von Carina Schmidt und Jana Kay (Fotos):
Frank Grandpierre (44) kann sich noch daran erinnern, dass es am Chapeau Claque eine Klingel gab. Wer die Schwulen-Kneipe in der Kleinen Langgasse 4 zu später Stunde betreten wollte, musste sich zunächst eine Gesichtskontrolle durch ein kleines Guckloch gefallen lassen. Als er den schmalen Schlauch des Gastraums zum ersten Mal betrat, erschrak er und dachte: „Vielleicht bin ich doch nicht schwul.“
Es war das Publikum, das den damals 17-Jährigen einschüchterte. „Man hat den Männern regelrecht angesehen, dass sie in ihrem Leben einiges an Diskriminierung erfahren haben.“ Das Chapeau Claque, das 1985 eröffnet hatte und vorher eine Oben-Ohne-Bar war, gibt es immer noch. In der Szene hat die Bar längst Kultstatus erreicht. Heute „trauen“ sich auch Lesben rein.
Heteros feiern mit
Szene-Wechsel: das Kulturcafé auf dem Campus. Es ist Freitagabend. Frauen- und Männerpaare tanzen selbstverständlich miteinander. Die Atmosphäre ist ausgelassen. Junge Menschen feiern ihr lesbisches, schwules oder wie auch immer geartetes Dasein. Kein Mann fragt hier ein lesbisches Paar, das sich küsst: „Darf ich mitmachen?“ Auch der Kommentar über schwule Männer „Boah, seid ihr eklig“, fällt hier nicht.
Seit 1998 ist die „Warm ins Wochenende“-Party für Lesben und Schwule über die Stadtgrenzen hinaus ein beliebter Treff. DJ Miss Günnie T., mit bürgerlichem Namen Gönül Toraman, legt hier seit zehn Jahren auf. Die 32-Jährige, die im Hauptberuf als Prozessmanagerin arbeitet, sagt: „Die Szene ist ein Ort, an dem ich Menschen treffen kann, die so ähnlich leben wie ich.“ Günnie Toraman legt auch bei lesbisch-schwulen Feten vom Verein Schwuguntia im Kulturclub schon schön auf. Dass sich bei den Events ein großer Anteil heterosexuelles Laufpublikum in die Feiermeute mischt, schmeckt nicht jedem in der Szene. „Ich finde es aber wichtig, dass wir uns in die Gesellschaft integrieren und zeigen, dass es uns gibt“, betont sie.
Hauptquartier in der Bleiche
Zur Keimzelle der Mainzer Community hat sich die Bar jeder Sicht entwickelt. 2004 gegründet, ist das Mainzer Kultur- und Kommunikationszentrum für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transidente und Intersexuelle (LSBTI) in der Hinteren Bleiche 29 eine Heimat für über 20 Gruppen. Dazu zählen etwa die Initiative lesbischer und schwuler Eltern (ILSE), zwei Transgender- und eine Jugendgruppe (eine weitere für Mädchen trifft sich im Mainzer Frauenzentrum). „Das Besondere ist: Die Arbeit in der Bar wird ganz überwiegend ehrenamtlich gestemmt“, hebt Frank Grandpierre vom Vorstand des Trägervereins hervor. Mindestens 50 Freiwillige engagieren sich.
Die Bar jeder Sicht hat ein volles Veranstaltungsprogramm mit Diskussions- sowie Filmabenden und bietet professionelle Coming- out-Beratung an. „Auffällig ist, dass sich heutzutage transidente Menschen viel früher outen“, berichtet Grandpierre. Das Kulturzentrum hat sich in Mainz etabliert und ist auch für Heterosexuelle attraktiv: Vom Mainzer Filmfestival Filmz wird die Lokation während seiner Festwoche vom 22. bis 27. November als Treffpunkt genutzt. Überhaupt sei die Szene heute ausdifferenzierter und gleichzeitig stärker vernetzt, stellt der 44-Jährige freudig fest: „Queeres Leben ist in der Stadt sichtbarer geworden.“
Mainz hat mit Michael Ebling einen offen schwulen Oberbürgermeister, die Hauptgeschäftsführerin der Handwerkskammer Rheinhessen, Anja Obermann, und die MVG-Geschäftsführerin, Eva Kreienkamp, erzählen in Interviews selbstverständlich, dass sie mit einer Frau verpartnert sind.
Plakat-Aktion schafft Sichtbarkeit
Sichtbarkeit zeigt sich auch im Stadtbild. 2014 hat die Gruppe „Queerbilder“ zur Gleichstellung und Antidiskriminierung von gleichgeschlechtlichen und queeren Lebensweisen in Mainz eine bundesweit beachtete Plakat-Kampagne losgetreten. Unter dem Motto „Ich liebe, wie ich lebe – Mainz ist so bunt wie das Leben“ sind darauf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transidente und Regenbogenfamilien zu sehen. Die Aktion wird von städtischer Seite unterstützt, was dem 2013 ins Amt berufenen Koordinator für gleichgeschlechtliche Lebensweisen, Oliver Bördner, zu verdanken ist.
„Wichtig war uns bei den Plakaten, dass die Menschen nicht schrill dargestellt werden, sondern selbstverständlich im Leben mitten in der Stadt, also am Rheinufer oder am Gartenfeldplatz“, betont Joachim Schulte von QueerNet Rheinland-Pfalz. Mittlerweile wurde schon die zweite Auflage plakatiert. Weitere Beispiele sind das elfte lesbisch-schwule Chorfestival, das 2015 im Kurfürstlichen Schloss ausgerichtet wurde. 16 Chöre aus Deutschland und der Schweiz waren auf Einladung des Mainzer Chors „Die Uferlosen“ in die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt gekommen.
Der Chor feiert im kommenden Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Höhepunkt im queeren Jahreskalender ist jedoch der Mainzer Christopher Street Day (CSD), die Sommerschwüle, zum 23. Mal organisiert von Schwuguntia. Vor drei Jahren ist der CSD vom KUZ ins Zentrum gerückt, auf den Gutenbergplatz. Und es gibt inzwischen eine Parade durch die Innenstadt mit rund 500 Teilnehmern. Hier steht weniger die Party als der Demonstrations- Charakter im Vordergrund.
2016 gab es auch zum zweiten Mal einen transradikalen CSD, der auch gegen andere Diskriminierungsformen Stellung beziehen wollte. Bereits seit 31 Jahren feiert außerdem das Frauenzentrum sein Frauenfest in der Bretzenheimer Alten Ziegelei. Eine Traditionsveranstaltung für Lesben, die aus ganz Deutschland anreisen.
Szene führt kein Nischendasein mehr
Mit den „Rosa Käppscher“ wurde eine neue Ära eingeläutet: die erste schwul-lesbische Fastnachtssitzung. Die erste Auflage in der Kampagne 2014 im Eventschiff Cassian Carl war mit 200 Narren ausverkauft. Mittlerweile sind die Fastnachter ins Ginsheimer Bürgerhaus ausgewandert. Hier passen 400 Gäste rein. Der Verein zeigt mit seiner Sitzung vor allen Dingen eins: Die lesbisch-schwule Szene in Mainz führt kein Nischendasein mehr. „Die Berührungsängste haben nachgelassen, sodass sogar viele Heteros zu uns kommen“, sagt der Vorsitzende Marc Bockholt.
Im Programm tauchen bewusst nicht nur lesbisch-schwule Nummern und Künstler auf. Kulturreferent Friedrich Hofmann – bekannt als Till, die Symbolfigur des Mainzer Carneval Clubs (MCC) – ist ein Hybrid im Programm der Sitzung. Auch wenn er schwul ist, liefert er keinen „rosa Vortrag“, sondern das, was er für alle Sitzungen einstudiert hat. „In der Fastnacht herrscht insgesamt mehr Offenheit“, stellt der 60-Jährige fest, dem das aber noch nicht genug ist: „Ich erhebe den Anspruch auf volle Akzeptanz und nicht nur Toleranz.“
Hofmann verschont deshalb auch sein heterosexuelles Publikum nicht, selbst wenn der ein oder andere die Nase rümpft. 2014 zollte er in seinem Vortrag dem schwulen Fußball-Spieler Thomas Hitzelsberger nach seinem Coming-out Respekt: „Doch Liebe – will man’s auch zuweilen – lässt sich in gut und schlecht nicht teilen. Und jeder soll sein Leben leben. Die Welt ist bunt, so ist es eben. Und wir ham‘ alle unsren Sparren in diesem ‚Käfig voller Narren!‘“ Tosender Applaus folgte. „Das hat mich natürlich stolz gemacht.“
„Schwuchteln und Kampflesben“
Für mehr Toleranz in Schulen und anderen Einrichtungen sorgt die Mainzer Regionalgruppe von Schlau Rheinland-Pfalz, ein landesweites Ehrenamtsprojekt, das Bildungs- und Aufklärungsveranstaltungen anbietet: „Das Klima auf Schulhöfen ist deutlich besser geworden“, sagt Koordinator William Frye: „Wörter wie Schwuchtel und Kampflesbe fallen allerdings trotzdem noch.“ Die Angst vor Ausgrenzung gestalte das Coming-out für junge Menschen dann schwierig. Seit 2014 gibt es für Kita-Kinder einen eigenen Koffer. Darin befinden sich kindergerechte Medien, die Geschlechterrollen, Regenbogenfamilien und Akzeptanz von Vielfalt aufgreifen.
An der Entwicklung des Kita-Koffers war auch Natalia Matter (42) beteiligt. Sie und ihre Frau, Mareike Augustin-Matter (39), hatten erste Erfahrungen mit der Kita ihres Sohnes David gemacht. Der Siebenjährige hat sich früh entschieden, seine Haare wachsen zu lassen. Ab und zu trägt er Haarspangen oder roten Nagellack. „Einige Menschen können damit schlecht umgehen“, erzählt Natalia. Davids Eltern haben ihn jedoch immer darin bestärkt, sich auszuprobieren. Aber sie bereiteten ihn auch auf mögliche Anfeindungen vor. Natalia Matter hat beobachtet, dass viele Jungs in Davids Alter Glitzer mögen. Es seien aber die Eltern, die das nicht zulassen. Dieser Druck geht auch an David nicht spurlos vorbei: „Dass er oft für ein Mädchen gehalten wird, ist für ihn mehr Thema, als dass seine Eltern lesbisch sind.“
Das Thema, so sein zu wollen, wie andere Familien, ist dabei auch schon zur Sprache gekommen. Denn der Siebenjährige hat einen Vater, ein Verwandter seiner Mama Mareike. Der lebt in Schweden und hat eine eigene Familie mit drei Kindern. David sieht ihn selten, aber die Familien haben viel Kontakt übers Internet. Zur Welt brachte ihn Natalia. Und er hat auch noch eine Schwester, die dreijährige Celine. Sie kam sieben Tage nach ihrer Geburt in die Familie. Celine ist ein Pflegekind. Einmal im Monat bekommt sie Besuch von ihrer „Bauchmama“. Die Freunde von Celine und David nehmen die Besonderheit, dass die Kinder bei zwei Müttern aufwachsen, gelassen hin. „Klar wird mal geguckt: Wie leben andere?“, sagt Mareike Augustin-Matter. „Aber sie sind genauso neugierig, wenn sie sehen, dass wir auch Kaninchen haben.“
„Homophobie war nie ganz weg“
Ist Mainz also ein rosarotes Mekka für die Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen? Mareike Augustin-Matter stellt zumindest für die Neustadt fest: „Wir leben hier in einer Seifenblase.“ Eine Seifenblase die platzen könnte. In Wiesbaden protestiert man schon gegen die „Frühsexualisierung“ von Kindern. Das „Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt – gegen Diskriminierung und Ausgrenzung“ rief zur Gegenveranstaltung auf. Viele Menschen aus der Szene in Mainz waren gekommen.
Auch Frank Grandpierre stellt fest, dass das Erstarken der AfD als Bedrohung wahrgenommen wird. „Die Gefahr eines gesellschaftlichen Rückfalls ist groß“, befürchtet er. Günnie Toraman ist überzeugt: „Die Homophobie war nie ganz weg. Es gibt wieder konservative Gruppen, die das laut aussprechen und in der Bevölkerung Rückhalt bekommen.“ Die 32-Jährige kommt selbst aus einer traditionellen Familie. Ihre Eltern zogen in den 60er-Jahren von einem kleinen türkischen Dorf nach Mainz. „Ich habe Strukturen durchbrechen müssen, damit ich so leben kann, wie es mir gut tut.“ Kein einfacher Prozess und bis heute ist es für ihre Eltern nicht selbstverständlich, eine lesbische Tochter zu haben. Geschichten von Menschen, die Coming-out-Probleme haben, kennen alle. Also bedarf es weiterhin einer Szene mit Schutzräumen und einer Community, die Sichtbarkeit schafft.