Wer durch Mainz spaziert, läuft auf Schritt und Tritt über römische Geschichte. Kaum eine Baustelle ohne Funde. Jede Grabung beschert den Archäologen neue Erkenntnisse, aber auch neue Fragen. Dass man 2018 am Zollhafen fündig würde, war nicht unbedingt zu erwarten, doch die Ausgrabungen zeigten, dass die Neustadt bereits in der Antike besiedelt war.
Recycling am Bau
Die Verwendung von „Wegwerf-Amphoren“ konnte kürzlich im Fundament eines der ausgegrabenen Gebäude nachgewiesen werden: ausgedient und gestapelt im Boden dienten sie nun zum Schutz vor aufsteigender Nässe im Bereich des Ufers. Die Einwohner von Mogontiacum waren schon früh raffinierte Bauherren! Ein Teil dieser Amphorenfunde ist in einer Vitrine im Innenhof der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) an der Rheinallee ausgestellt. Dazu erläutert die im Juli eingeweihte Tafel – eine von mittlerweile 230 Infotafeln zur zweitausendjährigen Geschichte von Mainz – den Fundort und zeigt die Anordnung der Gefäße unter den Hausmauern.
Einwegcontainer aus Ton
Die dickbauchigen bis etwa 1,5 Meter hohen Gefäße enthielten früher Öl, die mit den langen, schmalen Hälsen Wein und die dritte Form war typisch für die Fischsauce „Garum, Oberbegriff für Würzmittel auf der Basis von fermentiertem Fisch. Man könnte sagen, eine Art „antikes Maggi“, unverzichtbar in der römischen Küche.
Damals blühte der Importhandel, und nicht nur damit: Oliven aus Marokko, Olivenöl aus Spanien, Weine aus Südfrankreich, Feigen und Datteln aus Ägypten… Teure Produkte wurden in kleineren Amphoren angeboten, günstige kamen in großen Behältern. Für die Verwendung im Haushalt wurde wiederum umgefüllt in kleinere Gefäße. Der genaue Inhalt der Transport-Amphoren konnte meistens anhand der Beschriftungen nachvollzogen werden. „Manchmal ist sogar der Name des Händlers zu finden“, erzählt uns Landesarchäologin Dr. Marion Witteyer: „Die Objekte sprechen. Wir sind nur die Übersetzer.“ Anhand des verwendeten Tons kann man heute noch feststellen, wo zum Beispiel ein Olivenöl herkam. Denn die Gefäße für den Transport wurden in der Nähe der Oliven- Anbaugebiete hergestellt. Große Schiffe spielten dabei eine wichtige Rolle für den Weg übers Mittelmeer. Flüsse waren die Haupttransportwege und nicht zuletzt hatten die Römer gut ausgebaute Straßen. Gemeinsam war den tönernen Amphoren, dass es Einweg-Behälter waren. Der poröse Ton, relativ niedrig gebrannt, nahm immer etwas vom Inhalt auf und ließ darum eine weitere Verwendung nicht zu. Die gebrauchten Amphoren wurden also einfach weggeworfen. Die Händler haben sicher kein Pfand darauf erhoben – zumindest ist nichts überliefert. Der Monte Testaccio in Rom besteht aus den Scherben solcher Wegwerf- Amphoren. In Mainz fand man Amphoren-Scherben auf einem Schutthügel beim Legionslager am Kästrich. Es gab aber damals auch schon Recycling: Die Gefäße wurden umfunktioniert zu Mörtelkübeln, Urinalen oder Baumaterial für Mauern. Mit den Funden vom Zollhafen konnten die Archäologen eine weitere nützliche Art der Weiterverwendung dokumentieren.
Mahlzeit!
Aus den Grabungen von 2018 stammen auch die Fundstücke, die in der Kantine der LBBW präsentiert werden. Sponsoring durch die Bank machte es möglich, die Objekte perfekt zu restaurieren. Nach den Corona- Einschränkungen werden die drei Vitrinen zu besichtigen sein. Terra-Sigillata-Gefäße waren beliebtes Tafelgeschirr, elegant, mit erhabenem Dekor und roter Engobe. Auf Platten oder in Schüsseln wurde aufgetragen, in kleineren Schalen reichte man Dips in die das mundgerecht geschnittene Fleisch gestippt wurde. Ein Teller konnte der „Wetterauer Ware“, zugeordnet werden, wie sie im 2. und 3. Jahrhundert in der Region verbreitet war. „Diese Objekte haben alle mit Essen zu tun“, erklärt Witteyer. Das passt natürlich zur Bank-Kantine. Gabeln gab es damals nicht, gegessen wurde mit den Fingern oder einem Löffel, dessen spitzes Ende auch zum Aufspießen der Bissen geeignet war. Man lag zu Tisch auf der Kline, einer Art Chaiselongue, den linken Arm aufgestützt (besser gesagt: Mann lag zu Tisch, die Frauen blieben auf Hockern oder Stühlen im Hintergrund oder servierten). Es gab heimische Erzeugnisse, Eier und Getreidebreie, dazu importierte Oliven. Honig war wichtigstes Süßungsmittel und – mit Weißwein und Pfeffer – Zutat für „Mulsum“, die römische Weinzubereitung mit Honig. Töpfe, in denen der Honig aufbewahrt wurde, sind auch unter den gezeigten Objekten. „Verlorenen Glanz“ zeigt die mittlere Vitrine. Ein schmaler, hoher Krug, und neben den metallenen Essbestecken auch Stifte, „stilos“, mit denen man Wachstäfelchen beschrieb. Ein solches „römisches Notizbuch“ ist ebenfalls ausgestellt. Vielleicht gab es sogar eine Speisekarte mit dem Tagesgericht? Besonders ins Auge fällt aber ein wunderschöner metallener Delfin. Von ihm weiß man nur, dass er an einem Gegenstand aus Holz befestigt war. Vielleicht als Zierrat an einem Reisewagen? Wie so oft geben manche Objekte auch Rätsel auf.
Religion und Staat
Schon immer vermittelten archäologische Funde Eindrücke aus dem Leben in Mogontiacum. So lässt sich die Verknüpfung von Staat und Religion am Beispiel der Jupitersäule darstellen, die 1905 in der Mainzer Neustadt ausgegraben wurde. Sie stammt aus der Zeit von Nero, um 60 n. Chr., das Original steht im Landesmuseum. Es ist die größte und aufwändigste Jupitersäule, die bisher gefunden wurde. Die Nachbildung wird derzeit restauriert und soll bald wieder aufgestellt werden. Die Reliefs zeigen sowohl römische als auch keltische Gottheiten, ein Zeichen für die enge Verknüpfung der antiken keltischen Kultur und den Einflüssen des „modernen“ römischen Staates und seiner Religion. „Jede Villa Rustica hatte eine Jupitersäule. Man opferte dem Gott des Staates, als Garant dafür, dass es dem Reich gut geht“, so Witteyer.
Zauber und Magie
In der Zeit nach Neros Tod herrschten bürgerkriegsartige Verhältnisse, „vier Kaiser strebten nach der Macht“. Aus dieser Zeit, 60 bis 70 n. Chr., stammt das Isis und Mater Magna- Heiligtum, das 1999 bei den Bauarbeiten zur Römerpassage entdeckt wurde. Die Verehrung der ägyptischen Isis und der phrygischen Mater Magna an einer gemeinsamen Kultstätte ist einzigartig und, wie Witteyer meint, nicht zuletzt politisch begründet: „Kaiser Vespasian hatte einen besonderen Bezug zur orientalischen Herkunft der beiden Göttinnen.“ Mehr als 600 Jahre zuvor befand sich an dieser Stelle eine keltische Begräbnisstätte. Es war also ein „geheiligter Platz“, an dem der Tempel errichtet wurde. Außerhalb Italiens ist es die einzige Kultstätte, an der die beiden Göttinnen gemeinsam verehrt wurden. Isis als Totengöttin und gleichzeitig Göttin der Wiedergeburt wurde auch als Muttergöttin verehrt. Sie war Schutzherrin von Menschen in Sorge und konnte Dämonen abwehren. Die „Große Mutter“ war eine Erd- und Fruchtbarkeitsgöttin, von deren Gestalt wohl viele der weiblichen Götter ausgingen. Opfer und Weihegaben sollten göttlichen Bestand gewährleisten. Im Kleinen Museum im Untergeschoss der Passage, der „Taberna Achäologica“, fast am Originalstandort, sind die alten Mauern teilweise wiedererrichtet worden. Räucher- und Spendegefäße und die Reste von im Opferfeuer verbrannten Nahrungsmitteln zeugen von den kultischen Handlungen. Mit einem Teil der Originalfunde in Kombination mit Licht und Projektionen ist es gelungen, eine magische Atmosphäre zu erzeugen. Dazu passen die bei den Grabungen entdeckten Zauber-Püppchen und Fluch-Täfelchen. Solche Magie war eigentlich verboten. Die bleiernen Täfelchen, gerollt oder gefaltet, wurden normalerweise eingeschmolzen, jedoch musste der Fluch, damit er wirksam werden konnte, dem damit Belegten bekannt sein. Die Voodoo-Puppen, zerbrochen oder mit dem Gesicht nach unten bestattet, weisen Einstiche auf, die eine bestimmte Wirkung auf die mit dem Fluch belegte Person ausüben sollten. Ob es ein Liebeszauber gewesen ist, der da angewandt wurde …?
Nachleben in der Erinnerung
Über die religiösen Vorstellungen der Menschen zu römischer Zeit lässt sich aus der Gräberstraße in Weisenau viel herauslesen. Diese „via sepulcrum“ verband die Legionslager am Kästrich und Weisenau. „In der ethischen Auffassung war das Grab die neue Wohnung“, erklärt Witteyer die zahlreichen Objekte, die hier gefunden wurden. Wer diese Straße entlangkam, konnte an den Grabsteinen ablesen, wer hier bestattet war: Der Verstorbenen sollte stets gedacht werden. Römische Sitte war, den Leichnam in aufwändiger Zeremonie zu verbrennen. Für die Kelten bedeuteten die dem Toten mitgegebenen Gegenstände Ausstattung für das Leben in der „Anderswelt“, die parallel zur Realität existierte. Am Bettelpfad, nahe der Göttelmannstraße, ist die Ummauerung eines Brandgrabs mit seinen Funden zu besichtigen. Ein Glashaus schützt Fundstätte und Objekte vor der Witterung und „unerwünschtem Zugriff“. Ein anschauliches Beispiel für die „Multikulti-Gesellschaft“ des antiken Mogontiacum ist der Grabstein des Blussus und der Menimane aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., ausgestellt im Landesmuseum. Er ist in der Art der Darstellung römisch, aber zeigt den Händler und seine Frau in keltischer Kleidung. Das Ziel, „in ewiger Erinnerung“ zu bleiben, ist für Blussus verwirklicht.
Tumulus oder Monumentum?
Viele neue Erkenntnisse gewannen die Archäologen bei den Arbeiten am Drususstein am Rand der Zitadelle. „Aber“, so sagt Witteyer, „die Mysterien dieses Monuments sind noch nicht gelöst.“ Ist es, wie bisher angenommen, ein Kenotaph, ein Ehrengrabmal, das von den Legionären für den beliebten Feldherrn Drusus nach dessen Tod errichtet wurde? Oder ist es ein Siegesmonument, erbaut nach der Eroberung Germaniens? Auch dann wäre der Name „Drususstein“ gerechtfertigt. Der Stiefsohn des Kaisers Augustus hatte 12/13 v. Chr. das Mainzer Legionslager gegründet. Etwa 12.000 Soldaten waren zu seinen Lebzeiten hier stationiert. Der Feldherr starb beim Drususfeldzug 9 v. Chr., sein Leichnam wurde nach Rom überführt und dort im Augustusmausoleum bestattet. Im heutigen Mainz ist er in Straßennamen gegenwärtig, auch wenn man ihn nicht mehr mit großen Festen ehrt. Der Drususstein ist eines der Relikte, die in Mainz am Originalstandort erhalten blieben. Mit seiner ursprünglichen Form, einem massiven Zylinder auf einem quadratischen Sockel, hat das Monument – auch „Eichelstein“ genannt – nur noch wenig gemein. Der ursprünglich massive Bau war ausgehöhlt worden, sämtliche Verkleidung abgerissen. Trotzdem wirkt er beeindruckend in seiner Größe und ist, nach Entfernung eines Baumes und Gesträuch, die das Fundament zu zerstören drohten, auch wieder sichtbarer.
So ein Theater!
Die Größe des römischen Theaters, das zwischen Südbahnhof und der Lutherkirche ausgegraben wurde, zeigt die wichtige Rolle, die Mogontiacum zukam. Lange schlief das antike Theater einen Dornröschenschlaf, nun soll es regelmäßig geöffnet werden. Schautafeln und die Installation eines Infozentrums in ehemaligen Baucontainern sind ein erster Schritt, das größte nördlich der Alpen gelegene Theater auch touristisch aufzuwerten. Schon jetzt vermittelt eine Drahtkonstruktion die Anmutung der Sitzreihen, auf denen bis zu 10.000 Zuschauer Platz fanden. Hier wird der Ort gewesen sein, an dem alljährlich die Feiern zu Ehren des Drusus stattfanden, zu denen Vertreter aus den sechzig gallischen Civitates anreisten. Leider wurde ein Teil des Theaters beim Bau des Bahnhofs unwiederbringlich zerstört. Aber man könnte auch sagen: „weltweit einziges Römisches Theater mit direktem Gleisanschluss“.
Rheinschiffer
Als die hohe Zeit der Römer in Germanien zu Ende ging, wurde der Rhein zur wichtigen Grenze: Patrouillenschiffe befuhren den Fluss. Aus dieser Zeit, um 400 n. Chr., stammen die gut erhaltenen Überreste der fünf römischen Militärschiffe, die bei Bauarbeiten 1981/82 in der Nähe des Rheinufers ausgegraben wurden. Es waren schnelle, schmale Boote mit einer Ruderreihe rechts und links, die auch mit Segeln bestückt werden konnten und etwas breiter gebaute Patrouillenboote, die am römischen Kriegshafen entdeckt wurden. Andernorts fand man Reste von zwei älteren Lastkähnen, so genannten „Plattschiffen“, die für den Transport schwerer Waren bestimmt waren. Die sensationellen Funde waren den Mainzern ein eigenes Museum wert. Seit 1994 können im Museum für antike Schifffahrt in der ehemaligen Großmarkthalle nahe dem Bahnhof Römisches Theater nicht nur die originalen Funde, sondern auch originalgetreue Nachbauten im Maßstab 1:1 bewundert werden.
Die Geschichte zu unseren Füßen
„Wir fahren ins Ausland und finden dort alles ganz toll“, sagt Chefarchäologin Witteyer. „Aber wir haben sowas direkt vor unserer Haustür!“ Die römische Vergangenheit von Mainz sollte also möglichst an den „Original- Erinnerungsorten“ sichtbar gemacht werden. „In welcher Form, ist noch nicht klar.“ Wenn die anstehenden Bauarbeiten an der Ludwigsstraße beginnen, wird sich zeigen, ob der Boden auch hier noch mehr Relikte birgt. Geplant ist ein halbes Jahr Zeit für die Archäologen. In Mainz kann man immer wieder fündig werden.
Text Ulla Grall Fotos Stephan Dinges