zählt nur die dafür aufgewendete Zeit.

Und wer hat’s erfunden? Niemand. Getauscht wird seit Urzeiten. Trotzdem gab es einen Relaunch Ende der 70er-Jahre: Die Abwanderung von Industrie und Luftwaffe brachte Arbeitslosigkeit über das kanadische Vancouver Island. Michael Linton gründete im dortigen Courtenay Anfang der Achtziger die Urzelle heutiger Zeittauschsysteme. Doch das Ende kam bereits gute fünf Jahre nach dem verheißungsvollen Auftakt, denn ein Überziehungslimit der Konten war nicht vorgesehen. Das nutzten einige Mitglieder hemmungslos aus und unterminierten so das Vertrauen ins System. Es folgte der Kollaps. Doch die Welt war von der Idee bereits infiziert. In Deutschland boomten Gründungen bis Anfang des Jahrtausends. Heute haben sich rund 350 Tauschringe mit insgesamt über 40.000 Mitgliedern etabliert.

Selbsthilfe unter Einsatz eigener Talente
Holger Herrmann aus Bretzenheim kocht seit 13 Jahren in fremden Küchen und schleppt anderer Leute Umzugskisten durch Treppenhäuser. Dafür genießt er entspannende Shiatsu-Massagen und weiß seinen Haustiger während der Urlaubszeit gut versorgt. Alles mit so genannten „Talenten“ bezahlt. Ein Talent entspricht einer viertelstündigen Leistung. Holger ist Mitglied im Mainzer Tauschring „Talentmarkt“ und vom bargeldlosen Verrechnungssystem absolut überzeugt: „Es macht einfach Spaß, sich untereinander zu helfen und Hilfe von anderen zu bekommen.“ Die Angebote orientieren sich an den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben: ob Unterstützung beim Ausfüllen von Anträgen oder Vorlesen von Geschichten – es ist so vieles möglich. Gebucht wird aus unterschiedlichster Motivation heraus: fehlende Zeit, eigene Unfähigkeit, nicht aber unbedingt Geldnot. „Manch einer findet das System einfach gut und manchmal steht neben der reinen Leistung der soziale Kontakt im Vordergrund“, erklärt Holger.
Vor dem Einstieg ins wilde Tauschspektakel steht die Frage: Was kann ich anbieten? Neueinsteiger starten bei null und müssen erst einmal ein Guthaben „ertauschen“. sensor checkt selbst im Konjunktiv: Was hätten wir anzubieten, würden wir mitmachen? Vertrauenswürdige Köche sind wir nicht, im handwerklichen Bereich fühlen wir uns im Komparsengestühl wohler und die vollgeraffelten Schreibtische bekunden limitiertes Talent für jegliche Tätigkeit in Richtung Putzen und Aufräumen. Aber: Korrekturlesen könnten wir prima. Das, wendet Holger ein, wird bereits oft angeboten und selten in Anspruch genommen. „Ein außergewöhnliches und attraktives Angebot wird häufiger nachgefragt und bringt so schneller Talente auf das Zeitkonto.“

Leistungen aus der Region
Der Mainzer Talentmarkt – kürzlich feierte er seinen fünfzehnten Geburtstag – sammelt und sortiert die Angebote und Gesuche seiner Mitglieder nach Rubriken. Der Printkatalog ist quartalsweise erhältlich, die digitale Version aktualisiert sich monatlich und in besonders eiligen Fällen macht sich eine Rundmail auf den Weg. Beim Talentmarkt steht die Dienstleistung klar im Vordergrund. Die Rubriken „Verleih“ und „Verschenken“ sind enthalten, aber sehr klein. Monatliche Treffen dienen dem Erfahrungsaustausch und fördern Kennenlernen und Tauschaktivitäten untereinander. Neueinsteiger sind immer willkommen. Die Vernetzung mit befreundeten Tauschringen aus Wiesbaden und dem Hunsrück erweitern die Palette zusätzlich.

Internet? Der Talentmarkt funktioniert auch ohne. „Unser ältestes Mitglied ist über achtzig und ein Computer kann nicht in jedem Haushalt vorausgesetzt werden“, erklärt Holger den Einsatz papiergeführter Zeitkonten. Hier quittieren sich die Tauschpartner gegenseitig die Leistung nebst den dafür aufgebrachten Talenten. Eine vierköpfige Leitungsgruppe kümmert sich um die allgemeine Organisation. Zu Jahresbeginn sammelt sie die Kontoblätter ein und überträgt die Salden auf ein neues Blatt. Dann gilt für die nächsten zwölf Monate: Vertrauen auf ein loyales und ehrliches Tauschen.
Kontaktaufnahme und Modalitäten des Tausches regeln die Tauschpartner untereinander. Gleichermaßen legitim wie die Frage nach den aufzuwendenden Talenten ist die Frage, ob die Gegenseite überhaupt über ein entsprechendes Guthaben verfügt. Ein Bestand zwischen zwanzig Minus- und achtzig Plustalenten ist gewünscht, kleine Kreditvergaben sind damit möglich.

Klare Ansage aus der Forschung
Wann hört Nachbarschaftshilfe auf und wo fängt die Unternehmereigenschaft an? „Mit zwei bis drei Tauschanfragen im Monat gehört man bereits zu den Aktiveren“, so Holger. Dieser Umfang sollte den Staatsapparat nicht gerade auf den Plan rufen. Dennoch: in allen rechtlichen und steuerlichen Belangen sind die Beteiligten für sich selbst verantwortlich, der Tauschring ist und bleibt ein Marktplatz.

Während Wachstum ein Eckpfeiler stabiler Marktwirtschaft darstellt, behaupten sich Tauschringe gerade in der Krise. Sind sie also ein Dorn im Auge der Marktwirtschaft? Dr. Michael Kopatz vom Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie erforscht die Nachhaltigkeit von Tauschringen. „Sie stabilisieren Wirtschaft und Gesellschaft. Ebenso wie Regionalwährungen ermöglichen sie auch in schlimmster Krisenzeit den Austausch von Waren und Dienstleistungen. Grundsätzlich sorgen Tauschringe dafür, dass wir unsere fatale Abhängigkeit von zerstörerischem Wirtschaftswachstum lindern“, so seine klaren Worte. „Es ist daher wichtig, Tauschringe schon jetzt politisch und finanziell zu fördern.“ Wenn das mal keine deutliche Ansage ist.

Ausprobieren unter:
www.tauschring.de.ms