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Das nächste große Ding – Ausflug in die Mainzer Kryptoszene

Die Reise startet im M1 Quartier am Hauptbahnhof, sozusagen dem Google Campus der Mainzer Gründerszene. In hellen Coworking Spaces werden zwischen Urban Gardening, Permakulturen und anderen hippen Projekten regelmäßig Networking- und Vortragstreffen abgehalten. Unterschiedlichste Menschen vernetzen sich hier. Wir sind zum Krypto-Meetup von Tri Nhan Vu eingeladen. Der gebürtige Vietnamese begrüßt uns im „Open Kitchen“. Es wird sich geduzt – also einfach nur Nhan. Nhan ist Mitte 30 und kommt aus der Start-up-Szene. Er arbeitete unter anderem als Mediendesigner, bei diversen Online- Projekten, war später vier Jahre unterwegs in Vietnam und ist der Mann für alles, ein Generalist, ein Digitalnomade. Die Meetings der Mainzer Krypto-Community organisiert er zusammen mit Felix Green, dem man den BWL-Abschluss an der Nase ansieht. Als Blockchain-Consultant hat er ein Gewerbe angemeldet und befasst sich gerade mit seinen neuesten Deals. Noch alles recht frisch und der Kunde ist dann doch noch nicht ganz überzeugt, die Geldmittel noch nicht freigegeben. Egal. „Kein Stress“ ist Felix‘ Lieblingssatz. Enthusiastisch und beredt erklärt er: „Wenn man nur an die ganzen Projekte denkt, die jetzt alle möglich werden, sei es im sozialen Bereich, bei Browsern, beim Fundraising …“ Oder vor allem bei Transaktionen, dieses Wort wird noch am häufigsten fallen während unserer Gespräche. Und in einem sind sich alle einig: Das hier ist die Zukunft – oder zumindest eine Vorstufe davon.

Beim Meeting an sich treffen Neulinge und Profis aufeinander, um die neuesten Entwicklungen der Blockchain- Welt zu besprechen – der Technologie, auf der alles basiert. Eine Blockchain (Block-Kette) ist eine erweiterbare Liste von Datensätzen, genannt „Blöcke“, welche mittels kryptographischer Verfahren miteinander verkettet sind. Jeder Block enthält einen kryptographisch sicheren Hash (Streuwert) des vorhergehenden Blocks, einen Zeitstempel und Transaktionsdaten. Der Begriff wird allgemeiner für ein Konzept genutzt, mit dem ein Buchführungssystem dezentral geführt werden kann und dennoch ein Konsens über den richtigen Zustand der Buchführung erzielt wird. Damit wird es unmöglich gemacht, Existenz oder Inhalt der früheren Transaktionen zu manipulieren oder zu tilgen. Alles klar?

Das Konzept der Blockchain wurde erstmals 2008 von einem User namens Satoshi Nakamoto beschrieben. Im Jahr darauf veröffentlichte er die erste Implementierung der Bitcoin- Software und startete dadurch die erste öffentlich verteilte Blockchain. Die älteste noch in Betrieb befindliche Blockchain ist daher der Bitcoin. Mittlerweile gibt es unzählige weitere „Währungen“. Englische Vokabeln und Akronyme wie ICO, Distributed Ledger und Smart Wallet sprudeln sowieso aus allen Fans und Akteuren der Krypto- Szene. Auch aus Nhan und Felix während ihres Vortrags. Wer hier nicht mindestens ein paar „Basics“ mitbringt, hat schnell den Faden verloren. Eine beinahe eingefleischte Szene. Doch wer sich erst in die Thematik eingearbeitet hat, wird schnell süchtig.

Gesellschaftlicher Faktor

Der Suchtfaktor hat auch Maximilian Hein gepackt. Der 26-Jährige hat seinen Business-Master an der privaten European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel gemacht und ist seit einem knappen halben Jahr Community-Manager in einem Blockchain-Projekt. „Eine große Affinität zu Technikthemen hatte ich eigentlich nie“, gesteht er. Seine Masterarbeit hat er über soziales Unternehmertum in Entwicklungsländern geschrieben, ein Thema, das er gerne weiterverfolgen wollte. Bei einem Networking-Treffen lernt er Onik Mia kennen. Dessen Frankfurter Firma „MulTra GmbH“, die eigentlich digitale Weiterbildungen für Großunternehmen konzipiert, plant die Einführung einer eigenen Kryptowährung. Über eine App namens „MulTra News App“ sollen Nachrichteninhalte verschiedener Verlage abgerufen werden können. Der Clou: Als Nutzer wird man für das Lesen und Teilen der Nachrichten in Form von „MulTra Token“ (MTT) bezahlt. Diese können wiederum genutzt werden, um Premium- Inhalte und Paywalls freizuschalten. Langfristig sollen sie auch in andere Krypto- und reguläre Währungen getauscht oder nach Wunsch an soziale Projekte gespendet werden können. Gleichzeitig lernt die App mit, merkt sich, welche Inhalte man interessant findet und zeigt entsprechende Vorschläge. Durch sie sollen die Verlage auf teure Platzierungs-Deals mit Facebook und Co verzichten können, wodurch mehr Geld für Journalismus und weitere MulTra-Token übrigbleibt – eine Win-Win-Win-Situation? Klingt nach Zukunftsmusik – ist es auch. Die App befindet sich noch im Test, doch Max‘ Augen funkeln: „Das wird alles verändern.“ Für ihn hat das Blockchain-Business keine finanziellen Anreize, sondern das soziale Potenzial hat es ihm angetan. Privat besitzt er daher auch keine Kryptowährungen. „Ich habe nicht viel Geld, aber das brauche ich auch nicht“, sagt der junge EBS-Absolvent.

Blockchain made in Mainz

Bei einem Abstecher im Zollhafen zu einem der bekanntesten Unternehmen der Szene: Brainbot Technologies AG. Hier lernen wir Chef Heiko Hees und seine Kollegen kennen. Sie sind so etwas wie die Anarchos und Steve Wozniaks (der Counterpart von Steve Jobs) der Szene. Man programmiert selbst und konzipiert Projekte. Brainbot geht es um Lösungen, darum, das Internet und damit auch die Welt durch dezentrale Systeme zu verbessern. Nicht jeder kennt das Unternehmen, aber BrainbotTechnologies hat dennoch Aufmerksamkeit weltweit. Seit geraumer Zeit berät die AG Geldinstitute und Industrieunternehmen, die das Thema Blockchain verstehen möchten. Im Bereich Blockchain-Payments werden verschiedene Lösungen angeboten. Besonders spannend findet das Team das „Trustlines“-Projekt, welches weltweit Online-Mikrokredite unter Freunden ermöglichen soll. Brainbot sind da fast sowas wie Spitzenreiter, auch wenn sie wie eine Gruppe Internet-Kids anmuten. Im Büro stapeln sich die Pizza-Kartons, an die Wand sind die neuesten Ethereum- Netzwerk-Statistiken gebeamt. Nerds. Und Chef Heiko hält sich am liebsten bedeckt, blüht aber auf beim Thema Dezentralität und den Visionen, das „System“ zu verändern, es demokratischer und transparenter zu gestalten. Das, und nicht das schnelle Geld, sind der Antrieb und der Erfolg gibt ihnen Recht.

Lokal und solidarisch

Weniger in die große Welt zieht es Reinhard Sczech. Mit seiner Genossenschaft „Trustchain“ will der gebürtige Hunsrücker Menschen vernetzen, die sich für Sozial- und Umweltprojekte interessieren. Zu seinen „Netzwerkpartnern“ gehören etwa das Mainz-Wiesbadener Reflecta Filmfestival, die Solidarische Landwirtschaft (SoLaWi) in Mainz-Gonsenheim und andere Akteure der „Shared Economy“. Reinhard ist Pazifist und Feuer und Flamme, wenn es um das Ausräumen von Ungleichheiten geht. An dieser Stelle soll die Blockchain greifen – „Wirtschaft, Politik und Gesellschaft umkrempeln“, heißt es auf seiner Website, Mittelsmänner wie Banken und Konzerne eliminieren. Als Elektroingenieur ist er früher viel herumgekommen, war oft im Silicon Valley. Dort wurde er erstmals auf Kryptowährungen aufmerksam und begann, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Er legte sich ein Smart Wallet zu und investierte in verschiedene Währungen. Aus dem Interesse wurde schließlich eine Vision: „Blockchain ist jetzt, was das Internet Anfang der 90er war“, erklärt er, „es ist noch nicht ganz ausgereift, doch es wird die Welt verändern.“ Wie genau die Blockchain ihren Weg auf den Gonsenheimer Acker finden soll, ist noch nicht ganz klar. Doch sie wird kommen. Irgendwie.

Fintech – Finanztechnologie – auch das nächste große Dinge an den Börsen weltweit. Der Hype erinnert an die „New Economy“ der 90er / Anfang 2000, als alle irgendwie auf den Internetzug aufgesprungen sind, der dann Blasen bildete, von denen nicht wenige geplatzt sind. Aber … es blieb auch Vieles und Gewaltiges davon übrig, entwickelte sich weiter. Was davon bleibt von Blockchain und Bitcoin? Wo die Reise hingeht, weiß noch niemand, manche vergöttern, andere verteufeln. Doch selbst die großen Finanzinstitute experimentieren. Denn die Zukunft des Geldes entscheidet sich jetzt. Hier. In Mainz?

David Gutsche und Ida Schelenz