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sensor-Marktspaziergang mit der neuen Mainzer Stadtschreiberin Anna Katharina Hahn

Den Blick aus ihrem temporären Domizil im Haus zum Römischen Kaiser direkt am Markt hinunter auf das bunte Treiben genießt sie seit März. Auch hat sie den Wechsel der Jahreszeiten beobachtet und kauft gern ein. Heute sind es Rosen, Erdbeeren und Salat. Zum Kochen kam sie bisher noch nicht, denn sie schaffte es nur tageweise nach Mainz. In Stuttgart brauchen zwei halbwüchsige Söhne vor Schuljahresende ihre Präsenz. Ehemann Jan Bürger ist mit seinem Job am Deutschen Literaturarchiv in Marbach schwer beschäftigt. Und auch der Lesekalender der Autorin ist mit Auftritten und Reisen gut gefüllt.

Gut im Beobachten

Bei den Stippvisiten in ihrer neuen Gaststadt nutzt Anna Katharina Hahn (47 Jahre) jede freie Minute für Erkundungen, am liebsten zu Fuß. So war sie schon in vielen Stadtteilen, in fast allen Museen, hat auf den Spuren der Autorin und Stadtführerin Marlene Hübel die Mainzer Hausmadonnen aufgesucht und sie bereits journalistisch verarbeitet. Mit Augen und Ohren nimmt Anna Katharina Hahn neugierig auf, was um sie herum geschieht. Notiert wird ständig. Und dass sie eine gute Beobachterin ist, merkt man ihren bisherigen Büchern an, ob sie nun in Berlin, Hamburg, Stuttgart oder Madrid spielen. Die Stadtschreiberin liebt den Rhein und die Weinberge ringsum, will aber auch alles wissen, was die Mainzer bewegt. Über das „Problem AKK“ ist sie schon informiert, und der Kampf um den Bibelturm wurde auch hautnah verfolgt. In der Bibliothek ihrer Gastwohnung – besser gesagt: den gestapelten Hinterlassenschaften ihrer Vorgänger – hat sie Schramms „Mainzer Wörterbuch“ entdeckt und gleich mit nach Hause genommen. Denn die Alltagssprache sagt viel über die Menschen aus, für Anna Katharina Hahn also wichtiges Material. Schon immer hat sie erstaunlich gut den Ton ihrer Figuren getroffen. Das kann ein Berliner Macho sein, eine Altengang, die Medikamente stiehlt, oder eine junge Spanierin der No Future Generation. Gern schlüpft die Autorin literarisch in Rollen. In „Das Kleid meiner Mutter“, ihrem letzten Roman, wird das zum Thema und geht fast bis zur Spaltung der Persönlichkeit.

Beeindruckt von der Offenheit

Ob sich das Meenzerische Denken und Reden auch einmal gedruckt bei ihr niederschlagen werden? Wer weiß. Umso schöner, dass sich spontan ein kundiger Einheimischer beteiligt, als ich Anna Katharina nach Erledigung der Einkäufe die Heunensäule am Marktplatz erkläre. Der mit Einkaufstüten beladene Mittfünfziger ist ein idealer Vertreter der Mainzer Lebensart. Er kennt alle Details und babbelt munter drauflos. Der ehemalige Bürgermeister Jockel Fuchs als Bronze wird zum Thema, und sein sandsteinernes Konterfei an der Fassade der Markthäuser auch noch gezeigt. Dass die Mainzer locker, humorvoll und lebenslustig sind, hat die neue Stadtschreiberin gleich bemerkt. Im Gegensatz zu ihrer protestantisch geprägten Heimatstadt Stuttgart, wo alles wie am Schnürchen klappen muss, wie sie sagt, herrsche hier eine Atmosphäre des Laissez-faire und eine größere Offenheit.

Schwaben, Hamburg, Amerika

Die zweite Heimat der Schwäbin ist jedoch Hamburg. Dorthin zog es sie zum Studium, und sie blieb sechs Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bibel-Archiv. An der Elbe fühlt sie sich heute noch wohl. Mainz hat also harte Konkurrenz im Wettbewerb um die Lieblingsstadt. „Hi, how are you?“ – muss dann noch als Stichwort im persönlichen Wörterbuch erwähnt werden. Letzten Herbst war Anna Katharina Hahn in den USA, mit einem Lehrauftrag. Vor lauter Englisch konnte sie dort nicht mal mehr richtig Deutsch schreiben. Das passiert ihr in Mainz hoffentlich nicht. Ihr neuer Roman, der in diesem Jahr fertig werden soll, spielt jedoch noch in den Staaten. Aber der geplante Dokumentarfilm für das ZDF, traditionell in der Auszeichnung „Mainzer Stadtschreiber“ enthalten, soll sich um nichts Geringeres als die Mainzer Tauben drehen.

Text Minas Fotos Stephan Dinges