Wir gehen die Treppe der Kreativfabrik am Wiesbadener Schlachthof hinauf. Das dunkle Treppenhaus ist mit Generationen von Tags und Stickern überzogen. Der Raum oben ist dagegen ganz hell. Vier junge Leute heben ihre Blicke und schauen uns an: „Ihr seid früh!“. Streng genommen waren wir ziemlich pünktlich. Denn jeden zweiten Sonntag im Monat zelebrieren hier „Civitas Mattiacorum“ ab 14 Uhr ihren Spieletag. Was die spielen? Tabletop!
Schlacht um Germania
„Civitas Mattiacorum – Verein für Miniaturenspiele e.V.“ verfolgt den Zweck der „Förderung von Tabletop- Miniaturenspielen im Einzugsgebiet Mainz/Wiesbaden.“ Man will Raum schaffen und Gelegenheit für eine lebendige Gemeinschaft von Miniaturenspielern. Die historische „Civitas Mattiacorum“ war übrigens eine Verwaltungseinheit der römischen Provinz „Germania superior“: Hauptort der „Civitas“ war das heutige Wiesbaden. Doch der Verwaltungschef der Provinz saß in „Mogontiacum“, dem heutigen Mainz. „Wir haben in Mainz einfach keinen Raum bekommen“, sagt einer der Spieler, Jörn, Materialwart des Vereins. „Wir haben 15 Mitglieder. Der Altersdurchschnitt beträgt 30 Jahre. Es gibt auch Frauen und viele Leute aus Mainz sind dabei, die nach der Schließung vom Fantasyladen erstmal in der Luft hingen.“ Im Hintergrund verteilt jemand in aller Seelenruhe ein Arsenal aus Papp-Chips und -Karten, sowie eine Armada an bunten Würfeln herum um eine bunte, ein Quadratmeter große Neoprenmatte.
Liebevoll gestaltetes Gemetzel
„Was ist Tabletop?“ holt Jörn aus – oder: Was unterscheidet Tabletop vom Brettspiel? Im Tabletop gibt eskeine klassischen Felder. Außerdem sind die Spiel-Systeme komplexer. Die Entstehung liegt mit den ‚Kriegsspielen’ der Preußen über 100 Jahre zurück. Mit dem Fantasy-Boom der 1960er und -70er Jahre – Lord of the Rings und Dungeons & Dragons – entstanden allmählich Tabletop-Systeme in der heutigen Form: Umfangreiche Armeen werden aufgestellt und epische Schlachten simuliert. Entweder kämpfen 3 cm große Orks gegen Elfen, oder Römer gegen Kelten, je nachdem wofür man sich interessiert. Tatsächlich ist das Nachvollziehen historischer Schlachten sehr beliebt. Die Gefechte finden auf mitunter liebevoll gestalteten „Terrains“ statt: Landschaften aus Miniatur-Bäumchen und sanften mit Streu-Kunstgras bedeckten Hügeln oder eisige Wintergebiete. Ruinen erheben sich aus einer Schneedecke aus weißem Weihnachts- Filz. Ich fühle mich an meine Kindheit erinnert: Mein Papa war Besitzer einer Modelleisenbahn. Doch Jörn entgegnet schroff: „Naja, Eisenbahner sind schon sehr konservativ.“ Vorstandsmitglied Alex wendet dagegen diplomatisch ein: „Wir sind denen aber dankbar, weil sie schon vor Jahren einen Markt geschaffen haben!“
Modellbau-Hobby ist nun mal nicht Modellbau-Hobby, aber alle Seiten freuen sich, wenn sie an geeignetes Material kommen. Gerade die zu gestaltenden Anteile am Tabletop-Hobby haben es Vielen besonders angetan: „Es ist ein kreatives Hobby, viel Improvisieren und Gucken‚ ‚Was kann ich machen?’“. Im Hintergrund werden zwei Tische für das nächste Spielfeld geputzt. Auf dem ersten Tisch tauchen zahlreiche Figürchen auf. Der Besitzer hat sie selbst bemalt. Aber „Es wird irgendwann auch monoton 20 Mal die gleiche Figur zu bemalen“. Eine weitere Dimension des Hobbys sei der selbstauferlegte Geschichtsunterricht: „Nehmen wir mal an, Burgunder gefallen dir und du würdest gerne was mit Spätmittelalter machen, dann hängt das auch mit Recherche zusammen!“
Strategie und Taktik
Grundsätzlich braucht man zum Tabletop- Spielen Interesse: entweder am Basteln und Kolorieren oder an Geschichte(n), Strategie und Taktik. Tabletopper haben unterschiedliche Schwerpunkte, manche gehen so in der Bastelei auf, dass sie nicht mal mehr zum Spielen kommen. Wir bestaunen Abbildungen aufwändiger Modelle in einer Fachzeitschrift. Wer keine Lust oder Zeit zum Basteln hat, kann hier Figuren bestellen und anfertigen lassen. Eine ganze Armee kann dann schon einmal um die 3.000 Euro kosten. Mittlerweile sind drei unterschiedliche Spiele im Gang. Die Spieler haben mehrseitige Würfel, dicke Regelwerke und ein Maßband permanent im Anschlag. Auf einem Tisch erkenne ich bekannte Gestalten: „Darth Vader wirft jetzt mit seinem Lichtschwert“, sagt einer der Spieler während er mehrere Würfel in seiner Handfläche kreisen lässt. Ich bekomme nicht mit ob Darth Vaders Schwert trifft, weil am anderen Tisch Maß ein 15 cm großes Raumschiff auf transparentem Sockel anschwebt: „Kann der das?“ – „Klar, der hat Reichweite 8.“ Am dritten Tisch wird darüber debattiert, ob sich die Funktion einer Granate in diesem Spiel-System angemessen wiederfindet. Eine Heimat für Nerds.
Komplexe Material-Beschaffung
Zwei- bis dreimal pro Woche trifft sich „Civitas Mattiacorum“ und die Mitglieder tauschen sich aus. Oder es geht darum, Material zu beschaffen: „Der Zinnberg wächst“ lautet eine Redewendung der Szene. Irgendwo müssen die Sachen ja herkommen. „Man sieht den Flohmarkt oder die Natur mit ganz anderen Augen“, erklärt ein leidenschaftlicher Terrain- Former. Interessant gekrümmte Stöcke, Spielzeug-Ölfässer, Blechautos, so ziemlich alles kann man originell verwursten. Oft will man dann aber doch Vorgefertigtes in Anspruch nehmen. Ein fachkundiger (Einzel-) Händler ist wünschenswert. Schwerer ist es, bezahlbare Vereins-Räume zu finden, beinahe unmöglich, ein kleines Ladengeschäft in der Innenstadt aufrecht zu erhalten. Erstaunlich und erfreulich ist es da, dass der Orcish Outpost seinen Posten in der Zanggasse seit bald 20 Jahren erfolgreich verteidigt: „Wir sind der klassische Spieleladen für Tabletop, Trading Cards (Magic), Rollenspielbücher und was man sonst noch so alles für das Hobby benötigt. Ein Nischennischen- Laden“, so Martin, Chef vom „Orcish“. Grundsätzlich ist es möglich im Laden zu zocken, ob spaßeshalber oder im Turnier. Allerdings sei der Laden „meistens voll mit ‚Magic’-Spielern“, meint Alex von Civitas Mattiacorum. Zumal Tabletopper in der Regel nicht nur mit einer Schachtel Karten anreisen, sondern mit Koffern voller Miniaturen. Da ist die Organisation im nichtkommerziellen Verein durchaus sinnvoll: Hier gibt es einen Stahlschrank, in dem die „Terrains“ sicher aufbewahrt werden können.
Turniere und Arschige Kombos
„Du hast doch deinen Cheat-Würfel!“, tönt es von einem der Tische, an dem die Schlacht mittlerweile im vollen Gange ist. „Natürlich. Aus England.“ – „Stärke 6? Das denkst du dir doch aus!“. Obwohl parallel drei Konflikte simuliert werden, ist die Atmosphäre konzentriert, aber absolut friedlich. Einige Mitglieder spielen schon bis zu zwei Jahrzehnten und waren auf unterschiedlichen Conventions und Turnieren. Dort ginge es mitunter anders zu: Man treffe auf Gegner, die „Regel-Advokaten“ und Meister der „arschigen Kombos“ seien. Henni und Tobi, beide um die 30, zocken Warhammer. Der eine schon seit dem Alter von 13 und mittlerweile im Besitz maßgefertigter Koffer für seine professionell kolorierten Armeen. Mit denen fliegt am liebsten zu einem Turnier nach Gibraltar, weil dort „nicht so stramm“ gespielt würde und es einfach ein spaßiges Gesamt-Event sei. Er hebt sein Sweatshirt an und lässt mich lesen, was auf seinem weißen T-Shirt steht: „MAY THE HOBBY BE THE WINNER“.
Text Ulrike Melsbach Fotos Jonas Otte