
Mitten in der Mainzer Altstadt leben Justy und Rico ein bewusst entschleunigtes Leben – zwischen historischen Mauern, handgemachter Keramik und analoger Gemeinschaft. Ihre offene Werkstatt „Clayworks“ steht für Kreativität und Teilhabe jenseits von Konsumdruck. In ihrem Alltag verbinden sie Geschichte, Nachhaltigkeit und persönliche Werte zu einem modernen urbanen Lebensentwurf.
Mitten in der Altstadt, mit Blick auf den Dom, leben Justy und Rico im „Großen Gaukelstein“, einem Haus, das bereits seit dem 18. Jahrhundert an seinem Platz steht. In ihrer Drei-Zimmer- Wohnung vereinen sie modernes Leben mit analoger Leidenschaft. Sie gestalten ihr Umfeld bewusst, setzen auf Gemeinschaft und wollen mit ihrer offenen Keramikwerkstatt „Clayworks“ der Stadt etwas zurückgeben. Ihr Alltag erzählt viel über ein urbanes Leben abseits von Konsumdruck und digitalem Überfluss.

Sie Steuern, er Videospiele
Justy und Rico (beide Mitte 30) leben seit fünf Jahren in ihrer Wohnung in der Leichhofstraße. Sie ist Steuerfachangestellte, er Spieleentwickler bei Ubisoft, als Programmierer für das Strategiespiel „Anno 117“. In seiner Freizeit begibt sich Rico aber gerne in die analoge Welt. „Je mehr ich mit Technik arbeite, desto weniger will ich sie in meinem Alltag“. Rico spielt dazu leidenschaftlich gerne Gesellschaftsspiele, Bass in einer New-Metal- Band und geht bouldern. Über Jahre haben die beiden ein eigenes Ranking der besten Boulderhallen Europas erstellt – zusammengetragen im „Storybook of Climbing“, wie sie es liebevoll nennen. Justy beschloss 2015 nach ihrem Master in „Chemischer Verfahrenstechnik“, einen kompletten Neustart zu wagen, und zog von Krakau nach Mainz. Ihre Anfänge beschreibt sie mit einem Schmunzeln: Das einzige deutsche Wort, das sie damals kannte, war „Durchfall“. Heute spricht sie fließend deutsch – und mit Begeisterung über ihr Leben und Glück in Mainz. Ihr Vater lebt seit über 30 Jahren hier und betreibt ein Bauunternehmen. Bei ihren ersten Besuchen spürte sie eine Freiheit, die sie in Polen vermisste – im Denken und Umgang mit anderen. Einige Jahre arbeitete Justy dann in Cafés, besuchte Sprachkurse und schaffte es, trotz einiger Hürden und Vorurteile, ihre Ausbildung zur Steuerfachangestellten abzuschließen. Heute arbeitet sie darin in Teilzeit und betreibt zusätzlich ein kreatives Projekt, das beiden viel bedeutet: die offene Keramikwerkstatt „Clayworks”.
Haus mit Geschichte
Auf der Suche nach der gemeinsamen Wohnung stießen sie auf einen Aushang an der Eingangstür. Damals wussten die beiden noch nicht, dass es sich um das einzige original erhaltene Gebäude in dem Straßenzug handelte. Erbaut um 1730, überstand es sowohl den Beschuss im Zuge der Mainzer Republik 1793 als auch die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Vier Sandsteinbögen mit Maskenköpfen prägen die Erdgeschossfassade, hinter der sich eine Boutique befindet. Der Blick von dieser Stelle auf den Dom gehört zu den eindrucksvollsten der Stadt. „Die Wände sind aus Lehm und Stroh, im Keller kann man das auch sehen“, erzählt Rico. Die Wohnung selbst ist modernisiert, doch der historische Dielenboden und die Sprossenfenster erhalten den ursprünglichen Charakter. Ess-, Wohn- und Schlafzimmer gehen fließend ineinander über. Immer wieder fällt der Blick durch die Fenster auf die malerischen Fachwerkhäuser und alten Backsteinmauern. Die Küche ist liebevoll im Landhausstil gestaltet, denn beide kochen leidenschaftlich gerne und lieben es, neue Rezepte auszuprobieren. Gekocht wird jeden Tag frisch. Einen Fernseher haben die beiden nicht. Lieber lesen sie abends Bücher, spielen Spiele oder schauen einen Film über den Beamer auf der Leinwand.

Weniger ist mehr
„Wir versuchen, nicht zu viele Dinge zu besitzen“, erklärt Justy. Neue Möbel werden kaum angeschafft. Nur in den großen Esstisch aus massiver Eiche – Mittelpunkt gemeinsamer Abende – haben sie gerne investiert. Vieles in der Wohnung ist gebraucht oder selbst gemacht, wie das raumtrennende Himmelbett, das Rico gebaut hat und das eine gemütliche Schlafnische schafft. Eine ähnliche Konstruktion hat er auch als Überdachung der Terrasse gezimmert. Die Wohnung wirkt daher bewohnt im besten Sinne – als Ort des Lebens, nicht der Selbstdarstellung. Die Einrichtung ist unaufgeregt und einfach – es sind persönliche Dinge, die ihr Wärme und Charakter verleihen: Justys handgegossene Kerzen und Makramees, Ricos bemalte Spielfiguren, Fotos – und natürlich handgemachte Keramik in allen Formen und Farben.
Der Stadt etwas zurückgeben
Mit „Clayworks” haben Justy und Rico gemeinsam mit Mitgründerin Sissi eine offene Keramikwerkstatt in Mainz geschaffen. Die Idee entstand, als Justy für ihre neu entdeckte Leidenschaft keinen Arbeitsplatz fand – und aus dem Wunsch heraus, der Stadt etwas zurückzugeben. Dann ging alles ganz schnell – es verging kein Jahr von der ersten Idee bis zur Eröffnung. „Jeder hat seine Fähigkeiten eingebracht“, sagt Rico. Er kümmerte sich um die technische Infrastruktur, Justy übernahm Organisation und Verwaltung, Sissi hat das handwerkliche Know-how. Seit Dezember steht das Studio am Ballplatz allen offen, die sich kreativ mit Ton auseinandersetzen wollen. Justy selbst sitzt nur noch selten an der Drehscheibe, denn hinter den Kulissen gibt es viel zu tun. Doch für beide ist das Projekt mehr als nur ein Hobby: Ausdruck ihrer Haltung, Offenheit, Gemeinschaft, handwerkliche Entschleunigung. Justy und Rico zeigen, wie modernes Stadtleben auch jenseits von Tempo und Konsum aussehen kann. Ihre Geschichte steht für eine Generation, die bewusst lebt, Räume gestaltet und sich mit ihrer Umgebung verbunden fühlt. In einem Haus mit fast 300 Jahren Geschichte haben sie ihren Platz gefunden.
Text: Camille Sommer
Fotos: Dominik Laspeyres