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Ich sehe nicht, ich fühle! – Blinde Physiotherapeuten in Mainz

„Menschen, die ich nicht isoliere, brauche ich später nicht zu integrieren.“ Ein Motto, das grundlegend für die Ausbildungsarbeit des Berufsförderungswerks Mainz (BFW) ist. Doch das war nicht immer so. 1966 wurden die ersten blinden und sehbehinderten Masseure und medizinischen Bademeister gemeinsam im „Neubrunnenbad“ ausgebildet. Zuvor galt die strikte Trennung von Behinderten(schulen) und Nichtbehinderten. Die Stadt schaute dabei skeptisch auf eine der ersten inklusiven Schulen. Man fragte sich, ob man mit so einer Ausbildungsidee den Anforderungen von Behinderten überhaupt gerecht werden könne. 50 Jahre später hat sich vieles verändert – im Denken und im Arbeiten: „Die Behinderten lernen mit einer Selbstverständlichkeit, sich mit Nichtbehinderten auseinanderzusetzen und mit diesen zu messen“, sagt Nadja Ploghaus, Betriebsleiterin des BFW. Die Ausbildungsstätte sei dabei keine Schule „zweiter Klasse“, ergänzt Hajnalka Röttger, Ausbildungsleite rin für Physiotherapie und Massage. Hier werden alle zu vollwertigen und gleichberechtigten Physiotherapeuten und Masseuren ausgebildet. Ploghaus spricht sogar von einer „umgekehrten Inklusion“: ein Jahrgangsverhältnis von zwei Dritteln behinderter und einem Drittel Nichtbehinderter sei die Regel.

Bedürfnis nach Kontakt

Über die Hälfte der Azubis im BFW Mainz hat ein Handicap. Es ist eine Herausforderung sich dennoch auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Während ihrer Ausbildung wird deshalb auch besonderer Wert auf die Stärkung der Persönlichkeit gelegt. „Die Menschen lernen bei uns besondere Fähigkeiten zu entfalten und souverän einzusetzen“, sagt Hajnalka Röttger. Das BFW ist die einzige Ausbildungsstätte in der beruflichen Rehabilitation für Physiotherapie und Massage in Deutschland, die sinneseingeschränkte Menschen inklusiv ausbildet. Die Spezialisierung auf die Ausbildung Hörgeschädigter ist bundesweites Alleinstellungsmerkmal. Viele Azubis haben den Wunsch und das Bedürfnis nach Kontakt zu anderen Menschen und ein großes Interesse an einer praktischen Tätigkeit. Ploghaus sagt: „Es gibt wenige Berufe, in denen ein blinder oder sehbehinderter bzw. ein hörgeschädigter Mensch als vollwertiger Mitarbeiter eingesetzt werden kann. Hier geht das.“ Deshalb ist das Berufsbild des Physiotherapeuten oder Masseurs für diese Menschen unersetzbar. Zudem wäre es angesichts der Überalterung von Gesellschaften und einem Fachkräftemangel „ein großer Verlust, wenn Sehbehinderte oder Hörgeschädigte sich nicht für diese Berufe entscheiden dürften.“

„Ich will ganz normal wahrgenommen werden“

Sandra (34 Jahre) ist vollblind. Ihr Augenlicht verlor sie im November 2013. Sehbehindert war sie dagegen schon immer. Das Schlüsselereignis ihres Lebens brachte sie zur Physiotherapie. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits verheiratet und zweifache Mutter. Auf einmal war sie nicht mehr fähig, Tag und Nacht zu unterscheiden, die Umrisse ihrer Kinder zu sehen oder die mit schwarzem Edding geschriebene Nachricht ihres Mannes „Bin unterwegs, gleich wieder da“ zu lesen. Alltägliches galt es neu zu erfahren und zu erlernen. „Alles war plötzlich anders. Warum also nicht nochmal eine neue Ausbildung machen?“ Sandra brach ihre Ausbildung zur Informatikkauffrau ab und begann 2014 ihre Ausbildung beim BFW. In ihrer Ausbildungsklasse war sie die einzige Vollblinde neben sechs Sehbehinderten. Wenn Dozenten an die Tafel schrieben, war sie die Erste, die ihre Stimme erhob und sagte, dass sie das Geschriebene nicht lesen kann. „Ich bin denen ordentlich auf die Nerven gegangen.“ Die Reaktionen waren unterschiedlich, von höflich entschuldigend bis zu irritiert verständnislos. Wenn heute ein Patient in ihrer Praxis nach „der Blinden“ fragt, kränkt sie das. „Ich bin niemand, der sich gern auf die Behinderung reduzieren lässt. Ich will ganz normal wahrgenommen werden.“ Dennoch bemüht sie sich, die Atmosphäre zu entspannen und Momente der Begegnung auf Augenhöhe zu schaffen. „Lassen Sie sich drauf ein!“ ist ihr erster Rat. Denn viele Erwachsene haben Angst vor Blinden. Auch deswegen geht Sandra in Schulklassen und erzählt dort über ihre Blindheit. Ein gesellschaftlicher Lehrauftrag, den sie sich selbst gesetzt hat. Als Blinder hat man kein Bild von seinem Gegenüber: „Ich behandle daher alle gleich“. Während ihrer Jobsuche hat sie wertfreie Urteile selten erlebt. „In der Ausbildung wurden wir nicht darauf vorbereitet, dass es so schwer ist, eine Anstellung zu finden.“ Knapp 50 Bewerbungen verschickte sie im Mainzer Raum. Vier Bewerbungsgespräche kamen herum. Angestellt hat sie niemand. Bei einem der Gespräche meinte der Praxisleiter, dass er ja dann noch einen weiteren Physiotherapeuten einstellen müsse, der sie am Händchen halte. Erst ein Anruf bei der Praxis Khrot am Schillerplatz war erfolgreich.

„Wie rein bist du mit dir selbst?“

Auch Lena (25 Jahre) ist blind bzw. hat nur noch eine Sehstärke von 5 Prozent. Als Kind lag diese noch bei 20 Prozent. Ihre abnehmende Sehfähigkeit begleitete eine ansteigende Verunsicherung: „Ich traute mich gar nichts mehr.“ Erst die Ausbildung hat ihr wieder Kraft und Mut gegeben. Ein „Ego-Push“ für den ansonsten schweren Alltag. Lenas Freund Tyrone hat seine Ausbildung auch in Mainz absolviert. Die beiden sind seit drei Jahren ein Paar und arbeiten gemeinsam in der Physiopraxis „Optimed“ in Nieder-Olm. Vor seiner Ausbildung hatte Tyrone kaum Kontakt zu Behinderten. Er musste erst lernen, mit ihnen umzugehen. Dabei war er über so manches Schicksal geschockt: „Die inklusive Ausbildung bringt einem was fürs ganze Leben“, sagt er. Die Fähigkeit zur Empathie werde enorm gestärkt. Lena trägt das Blindenabzeichen auf ihrem Pullover. Drei schwarze Punkte auf gelbem Grund. Manch einer hält es für ein Anti-Atom-Logo. Wenn sie ihren Patienten sagt, dass sie sehbehindert ist, hört sie oft: „Das sieht man Ihnen aber gar nicht an!“ Obwohl sie das nicht mehr hören kann, lacht sie trotzdem und nickt: „Wer weiß, wie ich wäre, wenn ich sehen könnte…“ Lena erinnert sich gern an die schönen Momente ihrer Ausbildung. Heute zieht sie Kraft aus ihrer Arbeit und der Bewunderung, die sie dafür erfährt: „Wie rein bist du mit dir selbst? Darum geht es im Leben.“

Text Victoria Kühne Fotos Katharina Dubno, Stephan Dinges