Ein helles Wohnzimmer im Wiesbadener Komponistenviertel – weiße Wände, weiße Vorhänge und ein weißes Schleiflackregal. Grafik an der Wand, ein gepflegter Kamin. Unter den wenigen Büchern vor allem Reiseführer in die Metropolen der Welt. Und 25 IKEA-Klappstühle, natürlich auch weiß. Wir befinden uns in einem bürgerlichen Salon. Nachdem sich etwa 20 Personen im Vorgarten zu Mineralwasser und Erdbeeren begrüßt haben, lauscht man der Lesung von Romanautorin Sylvie Schenk. Nach dem Schlussapplaus gibt es Wein und selbstgebackene Quiche. Das ist Wiesbadener Salonkultur.
Wiederbelebte Tradition
„Salon“ klingt zwar ein bisschen altmodisch, leicht mondän, exklusiv bis elitär, aber: Man möchte dabei sein. Was seit dem 18. Jahrhundert vor allem ein Hobby hochgestellter Damen darstellte, wurde in den letzten Jahren als neue Form halb-privater, halb-öffentlicher Kulturveranstaltungen wieder neu entdeckt. Allein im Raum Mainz / Wiesbaden gibt es mindestens zehn Initiativen dieser Art, in den unterschiedlichsten Ausprägungen, vom Wohnzimmerkonzert bis zur Kunst- Performance. Gemeinsamkeit aller Salons: private Räume, begrenzter Besucherkreis, Darbietung von Kultur, Begegnung und Gespräch bei Getränken und Snacks.
Salon Kultur Mainz
Ein fast leerer Raum in der Mainzer Altstadt. Paletten mit Polstern dienen als Sitzgelegenheit, eine große Tischplatte liegt auf Holzböcken. Die hiesige Version eines „Grünen Salons“ in der Neutorstraße führen Manuela Pirozzi und Marco Jodes. Beide, tagsüber in der Jugend- und Bildungsarbeit tätig, haben ihren Arbeitsraum zum Salon erklärt. Bei zahlreichen Angeboten mit Workshop- Charakter muss man schnell umbauen können und auch die karge Leere auf sich wirken lassen. Wer kommt, der kommt: zu Kinder-Eltern-Nachmittagen, den „Open Diaries“, dem „Markt der vergessenen Dinge“ und auch mal zu Vorstellungen des Lyriklabors. Interaktion ist wichtig, und Offenheit. Das große Schaufenster des ehemaligen Ladens bietet Einblick und dient als Ankündigungstafel für kommende Projekte. Die Besucher stammen vor allem aus der Altstadt. Bei der Museumsnacht strömen dann auch mal einige Hundert durch Haus und Hof. Und warum „grün“? Weil hier alles offen ist und wachsen kann, schwärmt Manuela.
Netzwerke – lokal und bundesweit
Am anderen Ende der Salonkulturfinden sich die „Freunde junger Musiker e.V.“ Acht Regionalgruppen gibt es in der Republik, eine davon in Mainz / Wiesbaden. Für 150 Euro Jahresbeitrag werden etwa sechs Mal pro Jahr talentierte Jungmusiker zu Konzerten in Privatwohnungen der Mitglieder eingeladen. Häppchen, fachkundige Moderation und Gespräche mit den Künstlern sind inklusive. Für viele eine einzigartige Atmosphäre. Für manch einen Musiker durch Spenden und CD-Verkauf lukrativer als schlecht bezahlte Club-Konzerte. Ein anderes Netzwerk zwischen Hamburg und München nennt sich „Salonfestival“ und bietet das ganze Jahr über Musik, Tanz, Literatur und politisch / philosophische Vorträge – ebenfalls meist in Privaträumen, aber öffentlich zugänglich – für 24 Euro im Internet zu buchen. Daraus und aus Beiträgen der Gastgeber werden die Gagen der Auftretenden bezahlt, unter ihnen viele bekannte Namen. Geschäftsführerin Claudia Bousset soll schon über 350 Salons mit rund 15.000 Gästen zur Aufführung gebracht haben, berichtet das Manager-Magazin. Wiesbaden ist dabei, in Mainz sucht man noch Partner.
Ganz privat
Tickets für die Hälfte bekommt man in Gonsenheim, wenn man „hierundjetzt – den Raum für die Künste“ besuchen will. Bettina und Michael Kykebusch haben ihre Remise in der Grabenstraße zum Studio ausgebaut. Die Musikerin brauchte einen schallgedämpften Übungsraum. Hier Konzerte zu veranstalten lag nahe. In Zusammenarbeit mit dem Verein „Gonskultur“ gibt es den Jazzbrunch, aber auch viele andere Musikgattungen, von Singer-Songwritern bis zum indischen Trommelworkshop. Seit Michael in Altersteilzeit ist, haben die beiden auch mehr Zeit für die Organisation. Mit den Veranstaltungen machen sie sich selbst ein Geschenk, und sie laden nur ein, wen sie auch hören möchten. Bis zu vierzig Besucher finden Platz, und alle sind regelmäßig begeistert, viele wurden schon Stammkunden – was übrigens für alle Salons gilt: Die direkte Begegnung mit den Künstlern, die lockere Atmosphäre und das Gespräch untereinander sind das Attraktive, für die Besucher wie für die Auftretenden. Die These der Kykebuschs: Je kleiner der Ort, desto engagierter die Künstler. Wer einmal ein Konzert mit klassischer Gitarre in „F13“ am Fischtorplatz in der Mainzer Altstadt besucht hat, kann das bestätigen. Bei Wolfgang Weber und Mechthild Reinelt vermittelt ein holzgetäfeltes Zimmer nebst Terrasse und historischen Wandgemälden echte Salonatmosphäre. Ob Gitarre oder Klavier, Alphörner oder Zimmertheater: alles nur auf persönliche Einladung. Öffentlich geworben wird nicht. Aus den Spenden der Gäste zahlen die beiden den Musikern eine feste Gage. Und weil fast alle Veranstaltungen ausverkauft sind, stimmt die Kasse. Die Bewirtung, auch hier selbstverständlich, stiften die Gastgeber.
Experimentierfeld Neustadt
Was Gonsenheim und die Altstadt haben, schafft natürlich die Neustadt erst recht. Hier betreibt seit Kurzem Michaela Hoffmann Salonkultur, bewusst auf den Stadtteil bezogen. In ihrem Wohnzimmer, aber auch bei Bekannten und Menschen, die sich neu als Interessenten melden, finden Lesungen und Konzerte statt, gegen Spende im Hut. Regelmäßigkeit und Vielfältigkeit wird angestrebt. Die Neustadt bietet Raum für Experimente, und überall warten hier noch ehemalige Werkstätten, Schuppen und Remisen auf neue Nutzungen als Start-ups, Pop-ups oder was auch immer. Die Grenzen zum Salon sind fließend, denn fast alle sind kulturengagiert und profitieren von Netzwerken.
Leonard Stolz und Niklas von Klitzing sind die neuen Shooting Stars. In ihrem noch recht neuen „Loft Arts“ lassen sie Musiker, Schauspieler und Publizisten in einem schön restaurierten Hinterhofgebäude auftreten – für geladene Gäste. Als „Loft Arts“ wollen sie sich zukünftig weitere Locations erschließen und auch auf nationaler Ebene mit einem Online-Angebot etablieren, samt Videos ihrer Veranstaltungen. In Zeiten digitaler Vereinsamung und rückläufiger Kulturförderung holen sich Menschen Kultur und Intimität wieder ins eigene Haus. Was fehlt und in früheren Zeiten Hauptbestandteil der Salonkultur war, ist das konzentrierte Gespräch zu relevanten Themen. „Dicht muss es sein, das Gedicht“, rezitierte der Mainzer Lyriker Rüdiger Butter bei einer Wohnzimmer-Lesung kürzlich aus seinen Aphorismen. Das gilt auch für die Salons. Reibung erzeugt bekanntlich Wärme.
Text Minas Fotos Stephan Dinges