Wenn immer öfter jemand erzählt, er habe jetzt auch einen und dann ein Buch darüber erscheint und Filme darüber gedreht werden (zuletzt: „Book Club“), könnte man auf die Idee kommen, Lesekreise seien gerade besonders im Trend. Kerstin Hämke, Begründerin von mein-literaturkreis. de und Autorin eines Handbuchs für Lesekreise, meint, dass dieser Eindruck trügt: „Wer gerne Fußball spielt, geht in einen Sportverein, wer ein Musikinstrument lernen möchte, in die Musikschule, und wer gerne liest, der hat einen Literaturkreis – das war immer schon so!“ Aber ist das Schöne am Lesen nicht das Alleinsein? Warum finden sich Menschen zusammen, um ein solches Hobby zu teilen?
Nie ohne Sekt und nie länger als zwei Stunden
Auch die beiden von uns besuchten Mainzer Lesekreise bestehen schon lange. In dem von Evamaria Berg initiierten privaten Kreis treffen sich acht bis zwölf Frauen seit fast acht Jahren etwa zehn Mal im Jahr. Zwei von ihnen kennen sich aus der Grundschule. Die meisten waren früher durch gemeinsame Kinder oder einen Italienischkurs nur lose bekannt. Auch ihre Berufsbranchen könnten unterschiedlicher nicht sein: Optikerin, Coach, Moderatorin oder Angestellte beim Statistischen Bundesamt. „Es ist primär das Buch, das uns zusammenbringt.“, sagt Evamaria Berg. Damit die Gespräche nicht zu sehr ins Private abschweifen sind die Treffen strikt auf den Zeitraum zwischen acht und zehn Uhr begrenzt. Über den für diesen Abend gelesenen Roman „Töchter“ von Lucy Fricke kommt die Diskussion schnell in Gang. Ob es ein witziges Buch sei, fragt jemand. Die junge Buchhändlerin, die heute zum ersten Mal dabei ist, liest eine kurze Passage und bringt alle zum Lachen. Länger wird darüber diskutiert, ob man das Thema des Buches – die Abwesenheit von Vätern im Leben ihrer Töchter – nicht ernsthafter hätte behandeln sollen. Hat die Autorin sich auf Kosten der Qualität für gute Verkaufszahlen entschieden? Sobald das Gespräch stockt, findet sich immer jemand, der eine provokante Frage stellt. Oder aber man lockert die Zunge mit einem Schluck Sekt, der bei keinem Lesekreis- Abend fehlen darf. Sich gegenseitig zum Lesen zu inspirieren und „Bildungsaufbau“ oder „kollektive Nachhilfe“ zu betreiben sei das eine – der Spaß an der Sache dürfe dabei nie zu kurz kommen. Auf ihren hohen Stapel gemeinsam gelesener Bücher sind die Frauen stolz. „Im Sommer lesen wir die dünnen leichten und im Winter die dicken schweren“, kommentiert eine Teilnehmerin. Rund 60 Bücher sind es mittlerweile, jedes in einer „Kampfabstimmung“ ausgewählt. Ziemlich gute gemeinsame Stunden.
Jeder liest anders
Den offenen Lesekreis in der Kinderbuchhandlung Nimmerland in Gonsenheim gibt es seit acht Jahren. „Wir wollten mit unseren erwachsenen Kunden ins Gespräch kommen“, erklärt Buchhändlerin Karin Wolfgang. Sie organisiert den Kreis zusammen mit ihrer Kollegin Anja Brauers. Interessante Neuerscheinungen oder internationale Literatur werden hier diskutiert, zum Beispiel von den Gastländern der Frankfurter Buchmesse. Manchmal wird auch jemand aus dem Herkunftsland des Autors eingeladen und erzählt über die Kultur. „Zum Beispiel als wir ein Buch des mongolischen Autors Galsan Tschinag besprochen haben. Unser Gast aus der Mongolei, der in Eltville lebt, hat uns das Buch dann zugänglich gemacht.“ Zuerst geben die Buchhändlerinnen eine kurze Einführung, diesmal zu Jane Gardams Roman „Weit weg von Verona“. Die Themen des Abends geben sie aber nicht vor, irgendwer beginnt einfach mit seinen Eindrücken. Ein Coming-of-Age-Roman sei das, ohne Frage gut geschrieben und vielleicht für Eltern geeignet, die mit den Problemen des Erwachsenwerdens konfrontiert sind. Dass manche den Roman „lieblich“ finden, können die anderen nicht fassen. Historischer Hintergrund der Handlung sei schließlich der Zweite Weltkrieg: „Wie kann ein Bombenabwurf lieblich sein?“, ruft eine Frau empört. Und dann will man wissen, ob die Männer der Runde den aus der Perspektive eines jungen Mädchens geschriebenen Roman anders gelesen hätten als die Frauen. „Unser Lesekreis lebt von den verschiedenen Stimmen. Jeder liest ein Buch anders“, erklärt Brauers. „Nicht alle mögen immer jedes Buch, aber trotzdem geht jeder bereichert nach Hause.“ Wer also offen für Neues ist, Freude hat an der Diskussion, am Fachsimpeln und Bewerten von Literatur, neugierig ist auf die Assoziationen der anderen, für den könnte ein Lesekreis zur Leidenschaft werden.
Mainz liest ein Buch?
In unseren Lesekreisen gibt es Teilnehmer, die sich nicht am Gespräch beteiligen. Vielleicht wollen sie ihre Meinungen nicht äußern. Leseeindrücke sind schließlich auch privat und intim. Manche Lesekreise bleiben lieber ganz unter sich und wünschen überhaupt keinen Besuch. Vielleicht fühlen sich die Stillen aber auch ohne eigene Beiträge sehr gut unterhalten. Kerstin Hämke macht darauf aufmerksam, dass auch Fernsehsendungen über Literatur wie „Das literarische Quartett“ oder „Literaturclub“ nicht ohne Grund sehr oft Literaturkreise seien. Offene Lesekreise in Mainz gibt es an der Volkshochschule, dem Haus Mainusch und in verschiedenen Gemeindezentren der Evangelischen Kirche. Wer selbst einen gründen möchte, kann sich von den Literaturkreisen des Monats auf www.mein-literaturkreis.de inspirieren lassen: Von Krimi- Liebhabern über Türkisch-Lernende und einen Graphic Novel Book Club bis hin zu Paar-Lesekreisen werden dort viele ungewöhnliche Formate vorgestellt. Auch online-Lesekreise ohne persönliche Treffen finden immer mehr Zuspruch, zum Beispiel die facebook-Gruppe „Der Leseclub“ mit über 2.500 Mitgliedern. Und wie wäre es mit einem stadtweiten Lesekreis? Alle Mainzer lesen das gleiche Buch und diskutieren am Marktstand oder der Bushaltestelle? 2018 hat es eine solche Initiative in Kooperation mit „Frankfurt liest ein Buch“ schon gegeben, bei der „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers im Mittelpunkt stand. Zu einer Lesung im Dom kamen fast 700 Menschen. Das aus den USA stammende Konzept (zuerst: „One Book, One Chicago“), das es in Kanada sogar landesweit gibt („Canada reads“), wird 2019 in Frankfurt mit dem neuen Roman von Martin Mosebach fortgesetzt, der das Frankfurter Westend zum Schauplatz hat. Und in Mainz? „Wir haben großes Interesse daran, so etwas wie ‚Mainz liest ein Buch‘ auch hier dauerhaft zu etablieren. Das würde der Gutenberg-Stadt sicherlich gut tun“, sagt Dietmar Gaumann vom Literaturbüro. Ob es dafür eine Finanzierung geben wird, ist momentan noch unklar. Wir hoffen das Beste.
Text Regina Roßbach Fotos Stephan Dinges