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Staatstheater stellt Spielzeit 2023/24 vor

Jörg Vorhaben, Markus Müller, Sonja Westerbeck, Honne Dohrmann, Hermann Bäumer (v.l.n.r.)

In einer Pressekonferenz haben die Spitzen des Staatstheaters das Programm der kommenden Saison vorgestellt. Romeo und Julia als ständige Wiederholung einer tragischen Täuschung, Carmen als spannungsgeladener Tanz um eine Säule, Die Piraten in Rollregalen auf hoher See, Die Schöne und das Biest als therapeutische Sitzung, Der zerbrochne Krug als Vorlage für Männerposen. Wie bockig ist Antigone und in welchem Takt schlägt ein Mysterious Heart? Follow me! Oder ist das alles Quatsch?
Die Jahresvorschau ist eine Sammlung an Verheißungen.


Es geht um Macht – und Definitionshoheit ist Macht. Der herrschaftsfreie Diskurs nach Habermas ist eine schöne Vorstellung, aber gibt es ihn? Was es auf jeden Fall gibt, ist die Möglichkeit, Kompetenzen zu entwickeln, machtschaffende und machtstabilisierende Diskursmechanismen zu erkennen. „Und dabei“, so Intendant Markus Müller, „kann das Theater mit seinen ,Was-wäre-wenn-
Strategien‘ hilfreich sein. Denn wer Zeichen entziffern, Motive frei legen und Figuren empathisch folgen kann, ist gewappnet gegen Deutungsdiktate. Theater wäre damit ein Angebot, Leerstellen als Bühne zu nutzen, um uns in Geschichten auszuprobieren.“

MUSIKTHEATER
Hinter einer dicken Schicht aus Patina, Folklore und
Femme-fatale-Deutung steht eine sehr pure, sehr
ehrliche Geschichte von Freiheit und Überleben: Mit
Carmen wird im Großen Haus die Opernsaison 2023/24
eröffnet. George Bizets unsterbliche Partitur ist jenseits
aller Ohrwürmer sehr direkt und farbenreich in
ihrem Ton, die Figuren sind greifbar und drastisch in
ihren Konflikten und die Schauplätze metaphorisch
aufgeladen – viel Stoff also für ein packendes Musiktheater,
das Luise Kauz inszenieren wird, die erstmals
in Mainz arbeitet, die musikalische Leitung liegt bei
Daniel Montané.
Zwei Werke widmen sich dem düstersten Kapitel
deutscher Geschichte und der Konfrontation mit der
Vergangenheit. Mit der Oper Die Passagierin hat der
polnisch-jüdische Komponist Mieczysław Weinberg
eines der wichtigsten Werke des 21. Jahrhunderts
geschrieben. Es ist ein in Musik gefasstes Mahnmal
gegen das Verschleiern und Vergessen von Schuld und
Opfern, die durch die Gräueltaten des Dritten Reiches
ihr Leben im Konzentrationslager verloren haben. Die
gleichermaßen berührende wie drastische Inszenierung
von Nadja Loschky ist eine Kooperation mit der Oper
Graz und wird nun, musikalisch geleitet von Hermann
Bäumer, erstmals in Mainz gezeigt – die Titelpartie
singt und spielt Nadja Stefanoff. In enger Verbindung
dazu steht das Thema des Widerstands: Udo Zimmermanns
Oper Weiße Rose fasst die beklemmende Stimmung
des Geschwisterpaares Hans und Sophie Scholl
wenige Stunden vor ihrer Hinrichtung in musikalisch
wie textlich höchster Expressivität ein – Maximilian
Eisenacher inszeniert die Kammeroper auf U17, die musikalische Leitung liegt bei Paul Johannes Kirschner.
Beide Produktionen werden von einem differenzierten
Rahmenprogramm, Gesprächen und Lesungen
begleitet.

Die rasanten Entwicklungen rund um Künstliche
Intelligenz regieren die Feuilletons, bewegen und
verwirren uns alle und gehören zu den großen Zukunftsthemen.
Und so dreht sich auch in der Jugendoper
humanoid von Leonard Evers alles um die technisch
ausgereifteste Version des künstlichen Menschen.
Kann man sich seinen Lieblingsmenschen als Android
nachbauen? Wann ist eine Maschine menschlich? Im
Kleinen Haus wird diesen Fragen in einer fantasievollen
Klangsprache nachgegangen.

Selbst der größte Opernfan fängt klein an und zu
Beginn sollte ein erstes unmittelbares Erlebnis in
Sachen Musik und Theater stehen: Diese elementare
Erfahrung mit Musik, Sprache und Theaterzauber
können die kleinsten Zuschauer*innen in der kommenden
Spielzeit mit der Stückentwicklung Tschirp! machen
und so einen spielerischen Einstieg in die große
Welt der Oper finden. Spielerisch-leichtfüßig ist auch
das Stichwort für Die Piraten von Penzance des britischen
Künstler-Duos Gilbert & Sullivan. Aus der
englischen Operette nicht mehr wegzudenken, haben
sie tatsächlich ihr Debüt in Mainz: Nie zuvor durften
die Piraten hier an Land gehen. K.D. Schmidt inszeniert
diese heiter-rasante Operette mit Seegang – am
Pult hält Samuel Hogarth allen Stürmen stand.
Der Opernmonolog der finnischen Komponistin Kaija
Saariaho Emilie stellt eine historische Frauenfigur in
den Mittelpunkt: Emilie du Châtelet war eine französische
Physikerin und Mathematikerin und eng verbunden
mit Newton. Immo Karaman setzt dieses musikalische
Kammerspiel als Deutsche Erstaufführung in
Szene und Hermann Bäumer sorgt für die musikalische
Umsetzung der feinsinnigen Partitur einer der bedeutendsten
Komponistinnen dieser Zeit.

Zum anstehenden Peter Cornelius-Jubiläum wird in
einer konzertanten Uraufführung das Werk Gunlöd
zum Klingen gebracht. Eigentlich eine Nebenfigur in
der Edda-Sage, wird Gunlöd hier zur Hauptfigur, die
sich im Spannungsfeld zweier Männer, ihrem Vater
Suttung und Odin, behaupten muss, die musikalische
Leitung hat Hermann Bäumer inne.
Zwei kraftvolle Werke komplettieren den Spielplan:
Giuseppe Verdis Otello und Richard Strauss‘ Rosenkavalier,
mit denen sich auch erstmals zwei neue Regieteams
in Mainz vorstellen.

Die Regisseurin Victoria Stevens zeichnet Otello als
traumatisierten Kriegsheimkehrer. Er wird zum Opfer
einer dramatischen Intrige, verliert das Vertrauen in
Verbündete und geht, sich selbst überlassen, zu Grunde.
Die musikalische Leitung von Hermann Bäumer
und die von Antonello Palombi verkörperte Titelpartie
empfehlen sich als musikalischer Höhepunkt der
Saison.

Richard Strauss‘ Meisterwerk Der Rosenkavalier ist
eine lebendige Rokoko-Fantasie: Alter Adel – Neues
Geld, diesem Gegensatzpaar der einstürzenden K&KMonarchie
nimmt sich der österreichische Regisseur
Georg Schmiedleitner mit Kraft und Herzblut an und
entlarvt dabei gemeinsam mit dem musikalischen
Leiter Daniel Montané so manche von Zuckerguss
überdeckte Gesellschaftskritik.
Weiter auf dem Spielplan bleiben Hänsel und Gretel, Le
Villi/Pagliacci (Der Bajazzo), Peter Pan, Salome und
Klangjäger. Wieder aufgenommen wird Things have
changed – Bob Dylan is not there.

SCHAUSPIEL
Wie gewohnt ist das Programm des Schauspiels am
umfangreichsten: 15 Premieren (darunter vier Koproduktionen)
und ein Projekt im Stadtraum stehen auf
dem Spielplan der kommenden Saison. Außerdem
werden aufgrund der hohen Nachfrage und anhaltenden
Beliebtheit 16 Produktionen wiederaufgenommen,
darunter Der kleine Horrorladen, Anna Karenina, Fast
genial ebenso wie ältere Stücke wie Sophia, der Tod und
ich und Krabat.

Bei den Neuproduktionen ist die Anzahl der Klassiker
und modernen Klassiker mit Stoffen wie Woyzeck, Wer
hat Angst vor Virginia Woolf, Romeo und Julia, Der
zerbrochne Krug oder Antigone 2023/24 höher als
gewohnt – der Blick darauf allerdings ist heutig und
meist weiblich: So wird die Regisseurin Mirjam Loibl,
die erstmals am Staatstheater Mainz arbeitet, Marie in
ihrer Woyzeck-Inszenierung mehr Raum geben, als
Büchner ihr zugestanden hat – was sich auch im Titel
wiederfindet: Woyzeck | Marie kommt im Kleinen Haus
zur Premiere. Kathrin Mädler, deren intensive Inszenierung
von Der Vorfall allen unter die Haut ging,
widmet sich Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug,
Rimini Protokoll wird sich zusammen mit Theater
Hora (eine Theatergruppe mit Menschen mit Behinderung)
die Frage stellen, wie man Bertolt Brechts Der
kaukasische Kreidekreis aus einer besonderen Perspektive
aufführen kann und Anna Gschnitzer, Autorin von Einfache Leute, schreibt eine neue Fassung von Antigone
nach Sophokles und fragt sich und uns, was
eigentlich zivilen Ungehorsam definiert: Wie bewegt
sich Antigone zwischen Spaltung und gesellschaftlicher
Solidarität und was bedeutet es, alleine zu einer Heldin
des Widerstands zu werden, wenn doch politisches
Handeln eigentlich eine kollektive Verbindung voraussetzt
– eine Frage, die aktueller kaum sein könnte.
Alexander Nerlich wird hier die Regie übernehmen.
Privater, aber nicht weniger existenziell klingt diese
Frage bei Romeo und Julia: „Would you die tonight for
love?“ Jan Friedrich, der mit Glaube Liebe Hoffnung
und Der Menschenfeind im Kleinen Haus bereits zwei
beeindruckende Produktionen am Staatstheater Mainz
inszeniert hat, wird mit Shakespeares vermutlich
berühmtesten Stück jetzt ins Große Haus wechseln.
Neben den bekannteren Stoffen stehen vier Uraufführungen
und eine Deutschsprachige Erstaufführung auf
dem vielfältigen Schauspielprogramm und der Beginn
der Spielzeit wird geprägt von zwei Arbeiten, die sich
mit dem Beginn des Lebens beschäftigen: Nachdem Jan
Neumann in seiner Stückentwicklung Sensemann &
Söhne dem Tod die Bühne bereitete, geht es in Kurz &
Nackig nun um die Geburt und um alles, was mit dieser
zu tun hat. The Beginning von Bert und Nasi thematisiert
noch grundsätzlicher den Anfang ganz allgemein,
etwa, wenn man auch im fortgeschrittenen Alter von 65
Jahren noch mit dem Tanzen anfangen kann. Ebru
Tartıki Borchers inszeniert die Deutschsprachige
Erstaufführung von James Fritz‘ schonungslosem
Sozialdrama Parliament Square. Dieses stellt – auf
einer elementaren thematischen Ebene durchaus in
Verwandtschaft zu Antigone – die Frage, was man
aufgeben würde, um die Welt zu einem besseren Ort zu
machen. Die Freunde? Die Familie? Oder sogar das
Leben?

Jupiter brüllt – Der lange Weg zum Glücksplanet lautet
der klingende Titel eines neuen und auf beste Weise unterhaltsamen
Textes der jungen Autorin Annika Henrich.
Er handelt von der Frage, wo das Glück im 21.
Jahrhundert zu finden ist, von den Millennials und
deren Blick auf Arbeit, Partnerschaft und Eigentumswohnung
– Regie führt Ran Chai Bar-zvi.

Das Thema Wirtschaft, das sich motivisch bereits
durch mehrere Spielzeiten zieht, wird auch in der neuen
Saison fortgesetzt. Nach Für immer die Alpen und Villa
Alfons kommt eine Bearbeitung von Rainald Goetz‘
Roman Johann Holtrop über die Nuller Jahre in
Deutschland auf die Bühne – im Mittelpunkt steht ein
Vorstandsvorsitzender mit seiner Egomanie und
seinem Zynismus, es inszeniert Friederike Heller.
Zwei neue Produktionen und ein Projekt sind im
Schauspiel für junge Zuschauer*innen geplant. Im
Großen Haus herrscht Vorfreude auf das Familienstück:
Die Schöne und das Biest heißt dieses in der sehr
amüsanten Version von Lucy Kirkwood und in einer
Inszenierung von Katharina Ramser. Als Uraufführung
gibt es für alle ab 10 Jahren Kannawoniwasein zu
erleben, ein Stück, das sich als eine Mischung aus Emil
und die Detektive und Tschick beschreiben lässt: Die
Besucher*innen verfolgen den Road Trip eines Jungen,
dessen Rucksack bei einer Bahnfahrt geklaut wird,
sowie die Abenteuer, die er infolgedessen erlebt (Regie:
Tim Schmutzler). Außerdem geht die Sparte mit einem
Projekt in den Mainzer Stadtraum: Das englische Duo
Andy Field und Beckie Darlington wird mit Kindern in
einem leerstehenden Gebäude in der Stadt ein temporäres
Museum der kleinen und unwichtigen Dinge eröffnen.
Fehlen darf natürlich auf keinen Fall eine gute Komödie
– und die liegt auch in diesem Jahr wieder in den
bewährten Händen von Christian Brey: Woody Allens
Hannah und ihre Schwestern erobern das Kleine Haus.

TANZMAINZ
Die Tanzsparte des Staatstheater Mainz hat – neben
den umjubelten Auftritten in Mainz – zwei Spielzeiten
weltweiter Reisetätigkeit hinter sich und bewegt sich
auch 2023/24 weiter zwischen der intensiven Produktion
neuer Stücke und internationalen Gastspielen.
Ungebrochen beliebt und energisch nachgefragt,
bleiben Soul Chain, Promise und kreuz&quer weiter auf
dem Spielplan. Wieder aufgenommen wird die jüngst
mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST ausgezeichnete
Produktion Sphynx.

Bei den Uraufführungen macht den Auftakt in die
Tanzsaison eine Arbeit von Moritz Ostruschnjak im
Kleinen Haus: Der Münchner Choreograf kommt
ursprünglich aus der Sprayerszene und hat sich nach
einem langjährigen Engagement als Tänzer bei großen
Compagnien zu einem der Hoffnungsträger des Tanzes
in Deutschland entwickelt. Seine neue Arbeit in Mainz,
Trailer Park, setzt sich mit den sozialen Medien auseinander
und zeigt, wie diese unsere Verhaltensweisen
und unser Zusammenleben beeinflussen. In einer sehr
zeitgemäßen und intensiven Choreografie arbeitet er
mit Fundstücken aus dem Internet, die er in seiner ganz eigenen Ästhetik zu neuen Bildern zusammensetzt.
Eine andere wichtige Protagonistin des Tanzes in
Deutschland ist die Hamburgerin Antje Pfundtner. Die
Trägerin des renommierten Tabori-Preises setzt sich
sowohl in ihren Arbeiten für Erwachsene als auch in
den Kreationen für ein junges Publikum mit aktuellen
gesellschaftlichen Fragestellungen auseinander.
Quatsch, für ein Publikum ab 8 Jahren, spielt auf U17
einerseits mit der Freude an der Anarchie, stellt aber
auf der anderen Seite die Frage, wann es damit eigentlich
genug ist… Was muss erlaubt sein und wie definieren
wir Grenzen?

Ein besonderes Augenmerk gilt in der kommenden
Spielzeit der ebenso eigenwilligen wie innovativen
Tanzszene Portugals. Der Doppelabend Força im
Großen Haus ist zwei bereits international erfolgreichen
Choreograf*innen der jüngeren Generation
gewidmet: Tânia Carvalho besticht in ihrer Tanzsprache
durch die Fähigkeit, große einprägsame Tableaus
zu schaffen und ebenso absurde wie poetische Welten
zu kreieren – und das alles auf hohem tänzerischen
Niveau. Lander Patrick, jüngst überaus erfolgreich mit
seinem Gastspiel Bate Fado im Rahmen des tanzmainz
festival, steht in der Tradition seiner früheren Lehrerin
Tânia Carvalho – hat aber eine ganz eigene Sprache für
sich entdeckt. Mit ebenso kleinen wie hochkomplexen
und dynamischen Bewegungen verschafft er seinen
Bühnenfiguren eine hohe Individualität.

Mit seiner vierten Kreation für tanzmainz erwarten wir
Felix Berner im Kleinen Haus. Nachdem zuletzt Ikarus
die jungen Tanzbesucher*innen ab 12 Jahren begeistert
hat, widmet sich Felix Berner mit Follow me! nun der
Frage, warum wir eigentlich anderen Menschen, Stars,
Idolen und Influencern folgen – warum wir nachahmen
und kopieren, was uns inspiriert? Durch die hohe
Authentizität und empathische Direktheit seiner Kreationen
gelingt es Felix Berner immer wieder, das junge
Publikum intensiv anzubinden.

Ein Höhepunkt der Spielzeit 2023/24 im Tanz wird
natürlich das tanzmainz festival UPDATE #4, das
wieder brandneue Choreografien und innovationsfreudige
Arbeiten aufstrebender Künstler*innen zeigt. Ein
Teil des diesjährigen tanzmainz festival UPDATE wird
in Kooperation mit dem Hessischen Staatsballett
stattfinden, das an den Standorten in Wiesbaden und
Darmstadt zeitgleich Gastgeber von Spring Forward
2024 ist, das alle zwei Jahre in einem anderen Land
stattfindet. Spring Forward hat sich zu einer Plattform
für die dynamischsten und vielversprechendsten
Choreograf*innen entwickelt, um ihre Arbeiten Fachleuten
der darstellenden Künste und einem lokalen
Publikum vorzustellen.

Selbstverständlich wird tanzmainz auch weiterhin in
der Welt unterwegs sein: Nach dem riesigen Erfolg in
der laufenden Spielzeit geht es noch einmal mit Soul
Chain nach New York, außerdem gibt es unter anderem
Gastspiele in Kanada, Israel und Slowenien.
Das neue Jahresheft 2023/24 leuchtet fuchsiafarben,
liegt ab sofort im Staatstheater aus und kann online auf
der Website des Theaters digital gelesen und durchgeblättert
werden. Dort können sich alle, die Lust haben,
auch die kurzen Filme ansehen.

Foto: Andreas Etter