Mit der Eröffnung der neuen Synagoge bekommt die jüdische Gemeinde Mainz endlich wieder ihren Platz in der Öffentlichkeit. Jüdisches Leben kehrt nach über siebzig Jahren zurück in den Mainzer Alltag.
Grünblau glänzen die Keramikkacheln an der Außenwand der neuen Synagoge in der Sonne. Sie spiegeln ihre Umgebung wider, geben der Wand Tiefe und die Struktur von Schrift. „Das Äußere ist sehr beeindruckend“, sagt Stella Schindler-Siegreich, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, „aber besonders wohl fühle ich mich im Inneren.“ Auch hier beeindruckt die Synagoge mit Geradlinigkeit und abstrakten Formen. Rechts neben dem Eingangsportal liegt der Gebetsraum, die Wände sind übersät mit hebräischen Schriftzeichen. Schrift ist das Leitmotiv der Synagoge. „Über viele Jahrhunderte war es den Juden durch Diaspora und Verfolgung nicht möglich, einen Raum oder eine eigene Bauweise zu entwickeln“, erklärt der Architekt Manuel Herz. „So wurden die Schriften immer mehr zum Raum im übertragenen Sinne.“ Ein Schriftzug dient auch als äußere Form des Gebäudes: „Kedusha“ steht dort, der hebräische Segensspruch.
Das Widderhorn
Zwei Tage nach der Eröffnung wollten bereits über 10.000 Bürger und Bürgerinnen am „Tag der offenen Tür“ die Synagoge besuchen. „Wir hatten mit Interesse gerechnet, aber dies war überwältigend“, sagt Stella Schindler-Siegreich. Architekt Herz leitete selbst einige Führungen. „Es war schwierig, einen Raum zu schaffen, der sowohl nach Osten zeigt, da hier die Torarollen aufbewahrt werden, und gleichzeitig aber einen Schwerpunkt im Zentrum hat, da die Schriften aus der Mitte der Gemeinde heraus gelesen werden“, erklärt er seine Konstruktion. Als Gemeindehaus sollte die Synagoge ein niedriges Gebäude sein. Da die Häuser der Nachbarschaft aber mehrgeschossig sind, musste ein Gegenpol geschaffen werden. Die Erhöhung über dem Gebetssaal wurde in Form eines Widderhorns gestaltet, das von außen wie ein Turm wirkt. „Das Widderhorn, Shofar, steht für die Verbindung von Mensch und Gott, aber auch Erde und Himmel, Profanem und Sakralem“, beschreibt Schindler-Siegreich die Bedeutung in der jüdischen Liturgie. Es geht auf die Geschichte Abrahams und die Nichtopferung seines Sohnes Isaak zurück und wird zu den hohen Feiertagen geblasen.
Innenleben
Im Mittelpunkt einer jüdisch-religiösen Gemeinde steht die Feier des Sabbats, im Jiddischen auch Schabbes genannt. Der Sabbat beginnt Freitagabend und endet am Samstag bei Sonnenuntergang. Die Gemeinde nimmt am Sabbat ein gemeinsames koscheres Mahl ein. „Wir leben in der Gemeinde auch die häuslichen und familiären Traditionen des Judentums, die außerhalb des Gottesdienstes stattfinden. Viele unserer Gemeindemitglieder kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Dort wurde Judentum als Nationalität von außen definiert und die Bräuche gingen verschüttet“, erklärt die Gemeindevorsitzende die Bedeutung des gemeinsamen Mahls. Zu den wichtigsten Regeln des koscheren Essens gehört, Fleisch- und Milchgerichte voneinander zu trennen. In den alten Gemeinderäumen gab es nur eine „fleischige“ Küche, im Neubau gibt es nun auch eine „milchige“. Denn auch Kochgeschirr und andere Utensilien müssen nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, streng voneinander getrennt werden. Wein und Brot werden mit dem Segensspruch, Kedusha, vom Profanen zum Sakralen erhöht.
Da die meisten Gemeindemitglieder in Deutschland sonntags frei haben, wird dieser Tag genutzt, um den unzähligen anderen Aufgaben der Gemeinde nachzugehen. In der Sonntagsschule werden die Fächer Malerei, Musik, Theater, Schach, Hebräisch und Russisch angeboten. Schon die Kleinsten können am Religionsunterricht teilnehmen, und ein Kurs führt jeden Samstag nach dem Gottesdienst in die jüdischen Traditionen und den Siddur, das jüdische Gebetsbuch, ein. Schrift und Sprache sind nicht nur Leitmotiv des Gebäudes, sondern auch zentrales Element des jüdischen Glaubens. Deshalb ist eine Bibliothek unabdingbar. Besonders oft wird der Sozialdienst der Gemeinde in Anspruch genommen. Ein Großteil der älteren Gemeindemitglieder aus der ehemaligen UDSSR hat im Alter Probleme mit dem Erlernen einer neuen Sprache. „Wir begleiten unsere Mitglieder dann zum Arzt und übersetzen“, beschreibt Stella Schindler-Siegreich die praktische Hilfe. Gesteuert und organisiert wird die aufwendige Gemeindearbeit aus dem Gemeindebüro. „Unsere drei guten Seelen“, sagt sie.
Anschluss knüpfen
Seit über tausend Jahren ist Mainz, das jüdische Magenza, ein wichtiger geistlicher und kultureller Mittelpunkt des Judentums in Ost- und Westeuropa. Erste Zeugnisse des Mainzer Judentums lassen sich ab dem zehnten Jahrhundert finden. Kurz darauf vernichteten Kreuzzügler die jüdische Gemeinde in Mainz. Einen weiteren Höhepunkt fand die Verfolgung in den Zeiten der Pest im 14. Jahrhundert. Aberglaube und Unwissenheit brachten die Mainzer Bürger dazu, die jüdische Gemeinde der Brunnenvergiftung zu verdächtigen und zu vertreiben. Neben der Berufswahl war meist auch die Wahl des Wohnortes reglementiert. „Unter den Juden“, so hieß der Bereich rund um den Flachsmarkt, in dem die Mainzer Juden seit dem Mittelalter wohnten. Ab dem 17. Jahrhundert wurde ihnen ein kleineres Gebiet im Bereich der heutigen Landesbank Rheinland-Pfalz zugewiesen. Bürgerrechte und religiöse Gleichberechtigung erhielten die Mainzer Juden erst mit der französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. Die Hauptsynagoge wurde in der Reichspogromnacht niedergebrannt und über die Hälfte der damaligen jüdischen Mainzer in Vernichtungslager nach Osteuropa gebracht. Mit der neuen Synagoge an ihrem ursprünglichen Ort schließt sich jetzt ein Kreis, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts so hoffnungsvoll begann und während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ein jähes und schreckliches Ende fand. „Jüdisches Leben war die ganze Zeit da, doch jetzt wird es wieder sichtbar“, sagt Schindler-Siegreich über die neuen Möglichkeiten der Synagoge. „Das Gebäude macht neugierig und weckt Interesse. Viele wollen wissen, was eigentlich innerhalb einer Synagoge passiert, und das ist gut so. Mit dem Veranstaltungsprogramm wollen wir uns nach außen öffnen und jedem die Möglichkeit geben, mehr zu erfahren. Es ist ein neuer Ort der Begegnung und Kommunikation.“
Termine Oktober 2010
3.10. – 17 Uhr Hazzanut 2010; Synagogales Konzert mit Kantorin Mimi Sheffer
6.10. – 19 Uhr Viele Wege führen nach Magenza; Die Jüdische Gemeinde Mainz – gestern, heute, morgen
24.10. – 17 Uhr Konzert in Erinnerung an Anni Eisler-Lehmann
25.10. – 19.30 Uhr “Mainzer Synagogen vom Mittelalter bis zur Gegenwart” Vortrag von Dr. Joachim Glatz
Führungen durch die Synagoge
Die Jüdische Gemeinde Mainz bietet – nach Voranmeldung – Führungen durch die Synagoge an. Bitte melden Sie sich telefonisch an unter 06131/613990 oder schreiben Sie an Jüdische Gemeinde Mainz K.d.ö.R. Stichwort: Führung | Synagogenplatz 55118 Mainz oder schicken Sie eine E-Mail an info@jgmainz.de
Weitere und aktuelle Informationen finden Sie unter www.jgmainz.de
Text: Lisa-Marie Harlfinger
Fotos: Tessa Bischof
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