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DIY: Mach’s dir selbst – über die Wiederentdeckung des Handgemachten

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von Ann-Christin Eikenbusch und Sarah Becker Fotos: Jana Kay

DIY – do it yourself: Selbermachen hat wieder Hochkonjunktur, das beweisen zahlreiche Nähcafés und DIY-Blogs, die Omnipräsenz von Stricknadeln und Wollknäueln und der Erfolg von Online- Plattformen wie „DaWanda“. Doch was ist das überhaupt für eine Bewegung? Was macht sie aus, wo kommt sie her, wo führt sie hin? Wir haben ein paar Selbermachern über die Schulter geschaut und uns mit dieser speziellen Kultur beschäftigt. Heraus kamen erstaunliche Aspekte.

Frei sein
Mirko trägt sein sämtliches Hab & Gut in einem alten Pfadfinderrucksack mit sich. „Schenk‘ ich dir, wenn du es haben magst!“, sagt er. „Ich mach‘ mich jetzt frei von allem, was ich besitze. Ich laufe los, soweit mich meine Füße tragen, im Gepäck nur die Dinge, die ich wirklich brauche.“ So lief er bis nach Spanien. Unweit von Valencia lebte er einige Jahre in einer Berghöhle, von all den Dingen, die ihm die Natur zur Verfügung stellte. Jetzt ist er Bauherr. Ein eigenes Haus in den spanischen Pyrenäen nennt er nun sein Eigen – Stein für Stein selbst gemacht, immer nur so viel wie möglich und so viel wie nötig. Frei sein. Grenzen austesten. Einfach mal sehen, wie weit man kommt. Kann ich überleben? Kann ich mich (im Notfall) selbst versorgen? Gibt es eine Möglichkeit zu existieren, fernab von Sozialversicherungssystemen, Reihenhaussiedlung und Discounter um die Ecke? Nicht ganz so weit und dennoch ungewöhnlich entschied sich Brina Ullrich für ihre Form des „Aussteigens“: Sie kaufte sich einen alten Getränkelaster, baute ihn wohntauglich um und schaffte sich ihr eigenes kleines und überschaubares Reich (wir berichteten im sensor Januar 2013). Einem Schneckenhaus gleich, das man immer mit sich trägt, konnte sie ihre Wohnung so an beliebige Orte transportieren. Auch sie trieb der Wille, lastenfrei zu sein, nur das Nötigste mit sich zu führen. „Weniger besitzen, das heißt: weniger verwalten, weniger bedienen, bezahlen und pflegen zu müssen.“ DIY, das ist auch Autarkie, Reduziertheit, Selbstbestimmung? In „do it yourself“ steckt „do it“, „mach’ es“ – und damit auch eine Unmittelbarkeit, die Dinge umgehend selbst in die Hand zu nehmen. Man bleibt handlungsfähig, flexibel, wendig – selbst wenn sich das lediglich in den kleinen handwerklichen Dingen, die das Leben schöner machen, widerspiegelt.

Kostbares Wissen
An der großen hölzernen Tafel ist schon alles vorbereitet: Wo sonst Zuckerdöschen und Kaffeetasse das Erscheinungsbild zieren, stehen heute Nähmaschine und Stricknadeln, liegen mehrere Lagen Stoff und einige Knäuel Wolle. Am Kopf des Tisches stimmt ein großer Adventskranz in die nahende Weihnachtszeit ein, natürlich selbst gemacht, unkonventionell und besonders, entstanden in einem der vielen Workshops, die Nina Wansart und Alexandra Döring in ihrem Cafè „Wildes Leben“ in der Neustadt anbieten. Heute stehen die Geschenke für die Liebsten auf dem Programm – ein gestricktes Stirnband oder eine selbst genähte Handtasche gibt es zur Auswahl. „Wie war das jetzt noch mal?“, fragt Laura leicht verschämt. „Meine Mutter hat mir das Stricken zwar beigebracht. Aber ich habe so vieles schon wieder vergessen…“ Von Handarbeitsunterricht hat das Ganze kein bisschen, viel mehr ist es ein freundschaftliches Miteinander. „Soll ich mal die erste Reihe für dich stricken und dann übernimmst du? So ist es am Anfang vielleicht einfacher für dich.“ Während der Betrieb normal weiter läuft, erklärt Alex die ersten Schritte. „Das sind so alte Handarbeitstechniken, die früher ziemlich verstaubt und spießig waren und jetzt wieder aufleben“, meint Alex, „so ein kostbares Wissen sollte man weiter tragen und möglichst viele Menschen erreichen – das ist unser Ziel.“ Alex und Nina haben sich ihr Wissen hauptsächlich selbst angeeignet, doch die Basics stammen – na klar – von der Großmutter. „Ich habe einfach nach dem Prinzip ‚Trial & Error’ losgelegt und wenn ich nicht weiter wusste, hab’ ich die Oma angerufen, die weiß natürlich alles!“, scherzt Nina und schaut immer mal wieder zu Tatjana, die sich als zukünftige Hobbyschneiderin an ihrer ersten eigenen Handtasche versucht. Konzentriert, fast angespannt sitzt sie an der Nähmaschine und folgt den automatischen Stichen der Nadel. Es scheint zu funktionieren, die Nähte folgen einer geraden Linie, die Anspannung löst sich – ein Lächeln. DIY, das ist also auch Herausforderung, Eigeninitiative und Anstrengung.

Nachhaltig
„Upcyclen“ bedeutet alte, scheinbar nutzlose Dinge wiederzuverwerten und aufzuarbeiten. Brina Ullrich ist so jemand, der die Straßen nach Möbeln durchsucht, nach Gegenständen, für die andere keine Verwendung mehr gefunden haben. „Ich liebe Müll! Ich kann einfach nie daran vorbeigehen!“, schwärmt sie. Zusammen mit ihrem Partner Alex Mertens bereitet sie diesen auf und zweckentfremdet ihn. Das alles für den kleinen Geldbeutel, denn: „Müll, den ich wieder hergerichtet habe, will ich nicht für teures Geld weiterverkaufen. Der Student, der sich individuell seine Wohnung einrichten möchte, soll sich meine Möbel auch leisten können.“ Ein sozialer Gedanke, doch Brina verdient ihre Brötchen, so viel sei hier verraten, jedoch nicht vom Basteln allein. „Ich möchte den Leuten die Alternative zum Pressspan aus den großen Möbelhäusern bieten. Und sie sollen Spaß an den Sachen haben – so, wie ich auch Spaß an der Herstellung der Dinge hatte.“ Die meisten Möbelstücke, die bei „Ullens Möbel“ zum Verkauf angeboten werden, sind reine Improvisationen, ohne Anleitung und Plan. Sie lässt sich von den Fundstücken inspirieren, um aus ihnen Diamanten zu zaubern. „Die meisten Leute sind einfach zu faul, um selbst Hand anzulegen. Das ist natürlich gut für mein Geschäft“, gibt sie zu, „doch alle reden immer von Nachhaltigkeit, essen ihr Bio-Müsli und kaufen ihr regionales Gemüse. Und gleichzeitig schmeißen sie ihren ganzen Kram haufenweise in den Müll. Das ist doch unlogisch!“ DIY, das ist also auch das Bewusstsein für die Schönheit scheinbarer Unbedeutsamkeit, das ist Nachhaltigkeit und Improvisation.

Digital
Holger Glockner ist Zukunftsberater: „Die Sorge um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen führt zur Erprobung neuer Verhaltensweisen. Daher sind gerade an der Schnittstelle von DIY und Ökologie viele innovative Ansätze zu finden“, erklärt der 41-Jährige. Vor allem das Internet beschleunige das Selbermachen 2.0: Über YouTube-Tutorials lernt man Stricken, Blogger nutzen Fotostrecken zur Illustration ihrer Fortschritte, die Inspirationsquellen wachsen. „Das Internet ist die Befähigungsmaschine als Distributionsmotor dieses Wissens“, erläutert Glockner. „Seit vielen Jahren gibt es im Softwarebereich den Open-Source-Ansatz. Mit der Durchdringung unseres Lebens durch das Internet gab es eine starke Umwälzung des Lebens, nicht nur im Mediensektor.“ Und auch Nina Wansart sieht das Internet als wichtigen Faktor für die Popularität des DIYPhänomens: „Man hat da seine Lieblingsblogs und –Videokanäle und kann seine Leidenschaft mit anderen teilen, sich Inspiration holen oder bei Problemen nach Lösungen suchen.“ Der Grund für das Zur-Schau- Stellen ist jedoch vor allem auch eins: Die Suche nach Anerkennung. Bewerten und bewertet werden, ein Prinzip, das draußen in der „echten“ Welt fester Bestandteil des Lebens ist – und im Internet scheinbar konsequent fortgeführt wird. Das einfache Dokumentieren des aktuellen Outfits auf dem Blog ist das eine, besonderer wird es, wenn neben dem T-Shirt oder der Mütze anstelle eines angesagten Labels ein „selbst gemacht“ prangt. Das beweist das eigene Können, die Lernfähigkeit und das Durchhaltevermögen, etwas Eigenes geschaffen zu haben – und es zeigt zugleich: Dieses Teil ist einzigartig, es gehört nur mir, kein anderer kann es (in dieser Form) je besitzen. Die Online-Plattform „DaWanda“ ist ein 2006 gestarteter Marktplatz für Selbstgemachtes und Unikate. „Die Einzigartige“, so lässt sich das Label aus dem Afrikanischen übersetzen, „Products with Love“, lautet der Untertitel und weist auf die emotionale Komponente hin. Rund 4 Millionen Unikate werden hier von 230.000 Mitgliedern gefertigt, jeden Tag kommen 10.000 neue Artikel hinzu.

Kulturell
Was in den Fünfzigern noch „Selbst ist der Mann“ hieß, ist heute – nicht nur der political correctness wegen – zum „Selbst ist der Mensch“ geworden. Und das, was damals noch mit einem Mangel an Facharbeitern zusammenhing, ist heute der Wunsch nach Individualität und Selbstbestimmung. Auch Holger Glockner sieht einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung einer Massenkultur und dem darin wiederum abgrenzenden Drang nach Einzigartigkeit: „Das Phänomen ist mit Industrialisierung und Massenkonsum bemerkenswert geworden. Vorher war nahezu alles DIY. Dann haben Hippies und Punks dieses Konzept vor allem zur unabhängigen Kulturproduktion genutzt.“ Doch DIY meint längst nicht mehr das reine Handwerken und Handarbeiten. Es bestimmt nahezu alle Bereiche des Lebens: Ganz selbstverständlich scannen wir unsere Einkäufe in großen Warenhäusern selbst ein, befragen das Internet nach Krankheitsbildern, bevor wir einen Arzt an unseren Körper lassen oder nehmen dem gelernten Bankangestellten per Online-Banking die Möglichkeit für Beratung und „unschlagbare“ Angebote. „Es geht um kulturelle Techniken, die dazu führen, bestehende gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Strukturen aus unterschiedlichen Motivationslagen, z. B. Autonomie, Gemeinschaftserlebnisse, Kompetenzerwerb oder Werteorientierung durch eigenständiges Handeln zu transformieren“, so die These des Zukunftsforschers Glockner. Was ist das dann für eine Bewegung, die zur einer Zeit Hochkonjunktur erfährt, in der der Status einer Gesellschaft sich über ihre Kaufkraft und ihr Bruttoinlandsprodukt definiert? „DaWanda“ ge hört zu den beliebtesten Handelsunternehmen in Deutschland und ist auch einer der größten Partner der Designmesse „Stijl“, die gerade zum 10. Mal (8. und 9. Februar, Altes Postlager am Mainzer Hauptbahnhof) stattfindet. Hier bieten zahlreiche Händler neben Design- und Streetwearartikeln allerhand Selbstgemachtes an, vom Schmuckstück über das Shirt mit selbst entworfenem Grafikprint bis hin zu Möbeln und Wohnaccessoires. „Bei uns werden Dinge angeboten, die man sonst nicht an jeder Straßenecke finden kann“, sagt Bastian Steineck, Mitorganisator des 2009 gegründeten Events. „Das wird gerade von den Mainzern super angenommen, die Leute hier sind da einfach ein paar Jahre weiter als in anderen Städten.“ Doch kann ein Mensch auch wirklich davon leben, Dinge für andere Menschen zu kreieren und produzieren? Gerade mal eine Handvoll Aussteller kann das „Stijl“-Team nennen, die sich bis heute in der Branche gehalten haben, denn viele sind kurz nach der Messe schnell wieder von der Bildfläche verschwunden. „Teilweise checkt man dann die Internetseiten und stellt fest, dass die Marke gar nicht mehr existiert“, bedauert Bastian. Ihm liegt viel an der Rentabilität einer DIY-Idee. „Wenn ich schon im Voraus denke, das Produkt wird sich schlecht verkaufen, nehme ich den Aussteller erst gar nicht mit ins Programm.“ Ist eine Marke nach der Messe schließlich deutschlandweit bekannt, dann freue man sich umso mehr über den Erfolg.

Kollektiv
Ist DIY selbst auch ein so kurzlebiges Geschäft, in dem nur der Stärkste – oder besser: der Innovativste – überleben kann? Gerade in der Ernährungs- und Gesundheitsbranche sieht Holger Glockner großes Potenzial. „Der Produktionssektor könnte sich tiefgreifend verändern, wenn man an 3D-Drucker oder das Prinzip des Upcycling denkt. So sehen wir zukünftig eventuell vermehrt kollaborative Konsumformen in regionalisierten Wirtschaftsstrukturen.“ Denn auch DIY muss als ein arbeitsteiliges, nicht immer vollkommen autonomes Phänomen verstanden werden: „DIY findet meist nur auf einer Prozessstufe statt. Zum Stricken benötigt man zum Beispiel Nadeln und Wolle, die meist nicht selbst hergestellt werden.“ Die Zusammenarbeit, der Gemeinschaftssinn, das Kollaborieren verschiedenster Sektoren sind also wichtige Kriterien, die zum Erfolg dieser Konzepte beitragen. Aus DIY ist längst DIO – „do it ourselves“ – geworden. Selbermachen findet nicht mehr im stillen Kämmerlein zu Hause statt, sondern wird zusammen mit anderen in die Welt getragen. „Die aktuelle Tendenz geht vom ‚Ich’ zum ‚Wir’. Zunehmend gibt es frei gewählte, temporäre Gemeinschaftsformen mit losen Bindungen in allen Facetten und Lebensbereichen“, erklärt Glockner weiter. Auch Workshop-Teilnehmerin Laura sieht in dem Kurs- Angebot des „Wilden Lebens“ die ideale Verbindung zwischen Ansporn und geselliger Atmosphäre: „Für mich alleine zu Hause verliere ich schnell wieder die Lust und das Durchhaltevermögen. Zusammen macht es doch direkt viel mehr Spaß und geht auch leichter von der Hand!“

Herausfordernd
„Abwarten… meinst du, das bringt’s? Man muss sich auch mal was trauen! Und wenn’s nicht klappt, dann lässt man es eben wieder!“, entgegnete Mirko auf den Kommentar (oder besser: die Ausflucht), man könne sich ja immer noch für dieses „andere“, unabhängige Leben entscheiden. Wird DIY dann nicht auch stellenweise zur ultimativen Selbstverwirklichung oder gar zur Zumutung bis hin zur Belastung? Zum Zwang, erst einmal einzigartig, besonders, innovativ zu werden und es dann auch zu bleiben? Auch Brina ist zurück in die Zivilisation gekehrt und lebt nun wieder in einer kleinen Wohnung, deren Mobiliar zumindest noch aus alten Bauwagenzeiten stammt. „Ich konnte nachts einfach nicht alleine in dem Ding schlafen.“ Denn das gehört auch zu DIY: Das Eingestehen, das Erkennen und doch damit Zufriedensein, dass es nicht so geklappt hat, wie man es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Aber: Man hat’s gemacht. Die amerikanische DIY-Plattform „diy.org“, die sich eigens auf Ideen für Kinder spezialisiert hat, wirbt mit dem Slogan: „Get skills. Be awesome!“ Wir legen dann mal los… Und ihr?

DIY in und aus Mainz
Annabatterie Gartenfeldplatz 2
Asphaltinstrumente Neubrunnenstr. 10
Fuchs&Bente Gaustr. 34
Kinderkram am Lönneberga Gaustr. 67
Nähatelier „Zur Anprobe“ Kaiser-Wilhelm-Ring 71
Stijl DesignMesse 8. und 9. Februar Altes Postlager am Hbf
Wildes Leben Wallaustraße 31

Internet: ailike.de, ilovemixtapes.de, selekkt.com, Ullens Möbel bei Facebook (ullensmoebel) oder auf Da-Wanda.com (UllensMoebel) Gipsy Green Jewelry bei Facebook (gipsygreenjewelry) oder auf Etsy.com (gipsygreen)