von Mara Braun
Fotos: Anna Thut
Wie behindertenfreundlich ist Mainz? Der letzte Teil unserer Reihe: Blinde. „Ich habe keine Bilder im Kopf, weil ich nicht weiß, was Bilder sind.“ Melanie Hambrecht zuckt mit den Schultern. „Ich meine, selbst wenn da Bilder sind, woran soll ich das erkennen? Wie soll ich wissen, ob es das ist, was Sehende meinen, wenn sie von Bildern sprechen?“ Es ist ein sonniger Tag. Wer das kleine Tor zum hinteren Garten der Maria- Ward-Schule öffnet, den trifft die vollkommene, kitschige Schönheit des Nachmittags: Die Blumen blühen, Vögel zwitschern launig, die Sonne scheint auf eine Nonne herab, die zwischen den Beeten kniet. Melanie hört die Vögel, die Sonne aber sieht sie nicht, denn die 30-Jährige ist von Geburt an blind. „Ich habe das nie als Einschränkung empfunden, weiß aber auch: Das habe ich meinen Eltern, speziell meiner Mutter zu verdanken.“ Der fällt auf, dass ihr Kind mit ein paar Monaten nach nichts greift, generell wenig reagiert. So wird die Blindheit entdeckt, deren Ursache wohl eine Infektion während der Schwangerschaft ist. „Meine Mutter ist da aktiv ran und hat dafür gesorgt, dass ich in einen normalen Kindergarten, eine normale Schule konnte, unterstützt von einer Integrationskraft.“ Im Gymnasium wird sie einmal wöchentlich von einem Blindenlehrer begleitet, der rät in der 7. Klasse zum Schulwechsel. „Sein Argument war, jetzt ist der Punkt erreicht, an dem die Bildung leidet, weil ich keine spezielle Schule besuche.“ Die Teenagerin wechselt auf die Deutsche Blindenstudienanstalt in Marburg und zieht ins dortige Internat. „Damals war das okay, für meine Eltern und für mich.“
„Der Nase nach zum Mägges“
Nach der Schule folgt die Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin. Für einen Job am Max-Planck-Institut zieht Melanie nach Mainz. „Ich hatte nie Angst davor, rauszugehen, wie ich es von anderen Blinden kenne.“ Wieder ein leichtes Achselzucken. „Die Leute sagen, man wird als Blinder ausgegrenzt, aber wer sich über die Blindheit definiert, grenzt sich selbst aus“, erklärt sie. „So bist du gar nicht“, bekräftigt Andreas Hanewald. Der 40-Jährige ist Melanies Lebensgefährte, die beiden haben sich im Job kennen gelernt. Wie macht man sich ein Bild vom Partner, wenn die Augen keine Informationen übermitteln? „Ich mache mir ein Bild davon, ob er lieb ist, ehrlich, zuverlässig. Der Rest ist mir egal. Und dass Blinde Menschen abtasten, um zu erfühlen, wie sie aussehen, ist eh ein Mythos“, sagt Melanie und lacht. Im Hintergrund ist währenddessen ein lautes, rasselndes Klappern zu hören. In der Turnhalle übt Reiner Hoster seinen Aufschlag beim Tisch- tennis. Die Platte, die unter seinen donnernden Schlägen erzittert, erinnert auf den ersten Blick eher an Billard oder Tischfußball. Aus hellem Holz extra für den „Reha und Gesundheitssport Mainz e.V.“ gefertigt, ist diese von einem etwa 20 Zentimeter hohen Rand umgeben. In der Mitte thront eine Bande, die der Ball nicht treffen darf: „Er muss drunter durch“, erklärt Melanie. „Sonst gibt es einen Strafpunkt.“ Seit 2012 gibt es den Verein mit derzeit zwölf Mitgliedern, jeden Samstag werden die Duelle an der Tischtennisplatte ausgetragen. Andreas ist der Schiedsrichter. Mit seiner Handpfeife gibt er das Signal zum Aufschlag und verkündet die aktuellen Spielstände. „Ein sehender Schiedsrichter ist Pflicht“, sagt Melanie. Auch beim Spiel sind Sehende erlaubt, jeder Spieler trägt ohnehin eine Augenmaske. „Es gibt ja Sehbehinderte mit Restsicht, das wäre unfair.“ Der Schläger ist nicht rund, sondern sieht aus wie ein kleines Paddel. Im Spiel darf nur eine Hand genutzt werden, geschützt durch einen Handschuh. „Der Ball ist ja sehr schnell, wenn man den abbekommt tut das sonst echt weh“, sagt Melanie, die mit Plateauturnschuhen an der Platte steht und lachend erklärt: „Ich bin so klein, dass ich sonst keine gute Höhe habe für das Spiel.“ Dessen Ziel ist es, Tore zu schießen: Auf jeder Seite der Platte kann der Ball, der bei jeder Bewegung rasselt, in der Platte versenkt werden. Melanie bewegt den Kopf mit dem Weg des Balles. Die Aufmerksamkeit, mit der sie das Spielgerät verfolgt ist so greifbar, fast scheint es, als würde sie die Ohren aufstellen wie ein Raubtier auf der Lauer. Das Sonnenlicht fällt durch die großen Fenster schräg in die Halle, in der es angenehm kühl ist. Reiner ist mit den Händen mehr in Bewegung, scheint das Spiel anders zu antizipieren. Vielleicht, weil er nicht von Geburt an blind ist, eine Erinnerung hat daran, wie die Welt aussieht – und sich deshalb weniger auf sein Gehör verlässt? „Was ich definitiv feststelle ist, dass Erblindete eine bessere Orientierung haben als ich“, kommentiert Melanie. Sie behilft sich mit dem Smartphone: „Das macht mich noch mal selbstständiger. Über bestimmte Apps kann ich mir alles ansagen lassen, die Bedienung ist total einfach und zum Navigieren in unbekannten Städten ist es nicht wegzudenken.“ Wieder lacht die junge Frau. „Früher musste ich der Nase nach zum nächsten Mägges, jetzt lasse ich mir ansagen, wo ein Bäcker ist.“
„Ich kann alles erreichen“
Die Orientierung in Mainz ist ihr anfangs schwer gefallen. „Mainz ist sehr verwinkelt, es gibt viele kleine Gassen. Wiesbaden oder Mannheim finde ich intuitiver, wenn es darum geht, wie eine Stadt gewachsen ist.“ Auf das Leitsystem verlässt sie sich vor allem an Haltestellen. „Da sind auch die Ansagen eine Erleichterung.“ An etwa 150 der rund 800 Mainzer Haltestellen leuchten heute die Tafeln mit Abfahrtsinformationen, gut 20 Prozent dieser 150 Stopps sind zudem mit einer Ansagetaste ausgerüstet. Wird sie gedrückt, verkündet eine Stimme, wann welcher Bus einfährt. Etwa 1/5 aller Stopps verfügen über ein Leitsystem, das am Boden Orientierung bietet. „Wenn Haltestellen neu oder umgebaut werden, ist Barrierefreiheit heute ohnehin Standard“, erklärt MVG-Pressesprecher Michael Theurer. Dazu haben auch die Quartalsgespräche zwischen Behindertenverbänden und Verwaltung beigetragen. „In Mainz herrscht bei dem Thema ein gutes Klima, wir reden häufig und offen miteinander und auch zwischen Terminen sind die Dienstwege kurz“, erzählt Sascha Müller, im Stadtplanungsamt zuständig für Verkehrsund Mobilitätsmanagement. Ein früher Erfolg in Sachen Leitsystem war die City-Meile, inzwischen ist sie veraltet. „Wir halten uns in der Ausführung heute an das, was bundesweit Standard ist, damit sich auch Besucher zurechtfinden.“ Müller beschreibt das Thema als eine Querschnittsaufgabe und erklärt: „Manchmal stehen verschiedene Interessen einander auch im Weg.“ Kompromisse müssen oft zwischen Barrierefreiheit und Denkmalschutz gefunden werden – oder innerhalb der Barrierefreiheit: „Für einen Gehbehinderten brauche ich an Haltestellen eine Absenkung, gleichzeitig muss ich das so umsetzen, dass mir ein Sehbehinderter nicht quasi in die Lücke stürzt“, verdeutlicht Müller. Vereint werden die Bedürfnisse in einer „getrennten Führung“, bei der für Blinde ein anderer Weg vorgegeben wird als für Rollstuhlfahrer. „Es ist wichtig, dass wir uns dem Thema Barrierefreiheit widmen, auch, aber nicht nur im Sinne der Inklusion“, erklärt Sascha Müller, denn: „Mit dem demografischen Wandel wird das ‚zu Fuß gehen’ immer mehr zum zentralen Verkehrsmittel.“ Also müssen Wege für die Fußgänger geschaffen werden. In der Halle der Maria-Ward-Schule derweil sind Barrieren samstags von 14 bis 18 Uhr kein Thema. Unter ohrenbetäubendem Lärm donnern sich Melanie und Reiner die Bälle auf der Platte entgegen, Letzterer ist spürbar gefrustet davon, auch im zweiten Satz sehr schnell sehr weit zurückzuliegen. „Vorteil Melanie“, verkündet Andreas, seine Freundin ballert ihrem Kontrahenten den nächsten Ball mit Schwung ins Tor und gewinnt abermals. „Ich wurde nie in dem Bewusstsein aufgezogen, etwas nicht zu können, nur weil ich blind bin“, erklärt sie. „Der Gedanke existiert bei mir gar nicht – und genau deswegen kann ich genau so gut oder schlecht alles erreichen wie jeder Sehende.“