Es gibt Läden, die man nicht betritt, um etwas Bestimmtes zu kaufen, sondern um sich zu verlieren. Das Antiquariat am Fischtor in Mainz, geführt von Henriette Sellin, gehört zu diesen Orten. Zwischen hohen Regalen, sich drehenden Buchständern und Bücherstapeln ist es, als schiebe sich die Zeit auseinander. Philosophie stapelt sich neben Theologie, Klassiker neben vergessenen Novellen, neuere Auflagen stehen neben Exemplaren aus einer anderen Zeit. Das älteste Buch ist von 1787: Der letzte Reisebericht von James Cook. Und in einer Glasvitrine stehen Schachteln, die keine sind – kleine Bühnenbilder aus Papier, Collagen, die ganze Welten enthalten.

Bücher und Schachteln
Henriette Sellin, 58, ist Buchhändlerin und Künstlerin zugleich. Diese Doppelrolle ist keine Nebeneinanderstellung, sondern eine Durchdringung. Wer bei ihr ein Buch kauft, stößt unweigerlich auf ihre Kunst. Und wer sich ihre Schachteln ansieht, erkennt die Handschrift einer Antiquarin: das Auge für das Detail, die Geduld im Ordnen, das Vertrauen in das Material. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ihr Leben so verlief. Ihr Vater, einst Nachfolger einer altehrwürdigen „Heidelberger Buchhandlung“, verweigerte sich dem Erwartbaren und gründete lieber ein eigenes Antiquariat. Ein kleiner Bruch mit der Tradition, eine Abkehr vom Großbetrieb, hin zur Intimität der Bücher. Henriette Selin ging zunächst den geraden Weg: Ausbildung, große Buchhandlungen in Frankfurt und Berlin. Doch mit dem ersten Kind kehrte sie zurück, übernahm schließlich mit ihrem Mann 2003 das Geschäft des Vaters.
Das letzte Antiquariat
Es war kein leichter Anfang. Die alten Kunden schauten skeptisch. „In unserer Branche geht vieles über Stammkunden, da hat man es als Neue nie leicht“, erzählt Sellin. Und währenddessen begann das Internet den Markt zu erobern. Sellin aber hielt durch. Sie öffnete die Türen für neue Käufer, junge Studierende, flanierende Familien. Sie mischt zwischen Bände und Broschüren kleine Überraschungen, legt Postkarten ins Schaufenster, stellt eine Schachtelkunst neben den Goethe. Die Schachteln sind mehr als Schmuckstücke. Es sind Assemblagen, die aus den Resten der Papierwelt entstehen – Tapeten aus dem Jugendstil, Kupferstiche, Naturkundetafeln – Dinge, die auf Flohmärkten oder in Lexika ein Schattendasein führen. In Sellins Händen beginnen sie zu sprechen. Ein Fisch schwimmt durch ein Wohnzimmer, eine Pflanze wächst aus einem Uhrwerk, Figuren treten in Beziehungen, die im Alltag unmöglich wären. „Geschichten mit der Schere erzählt“, nennt sie das. Es sind Geschichten, die nicht glatt sind. Während der Pandemie entstanden Arbeiten, in denen Adam und Eva mit einer Plastiktüte spazieren gehen. Humor und Melancholie, Kritik und Poesie – beides steckt darin. Sellins Schachteln sind kleine Widerstände gegen die Banalität des Alltags, zugleich eine Hommage an das Material selbst. Dass sie beides macht, Antiquariat und Kunst, wirkt fast folgerichtig. Das Sichten, Bewahren, Arrangieren – es ist derselbe Gestus, nur in unterschiedlichem Maßstab. Das Antiquariat ist die große Bühne, die Schachtel die kleine. In beiden Fällen geht es um denselben Impuls: aus Fragmenten Sinn zu machen. Reich wird man mit keinem von beiden. Sellin weiß das. Sie hat zwischendurch in der Altenpflege gearbeitet, um finanziell unabhängiger zu sein. Seit ihr Mann gestorben ist, trägt sie den Laden allein. Und doch bleibt sie. Weil es Orte wie diesen sonst nicht mehr gäbe. Mainz hatte einst fünf Antiquariate, jetzt ist ihres eines der letzten.
Jubiläum
Das Antiquariat feiert im September 50. Geburtstag. „Es wird eine kleine Feier werden, eine Literaturtombola mit Sektempfang“, erklärt Henriette. Kein großer Pomp. Denn Sellin erzählt ihre Geschichte nicht durch große Gesten, sondern durch Dinge, die man anfassen kann: einen Buchrücken, der schon hundert Hände spürte, ein Bild in einer Schachtel, das niemand mehr vergisst. Am Ende ist es die stille Hartnäckigkeit, die ihren Ort so besonders macht: die Weigerung, sich von der Schnelllebigkeit verschlucken zu lassen. Wer bei Henriette Sellin ins Antiquariat tritt, sieht nicht nur Bücher. Man sieht, wie aus Vergangenem Neues wächst. Und dass selbst die kleinsten Schachteln groß genug sein können, um eine ganze Welt zu enthalten.
Text: Leo Rosch
Foto: Franziska Gill