Direkt zum Inhalt wechseln
|

Sehnsucht nach Gesang – Chöre in Zeiten von Corona

„Alles Digitale ist kein Ersatz für gemeinsames Tun.“ Bernd Thewes‘ Männerchor
in der Neustadt

Die Aktivität der Chöre und das Singen im Land waren in den letzten Monaten sehr eingeschränkt. Nach Untersuchungen verbreiten sich Aerosole beim Singen zu stark in der Luft, ein erweiterter Abstand sollte eingehalten werden. Dabei können Profi-Sänger gut mit ihrer Stimme umgehen, so gut, dass sich kaum etwas bewegt in der Luft vor ihrem Mund. Dennoch: Gemeinsames Singen wird als Infektionsrisiko angesehen. Dabei schätzen es rund vier Millionen Menschen in Deutschland, gemeinsam Lieder anzustimmen. Etwa 3.500 (Amateur)chöre gibt es allein in Rheinland-Pfalz. Beginnend ab März wurden die Auftritte und Proben komplett untersagt. Erst ab Mai lockerte sich langsam hier und dort etwas, als erstes beim Musikunterricht am Peter-Cornelius-Konservatorium. Am 18. Mai startete dann der Chorverband Rheinland-Pfalz eine Petition, die verbindliche Regelungen für Sänger forderte: „Singen ist weniger ansteckend als das Spielen von Blasinstrumenten oder das Sprechen. Hier wird häufig Korrelation mit Kausalität verwechselt“, sagt Christian Kähler von der Bundeswehr Universität in München. Unter Einhaltung der Abstände und mit ausreichendem Lüften sei nach seinen Forschungsergebnissen eine Ansteckung unmöglich.

Geprobt wird, wo Platz ist: Frauenchor „BarberKadabra“ beim Einsingen in
der Oberstadt

Kein Risiko
In der 9. Corona-Bekämpfungsverordnung lenkte die rheinlandpfälzische Landesregierung ein und genehmigte ab dem 10. Juni das Proben im Freien; bei Lüftung und mit Abstand schließlich auch in geschlossenen Räumen. Der Opernchor des Staatstheaters nahm die Proben wieder auf, wenn auch an Vorführungen des Chors bisher noch nicht zu denken ist. Dafür spielt immerhin das Staatsorchester. Die 10. Corona-Bekämpfungsverordnung Mitte Juni erlaubt sogar wieder öffentliche Auftritte, bevorzugt im Außen-, notfalls aber auch im Innenbereich. Bei der Dommusik will Kapellmeister Karsten Storck kein Risiko eingehen. Im Mittelpunkt stehen hier die jüngsten Mitglieder, die der Wegfall der Proben besonders traf. Mit Abstand und in kleinen Gruppen begann die Kantorei mit den Drittklässlern: „Kein Singen, nur Rhythmusübungen mit Cajón (Percussion, Kistentrommel)“, so Storck. Für alle älteren Jahrgänge geht es zum Proben nach draußen oder ins Netz – dort übt jeder für sich. Die Online-Videokonferenzen nehmen für die Chöre in dieser Zeit einen besonderen Stellenwert ein, auch beim Frauenchor „BarberKadabra“. „Teach-Tracks wurden dort an die Mitglieder samt Noten geschickt“, sagt Christiane Kraus. Der Frauenchor hat sich dem Gesang im „Barbershop Stil“ verschrieben – ein Genre aus Amerika, in dem es darum geht, die „Harmonie zum Klingen zu bringen“. Bei den Online- Treffen geht es jedoch vor allem um Stimmbildung und Stimmproben. Durch die Verzögerung der Tonübertragung lässt sich an gemeinsames Singen nicht denken. Richtig geprobt wird daher dort, wo viel Platz ist: etwa in Kastel auf der Grillwiese am Rhein oder der Laubenheimer Höhe.

Komponieren während Corona
Erleichtert über die Lockerungen zeigt sich auch Bernd Thewes: „Die wöchentlichen Treffen wurden stark vermisst“, sagt der Komponist, der in der Neustadt einen Frauen- und Männerchor betreut. Rund 50 Mitglieder zählen beide Chöre, die basisdemokratisch organisiert sind. „Flatten The Curve“ heißt ironischerweise die aktuelle Einsing-Übung. Thewes, der auch schon Klavierstunden über Videokonferenz gab, ist wenig überzeugt vom Proben am Bildschirm: „Alles Digitale ist kein Ersatz für gemeinsames Tun. Dass wir Menschen nicht so leicht voneinander isolierbar sind, zeigt sich gerade in der Musik.“ Die Pause nutzte Thewes kreativ, indem er zwei Corona-Stücke komponierte – für Blasorchester das eine, für Chöre das andere. „Waldmusik“ und „Unter Bäumen“ hat er sie genannt. Die beste Bühne sei die Natur. Die Chormitglieder hören die Töne über Kopfhörer, die Blasmusiker lesen sie von Noten ab. In Verbindung mit den Geräuschen der Natur entstehe so ein besonderer Klang. Und Corona ist wenigstens so für einen Moment weit weg.

Alexander Weiß
Fotos: Stephan Dinges