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Slow Travel in Mainz – Müßiggang für Anfänger

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von Jo Gather  Fotos Katharina Dubno

Take a walk with me. Von Nahraum-Erkundungen, den Lücken im Denken und was das alles mit Zu-Fuß-Gehen zu tun hat. Eine Spurensuche in Mainz.

Sommerende. Im Briefkasten trudeln Postkarten aus der Ferne ein: blaues Meer, bunte Häuser, Fernweh-Ansichten. Letzte Sandkörner in den Schuhen lassen seufzend die Tage bis zum nächsten Sommerurlaub zählen. Nun wieder Alltag in Mainz. Altbekannt und vertraut wie zerlatschte Pantoffeln. Wieder altbekannte Strecken von A nach B nach C gehen; Arbeit – Zuhause – Schlafengehen. Wie wäre es stattdessen mit Urlaub vor der eigenen Haustür? Während der Arbeit? Wie kann ich mein Mainz mit neuen Augen sehen? Wo halten sich Abenteuer versteckt? Wir üben uns in der Kunst des Langsam-Reisens: Unsere Spurensuche beginnt an den Rändern der Stadt – auf einem Interview-Spaziergang mit Nahraum-Wander-Expertin Heike Tharun.

Walk on the wild side

An der Haltestelle Friedhof Drais erwartet uns Heike, Anfang 50, kurze Haare, Wanderschuhe, freundliche Augen mit Strahlenkranz, die in die Sonne blinzeln. Als gebürtige Mainzerin kennt sie die Gegend wie ihre Westentasche. Im Brotjob ist Heike Online- Journalistin. Doch das Wandern ist schon seit ihrer Kindheit großes Thema und so begann sie, an ihren freien Tagen zu Fuß die Heimat zu erwandern. Zunächst noch streng nach Wanderwegen, dann aber immer häufiger auch einfach kreuz und quer. Bald setzte sie ihren Blog auf und bietet seidem auch eigene Touren an: „Heikes Heimatwandern, für Kreuz- und Quergeher“.

Mit ihr werfen wir einen Blick von außen auf das scheinbar Altvertraute. Und unterhalten uns dabei über den Reiz des „Slow Travelns“. Der britische Autor Dan Kieran schrieb vor zwei Jahren ein Buch über dieses alte, wieder neu entdeckte Phänomen, welches auch Heike in ihrem Rucksack trägt und zitiert: „Slow Travel ist vor allem ein Loblied auf das Ungeplante, auf das Loslassen.“
Im Loslassen übt sie sich nun, und das war auch der Beginn ihres Kreuz-und Quergehens: Früher hat sie die Sachen oft vom Kopf angegangen, jedes Detail geplant und sich vermeintlich abgesichert. Dann kam irgendwann die Erkenntnis: „Manche Dinge kann man nicht wissen noch planen. Die musst du tun, damit du sie weißt. Das Tun. Tun statt Träumen.“

Ausgangspunkt war die Frage: Wer bin ich und was will ich? Was interessiert mich und warum mache ich, was ich mache? Heike sagt: „Ich bin ein Mensch, ich brauche eine Zeitlang. Ich muss wirklich tun, um die Dinge zu verstehen. Ich bin nicht so ein Intellektueller, der alles durchdringt, sondern eher erwandert. Die Dinge erwandert.“ Weizenwehen und Autobahnrauschen mixen dazu die Stadtrand- Collage. Die Zunge lernt: Sauerkirschen und Süßkirschen sind auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden. Durchatmen. Nur fünf Haltestellen bis zum weiten Blick. Taunushügel und Hochhausspitzen.

In der Ferne die Mainhattan-Silhouette. Meterhohe Brennnesseln entlang des Gonsbachs, durch die wir uns in kurzen Hosen todesmutig schlagen. Dabei kurze Einblicke in fremde Gärten und Leben: eine alte Frau, die einen Bauerngarten bestellt, ein Gedicht an einem Zaun von Christian Morgenstern, von den heimlichen Rosen: Oh wer um alle Rosen wüsste, die rings in stillen Gärten stehn – oh, wer um alle wüßte, müßte wie im Rausch durchs Leben gehen. Der Weg ist unser Ziel und so stoßen wir jeden Moment auf etwas Neues. Auch hier, in der Stadt, in der man geboren wurde oder schon lange lebt. Neue Perspektiven entdecken. Um Abenteuer oder Herausforderungen zu erleben, muss ich nicht um die Welt reisen, ich kann auch vor der Haustür damit beginnen. Als wir wieder im Bus sitzen, fühlt es sich an, als wären wir ganz schön weit weg gewesen.

These boots are made for walking

Je mehr sich zu viel bewegt in unserem hektischen Leben, desto mehr ist Zu-Fuß-Gehen und „Slow-Traveln“ wieder angesagt. Denn – so die Wissenschaft – Zu-Fuß-Gehen stärkt die Gesundheit, ist umweltschonend und emissionsfrei, verursacht keinen Lärm und ist ein Gradmesser für die Lebensqualität einer Stadt. Und die Stadtplaner überall reagieren. So hat Wien das Jahr des Zu-Fuß-Gehens ausgerufen und in seinem „Grundsatzbeschluss Fußverkehr“ Maßnahmen beschlossen, die den Menschen das Zu-Fuß-Gehen schmackhafter machen. Es gibt eine Fußwegekarte mit öffentlichen Toiletten, versteckten Schleichwegen und dem nächsten Trinkbrunnen. Oder eine App, mit der man Schritte zählen und gegen Goodies eintauschen kann.

Baden-Württemberg feierte Anfang des Jahres den Auftakt seiner „Fußverkehrsförderung“ und führt nun Fußverkehrs-Checks in verschiedenen Kommunen durch. Da ist dann die Rede von „intelligenter Stadtmöblierung“ oder der „Förderung der Nahmobilität“. Neben diesem von oben geplanten Fußverkehr lässt sich aber auch eine eher spielerische, kreative Auseinandersetzung mit dem Stadtwandern finden. Das Herumflanieren wird neu entdeckt und als Rückeroberung des öffentlichen Raums gefeiert.

In immer mehr Städten erlebt das Format des Stadtspaziergangs eine kreative Neu- und Umdeutung. Neben den klassischen, vom Touristenamt angebotenen Touren, entstehen Spielformen, die Elemente von Theater, Kunst, Performance aufgreifen, Konsumkritik betreiben, oder die Lust am „Slow Traveln“ und an der Nahraumerkundung zu Fuß feiern. Auf die Spitze trieb diese Intensiv-Nahraumerkundung der US-Amerikaner Matt Green (33 Jahre), der seit 2012 täglich 10 Meilen von New York erwandert, mit dem Ziel, am Ende seiner Reise jede Straße der Stadt durchquert zu haben. Mittlerweile hat er 6.600 Meilen zurückgelegt. Auf seinem Blog zeigt eine zunehmend rot gefärbte Karte den Stand seines Experiments.

Spannende Mitmach-Formate entwickelt auch die Plattform „B Tours“ aus Berlin. Hier experimentiert man mit dem konventionellen Format der geführten Stadtführung, lotet aus, welche neuen Möglichkeiten des Erzählens sich dabei bieten und setzt dabei ästhetisch und im Gebrauch von Kommunikationsmedien (SMS, Apps, GPRs, Geocaching etc.) stark auf unsere urbanen Lebensgewohnheiten. Bevorzugt besucht werden Grenz- und Schwellenbereiche der Stadt und auch vor kritischen Themen wie Obdachlosigkeit oder den Kehrseiten der Gentrifizierung wird nicht Halt gemacht. Von solchen spannenden Stadtraum-Spielereien könnte Mainz mehr vertragen, erste Ansätze lassen sich aber auch bei uns bereits finden.

Step out of your mind

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Herz der Neustadt – Gartenfeldplatz: Hier war vergangenen Herbst der Startpunkt für den performativen Stadtrundgang „In Arbeit: Neustadt“, mit dem Sara Ostertag, Regisseurin am Staatstheater, ihren vielgelobten Einstand gehalten hat. Jede Vorstellung war ein Spaziergang in neuen Konstellationen von Menschen. Alle versehen mit roten Kopfhörern, schwärmten sie eifrig durch die Neustadt. Die Stadt wurde ihnen zur Bühne und erzählte an markanten Punkten immer neue Geschichten über ihre Bewohner und Historie.

Inspirieren ließen sich Sara Ostertag und ihr Team unter anderem von den „Situationisten“, einer Gruppe von Künstlern aus Frankreich, die in den 50er und 60er Jahren mit spielerischen Mitteln die städtische Raumwahrnehmung und –nutzung in Frage stellten. „Dérive“ nannten sie ihr zielloses Umherschweifen und es handelte sich auch um ein politisches Vorhaben, wie eine lebenswerte Stadt aussehen kann. Ostertag findet es spannend, was Architekturen mit dem Denken machen, dass sich zum Beispiel in einer monotonen Wohngegend auch monotone Gedanken breit machen – eine abwechslungsreiche Stadtlandschaft den Blick wach macht.

So beschreibt sie die architektonischen und sozialen Brüche und Verlaufslinien, die sie empfand, als sie mit Dramaturgin Catharina Hartmann loszog auf der Suche nach geeigneten Orten. Die Neustadt drängte sich mal wieder auf, denn da passiere viel. Da probieren Leute was aus, an der Schnittstelle von Sozialem, Künstlerischem und Visionärem, aber da gibt es auch gewachsene Strukturen. Die Regisseurin arbeitet gerne im Stadtraum, sie mag das Erzeugen von „Situationen“, wenn das dramaturgisch Geplante auf das Unerwartete und die Bewohner der Stadt trifft: „Ich hab das Gefühl, etwas, was Kunst kann, ist Fragen oder Lücken aufzumachen. Also zum Beispiel den Blick auf etwas hinzuweisen, was nicht zusammen geht. Oder dich in eine Situation von Nicht-Wissen bringen, in der du dann selber wieder was herausfinden kannst.“

Das Zu-Fuß-Gehen, Müßig-Gehen in Abgrenzung zur linearen, zielgerichteten Bewegung begleitet die Regisseurin weiter als Thema. In Wien hat sie sich mit Kindern und Jugendlichen mit der Frage auseinandergesetzt: Wie kann ich meinen Blick auf die Stadt verändern? Dabei entstanden „Flaniermaschinen“, in denen man sich liegend fortbewegen und in den Himmel schauen kann oder ein Gerät, das den Blick ausschließlich auf den Boden richtet.

Nächstes Jahr wird es ein Folge-Theaterprojekt im Mainzer Stadtraum geben, „In Zukunft: Stadt“. Auf dem Unigelände dieses Mal, gemeinsam mit Studenten der Theaterwissenschaft und der Hochschule für Gestaltung wird der Frage nachgegangen: Wie malen wir uns die Zukunft aus? Im Großen und Kleinen, Privaten und Öffentlichen? Eine weitere Gelegenheit zum Herumschlendern und Mainz neu entdecken bietet vom 25. bis 27. September das Kunst-Spazier- Wochenende „3x klingeln“, das dieses Jahr seinen 10. Geburtstag feiert. Und wen es jetzt bereits in den Beinen zuckt, für den haben wir noch ein paar Ideen zum gezielten Verlorengehen zusammengestellt:

Walk this way

Es gibt eine Sonderedition der Lonely Planet-Reihe, den „Lonely Planet Guide to Experimental Travel“, in dem sich eine Vielzahl skurriler Experimente und Spielanleitungen versammeln, die zum Nachahmen anregen. Statt sich auf ein konkretes Reiseziel zu konzentrieren, geht es beim experimentellen Reisen um die innere, mentale Reise, das spielerische Element und die Möglichkeit einer spannenden Zufallsentdeckung. Und solch eine Reise kann im Grunde überall stattfinden, auch in der eigenen Stadt. Nun seid ihr dran. Wir wollen euch auf die Reise schicken und ermuntern, selbst ein solches Reiseexperiment in Mainz zu starten. Hier drei zur Wahl stehende Experimente:

1) Die Wechsel-Reise

Geh von zuhause los. Geh an der ersten Kreuzung links, dann rechts, dann wieder links. Oder wirf an jeder Kreuzung eine Münze. So lange, bis es nicht mehr weitergeht.

2) Expedition zum K2

Nimm eine Karte von Mainz. Schau, wo das Planquadrat K2 liegt. Geh dorthin und erkunde alles, was dieses Planquadrat Dir bietet. Finde deine eigenen Sehenswürdigkeiten.

3) Endstation-Reise

Steige in einen Bus, fahr bis zur Endstation und laufe den Weg zurück.

Wir freuen uns auch über Post! Schreibt uns ein paar Zeilen, schickt uns eine Postkarte (Markt 17, 55116 Mainz oder per Mail: hallo@ sensor-magazin.de). Erzählt uns von euren Abenteuern vor der eigenen Haustür. Schenkt uns euren neuen Blick auf Mainz: macht Fotos, malt Skizzen, dokumentiert eure Sehens-Würdigkeiten. Eine Auswahl werden wir veröffentlichen.