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sensor Oktober Kolumne: Dr. Treznok kann auch lachen

DrTreznokMeine alte Freundin Ilse ist gestorben. Sie war schon sehr alt und in den letzten Jahren immer gebrechlicher geworden, so dass ihr Tod nicht wirklich überraschend kam. Zu dritt fuhren wir zur Beerdigung nach Bretzenheim, die Freundin, mit deren Auto wir fuhren, hatte drei Rosen besorgt, für jeden von uns jeweils eine. Als wir auf dem Friedhof ankamen, trafen wir einen Freund, der ebenfalls eine Blume bei sich trug, dann sahen wir eine weitere Freundin mit einer anderen Blume. Wir winkten uns mit den Blumen zu, und irgendwie war es plötzlich eine lustige Situation, denn wir hatten uns teilweise lange nicht gesehen, und das Winken mit den Blumen wirkte albern.

Dann sahen wir noch eine Freundin kommen, mit der wir gar nicht gerechnet hatten, da sie erst vor kurzem eine Knieoperation hinter sich gebracht hatte, und es war deutlich, wie schwer es ihr mit den Krücken fiel, sich über den Friedhof auf uns zu zu schleppen. Wir freuten uns, dass sie es auch noch geschafft hatte, zur Beerdigung zu erscheinen, lachten noch mehr und riefen ihr quer über den Friedhof irgendetwas zu, damit sie uns bemerkte, obwohl klar war, dass sie uns schon längst gesehen hatte. Als sie endlich bei unserer Gruppe angekommen war, freuten wir uns gemeinsam, lachten und nahmen uns in die Arme. Erst jetzt wurde uns bewusst, dass Ilses Beerdigung eigentlich kein Anlass war, lachend und scherzend auf dem Friedhof zu stehen, aber wir fanden dann, dass Ilse sich sicher nicht an unserer guten Laune gestört hätte. Wir gesellten uns zu Ilses Familienangehörigen, und dann begann auch bald die Andacht.

Es ist schon manchmal seltsam mit der guten Laune. Eigentlich war ja nichts an der ganzen Situation lustig: unsere mitgebrachten Blumen hatten nichts Außergewöhnliches, und eine Freundin, die sich unter Schmerzen kurz nach einer Knieoperation über den Friedhof schleppt ist auch nicht komisch. Dennoch freuten wir uns, das Wetter war schön, wir hatten uns teilweise Jahre nicht gesehen, und die gemeinsamen Erinnerungen an Ilse stimmten uns fröhlich und heiter. Die eigentliche Beerdigung war dann doch traurig, aber dann auch wieder schön, denn die Pfarrerin hielt eine sehr einfühlsame Rede, die Ilses langes, oftmals schwieriges Leben anschaulich zusammenfasste und uns auch mit allen Problemen versöhnte, die Ilses eigenwillige Persönlichkeit manchmal ausgelöst hatte.

Menschliche Gefühle sind oft widersprüchlich, und man kann sie nicht wirklich erklären. Wahrscheinlich muss man das auch nicht. Wir lachen ohne Grund, einfach nur weil wir eine Freundin treffen, die wir lange nicht gesehen haben, selbst wenn die Begegnung mit Trauer und Schmerzen verbunden ist. Oder wir bekommen eine Beklemmung, weil unser Bauchgefühl uns sagt, dass irgendetwas nicht ganz geheuer ist. Würden wir über all diese Gefühle erst nachdenken und dann entscheiden, kämen wir zu überhaupt nichts und wären getrennt von unseren Mitmenschen und der ganzen Welt. Die meisten Gespräche scheinen belanglos zu sein, wir reden über das Wetter, einen Film, den wir gesehen haben oder erzählen, was wir heute gegessen haben. Es geht dabei nicht darum, Informationen weiterzugeben oder Erfahrungen auszutauschen, sondern einfach nur darum, in Kontakt zu kommen.

Wir winken der Freundin zu, damit sie uns sieht, obwohl sie uns schon längst gesehen hat und uns das auch klar, vielleicht sogar bewusst ist, aber das Winken passiert unbewusst. Auf dem Friedhof winkten wir gemeinsam, als wir die humpelnde Freundin kommen sahen, und wir mussten uns nicht vorher absprechen und uns fragen, ob wir nun winken sollten, weil die Handlung doch ganz sinnlos schien. Wir handelten automatisch und kollektiv, ließen uns auch nicht von dem eigentlich traurigen Anlass, nämlich der Beerdigung, beirren, und gerade dadurch wurde alles stimmig und verlieh der ganzen Situation die natürliche Würde. Die meisten Handlungen begehen wir auf diese Weise: wir lachen mit, selbst wenn wildfremde Menschen lachen, wir gähnen, wenn andere gähnen, wir schauen hin, wenn wir etwas Ungewöhnliches bemerken, wir erschrecken, wenn wir über den Zebrastreifen gehen und ein Auto scharf bremst.

Es würde mich interessieren, was Ilse über diese Kolumne zu sagen hätte. Sie hat den sensor immer gelesen und mir oft ihre Meinung gesagt zu meinen manchmal sperrigen, manchmal provokanten Texten. Dieser Text ist nicht sperrig und auch nicht provokant. Vielleicht würde Ilse gelangweilt gähnen, und ich würde mitgähnen, weil Gähnen ansteckend wirkt. Vielleicht würden wir dann gemeinsam lachen, weil uns bewusst wurde, dass unser Gähnen ansteckend ist, oder wir würden einfach so lachen, ganz ohne Grund. Man braucht nicht für alles einen Grund.