Direkt zum Inhalt wechseln
|

Coworking oder business as usual? – Let´s work together! Selbstständige in Mainz


von Felix Monsees, Fotos: Daniel Rettig

Zum Arbeiten braucht Patrick Molnar nicht viel mehr als einen Laptop und sein Handy. Zuhause bleiben möchte er aber trotzdem nicht. „Da gibt es zu viel Ablenkung“, sagt Molnar. Wie viele selbstständige Kreativarbeiter teilt sich der 33-jährige Kommunikationsdesigner sein Büro, eine 4-Zimmer-Wohnung in der Zanggasse: Das schlichte Weiß von Apple-Produkten und IKEASchreibtischen wird von den bunten Bildern, Fotografien und Postern an der Wand und den zahlreichen Schnipseln und Flyern auf den Arbeitsflächen gebrochen. In seinem Raum arbeiten drei weitere Freelancer.
An der Seite steht ein gemütliches Sofa. Wer dort abends sitzt, wird von der roten Leuchtreklame der Dorett Bar eingefärbt. „Auch wenn es nicht so aussieht, hier herrscht Arbeitsatmosphäre“, sagt Molnar. Die Bürobeteiligung Masterdart wurde als Projekt von zehn Freunden 2011 ins Leben gerufen. Die WG, die hier vorher wohnte, löste sich auf, als im Erdgeschoss die Bar eröffnete. Bass sei Dank. Das einzige, was die Vormieter den Bürogründern überließen, war eine Dartscheibe mit der Aufschrift Masterdart. Mittlerweile ist das Kreativbüro bei Google der erste Treffer, noch vor der namensgebenden Darts-Marke. Der Platz, auf dem Molnar sitzt, kostet im Monat 110 Euro Miete. Dafür kriegt man alles, was man braucht: Arbeitsplatz, Internet, Strom, kleine Küche und Hinterhof-Terrasse mit Grill. Der Aufenthaltsraum ist manchmal Besprechungszimmer, Pausenraum oder Studio. Jeder geht hier unterschiedlichen Tätigkeiten nach. Es wird geknipst, geschneidert, entworfen und gezeichnet. Aber alle arbeiten kreativ und (zumindest nebenberuflich) selbstständig.

Großes Netzwerk und geringe Fixkosten
Überwiegend Selbstständige oder Existenzgründer aus der Kreativbranche nutzen die so genannten Coworking Spaces und Bürobeteiligungen. Büros und Räume werden gemeinsam von verschiedenen Personen und Firmen genutzt: viele kleine Unternehmen unter einem Dach, die eigenverantwortlich in wechselnden Projekten arbeiten. Die Idee dazu kommt aus den USA der 90er Jahre. Coworking Spaces gibt es überall in Deutschland, wo junge kreative Unternehmensgründer und Selbstständige zusammenkommen. Die meisten gibt es natürlich in Berlin. Das 2009 eröffnete Betahaus ist die bekannteste Coworking-Fläche der Republik. Internet, Schreibtisch und Kaffeemaschine gehören meist zur Grundausstattung, Konferenzräume müssen dazu gebucht werden. Sogar professionelle Kinderbetreuung gibt es, etwa im Eltern-Kind-Büro Rockzipfel in Leipzig. Coworking Spaces unterscheiden sich von Bürobeteiligungen dadurch, dass Schreibtische auch tage- oder stundenweise zu vermieten sind. „Wir finden das gut und raten dazu“, sagt Sabine Hartel-Schenk vom hochschulübergreifenden Gründungsbüro FH und Uni Mainz. Gerade bei der Existenzgründung sei es wichtig, Fixkosten wie Miete niedrig zu halten und keine langfristigen Verträge abzuschließen. Wenn es dann doch nicht klappt, kann man schnell wieder weg, gibt Hartel- Schenk zu bedenken. Wenn sie in Mainzer Coworking Spaces und Gründerzentren unterwegs ist, kann Hartel-Schenk viele ehemalige Studierende begrüßen. „Man kommt vor die Tür und hat Kontakt zu anderen Kreativen“, sagt sie, für die Kunst- und Kreativszene sei vor allem ein großes Netzwerk wichtig. Gute Freunde schieben sich gute Jobs zu. Seine Aufträge hat Molnar allesamt durch Vitamin B bekommen. „Man kann sich ruhigen Gewissens gegenseitig weiterempfehlen“, sagt er. Und manche Jobs können nur gemeinsam erledigt werden. Natürlich lernt man auch voneinander. „Das Masterdart mit all seinen Vögeln hat mich weiter gebracht.“ Wenn es nötig ist, springt er für den Kumpel vom Schreibtisch gegenüber ein als Kamera-Assistent.

100 Prozent Selbstverwirklichung?
Selbstständig bedeutet: selbst und ständig, sagte einst Barkeeper- Legende Charles Schumann. Ihren Schreibtisch im Masterdart verlässt Mati Miocevic nur selten. Ihre Eltern hat sie schon lange nicht mehr gesehen, sagt sie. Unter ihrem Künstlernamen Mathilda Mutant verdient sie ihr Geld mit Illustrationen und Kommunikationsdesign. Gerade zeichnet sie Bären mit kleinen Hüten und Herzchen- Luftballons für die Muttertags-Ausgabe eines Magazins in Brasilien. „Meine Arbeit ist zu 100 Prozent Selbstverwirklichung“, sagt die Mutantin. Verständnis kann sie nicht erwarten: „Meine Freunde meckern schon, ich solle mich irgendwo fest anstellen lassen.“ Eine Anstellung in einer Agentur kann sich Miocevic nicht vorstellen. „Dort haben mich Überstunden immer angekotzt.“ Heute schafft sie von Montag bis Sonntag an ihrem eigenen Schreibtisch, überwiegend bis in die Nacht. Auch Molnar kennt den Unterschied. In seinem ersten Leben hat er in einer riesigen Chemiefabrik gearbeitet. Dort gab es giftige Chemikalien und die BILD lag im Pausenraum. „Wäre ich da geblieben, hätte ich jetzt wahrscheinlich Frau, Haus, Kinder, Hund und Strick“, blickt er zurück. Dann lieber das kreative Chaos im Masterdart, „auch wenn ich da von morgens bis nachts hock“. Die Trennung zwischen Arbeit und Beruf wird teilweise aufgehoben. Das Büro als „second home“. Ist das noch Recherche für ein Projekt oder hängt man nur im Internet rum? Bierflaschen stehen rum. Auf der Terrasse wird gegrillt, bis die Nachbarn protestieren. Manchmal muss Molnar auch den Hausmeister spielen, sagt er: „Wie es halt so ist, in einer 10er-WG.“ Die kreative Freiheit hat ihren Preis. Wer sich als Designer ausleben möchte, muss nebenbei meist noch woanders arbeiten. Molnar feiert gerade die Kündigung seines Nebenjobs. „Am Anfang muss man viele Entwürfe für langweilige Kunden gestalten, die man gar nicht zeigen möchte“, sagt Miocevic. Jetzt macht sie nur Sachen, die ihr Spaß machen. Besonders gerne arbeitet sie für junge Start-Ups, da kann man etwas von Anfang an mitgestalten. „Man kann sich gegenseitig aus den Tiefs rausholen“, beschreibt Mathilda Mutant die Vorzüge des gemeinsamen Arbeitsraums. Vor allem, wenn mal wieder Geld ausbleibt, zum Beispiel weil ein Kunde nicht zahlen will. Wie schreibt man noch mal eine Mahnung? „Alleine gibt man viel schneller auf!“

Gründerzentrum: Freie Bürofläche soll Know-how bündeln
„Überall, wo die traditionelle Industrie im Niedergang begriffen ist, gibt es ähnliche Initiativen, überall führt man beschwörend das KWort im Munde: ‚Kreativwirtschaft´“, beschreibt der Feuilletonist Thomas Groß die Branche der Kreativarbeiter. Auch in Mainz haben die neuen Selbstständigen auf der Suche nach Räumlichkeiten vor allem Orte gefunden, die Handwerk und Industrie aufgegeben haben. In den ehemaligen Ladenlokalen des Bleichenviertels befinden sich jetzt das Planungsbüro Formaat, die Bürogemeinschaft Media Colada und die Gestaltungskooperative tip top Express. Wandern die Firmengründer zum Beispiel nach Wiesbaden ab, weil sie hier keinen bezahlbaren Raum finden, ist das schlecht für die Stadt. Kreativität ist eben auch Wirtschaftskraft. Es geht darum, das Know-how, vor allem auch der Studierenden, in der Stadt zu halten. In der alten Blendaxfabrik am Nordhafen wird seit 1993 keine Zahnpasta mehr fabriziert. Junge Firmengründer und Kreative entdeckten das Potential dieser Räume für sich und errichteten auf 2500 qm das wichtigste Kreativzentrum in Mainz. Wo früher Leerstand war, sind Räume im neuen „Nordhafen“ heute schwer zu bekommen. An der Ochsenwiese in Gonsenheim wurden Ofenteile gegossen, später beherbergte die Fabrik den Kabelbetreiber primacom. Heute befindet sich dort das Mainzer Innovations- und Gründerzentrum (MIG). Günter Kipper von der Unternehmensgruppe Kipper will durch privatwirtschaftliche Initiative dem Platzmangel entgegenwirken. „Gerade werden die Räumlichkeiten des ersten Bauabschnitts fertig gestellt“, eröffnet Kipper den Rundgang durch die vielen Stockwerke des MIG. Noch riecht es nach frischer Farbe und überall liegen Baumaterialien rum. Ende Mai hat das Zentrum eröffnet, mit 3.500 qm ist es die größte Fläche für Gründer-Büros in der Stadt. Die ersten Mieter sind schon da, zum Beispiel die Printdesignerin Janin Liermann oder das IT Start-Up MapCase. Büroräume kosten ab 13,90 Euro pro qm, inklusive „Softmarks zur freien Benutzung“. Das bedeutet Dachterrasse, Ruheraum mit Kicker und Außenbereich zum Grillen. Wer will, kann auch tageweise kommen. Ein flexibler Arbeitsplatz im Gemeinschaftsbüro kann bereits für sieben Tage im Monat (150 Euro) gemietet werden. Die persönlichen Gegenstände können bei Abwesenheit in einer Box deponiert werden. Das Angebot liegt im Trend. Bereits vor einiger Zeit schrieb die Wirtschaftswoche, die „Zukunft gehört dem Büro-Nomaden“. Es kommt die offene Bürolandschaft mit flexiblen Arbeitsplätzen, die je nach individueller Situation auch mehrmals täglich gewechselt werden kann. „Das Ausleben individueller Vorlieben am Arbeitsplatz wird künftig immer seltener über das Anhäufen kitschiger Überraschungseier-Figürchen möglich sein.“ Dank einer Kooperation mit einer Gonsenheimer Gärtnerei werden die Büronomaden im MIG mit frischen Blumen am Arbeitsplatz begrüßt. „Wir wollen keine Konkurrenz für den Nordhafen sein“, sagt Kipper, „sondern eine Ergänzung zu bestehenden Angeboten.“ Genügend Nachfrage nach freiem Raum sei ja da. Das MIG ist für Kipper nicht nur eine Investition, er hat sich tief in die Szene eingearbeitet. Bei einem Gründertreffen im Mainzer Zollhafen traf Kipper auf Carmen Bartholomä. Die 29-Jährige ist seit 2009 als PR-Beraterin selbstständig. Mit kreativen Grüßen steht in ihrer E-Mail Signatur. Mit anderen Freelancern hat sie 2012 die „Mainzer Gründer Treffen“ initiiert. Dort können sich Start-Ups vorstellen und netzwerken. Für das vierte Treffen hat Kipper die Gründer ins MIG eingeladen. Seitdem ist Bartholomä dort für PR und Kommunikation zuständig. Bald zieht auch sie mit ihrem Ein-Frau-Unternehmen „BartholoMedia“ von ihrem Home Office in Böhl-Iggelheim nach Gonsenheim. Anstatt Krawatten trägt die Gründerszene einen Weltverbesserungsgedanken in sich, hat Bartholomä beobachtet. Immer auf der Suche nach der Idee für die App, die die Welt noch einfacher macht. „Man lernt von den Kreativen, die Welt wieder in drei Dimensionen zu sehen“, sagt Kipper, „und um die Ecke zu denken.“ Das merke man bereits an der Art, wie Start-Ups über ihre Ideen reden: „Wir sind gespannt, wie die Start-Ups das Mainzer Innovations- und Gründerzentrum mit Leben füllen werden.“

Alte Fahrkartendruckerei: Nobles Coworking in postindustrieller Atmosphäre
Über die Gründungsphase ist Nils Beierlein herausgekommen. Seit 2011 gibt es seinen Eistee AiLaike schon zu kaufen. Die Geschichte zum Getränk hat er schon so oft erzählt, dass er sich nicht erinnern kann, wem er sie schon alles erzählt hat. Also kurz: Beierlein ist kein Cola-Trinker und suchte nach einer leckeren Alternative. Das Ergebnis ist ein natürlich hergestellter Eistee mit Bio-Siegel und wenig Zucker. Die Idee dazu hatte der 29-Jährige schon in seiner Diplomphase 2007. Mittlerweile füllt er zum zehnten Mal in Flaschen ab. Seit 2011 befindet sich das AiLaike -Hauptquartier in der „Alten Fahrkartendruckerei“ an der Mombacher Straße. Auch hier fand mal traditionelle Industrie statt, die selige Bundesbahn ließ hier ihre Tickets drucken. Noch früher wieherten hier Pferde und standen Kutschen. Nach aufwendiger Renovierung erinnern nur noch die schweren Eisengitter an den Fenstern an die ehemalige Druckerei. Viel Glas und Luft lassen die hohen Wände und die Backsteinmauern von 1902 edel wirken. „Von der Ausstattung sind wir eine andere Liga“, sagt Betreiber Michael Gebhard von der bitsinmotion GmbH über seinen „multifunktionalen Büro- und Präsentationskomplex in postindustriellem Ambiente“. Nobler als hier kann Coworking in Mainz nicht sein. Freie Plätze gibt es in dem 1.500 qm-Komplex momentan nicht mehr. Gemeinsames Grillen fände hier zwar auch statt und man kommt ins Gespräch, aber es kommt nicht zu kreativen Synergien wie im Nordhafen, grenzt Gebhard ein. „Die Firmen, die hier sitzen, stecken überwiegend nicht mehr in der Gründungsphase.“ In der Fahrkartendruckerei herrscht schon mehr Business as usual statt luftigen Gründerdaseins.

Unternehmensgründer leben auf höherem studentischem Niveau
Auch Meetingräume gehören zum Angebot. Beierlein sitzt am Konferenztisch und spricht über seinen Sprung in die Selbstständigkeit. Neben ihm sitzt sein Büropartner Patrick Lohmann. Erst hat sich Beierlein seinen Arbeitsplatz mit einer Agentur geteilt, doch die Arbeitsabläufe passten nicht zusammen. Wenn der eine Ruhe brauchte, musste der andere telefonieren und anders herum. Lohmann hatte einen Artikel über Beierlein und AiLaike in der Zeitung gelesen und ihn angesprochen. Tagsüber arbeitet der 27-Jährige für einen Energiekonzern, nach Feierabend arbeitet er an seinem eigenen Getränk: 60 Prozent Rosé aus Rheinhessen und 40 Prozent Orangenlimonade. Der Mix ist im rheinhessischen Hügelland als Pesching bekannt. Unter dem Namen Sechzisch Vierzisch will Lohmann Pesching in Flaschen abfüllen und im Rhein-Main-Gebiet verkaufen. Im gemeinsamen Büro kann er sich von Beierlein viel abgucken. „Ohne die Tipps von Nils würde ich anderthalb Jahre länger brauchen bis zur Marktreife“, sagt er. Manche Kosten können reduziert werden, wenn zum Beispiel gleiche Flaschen bestellt werden. „Das Machen steht im Vordergrund“, beschreibt Beierlein die Herausforderungen als Unternehmensgründer. Man braucht Durchhaltevermögen, Biss und Disziplin. In Clubs geht er eh nicht mehr, da räumt er sonntagmorgens lieber sein Lager auf. „Man hat alles selbst in der Hand“, sagt Beierlein, von den Rezepten, den Vertriebswegen bis hin zur Grafik. Diese gestaltet für die beiden Jungs gerade Mutantin Miocevic. Wieder eine Empfehlung unter Freunden. Für die Unternehmensgründung hat Beierlein sich schon während seines BWL-Studiums Geld zur Seite gelegt und sein Auto verkauft. Sein aktuelles Fahrzeug ist günstig geleast. Seinen Lohn im Eistee-Business hat er sich noch nicht ausgerechnet. Was reinkommt, wird zu 100 Prozent in die Firma investiert. Er lebt momentan auf einem „höheren studentischen Niveau“. Die Gesellschafter von Fritz Kola, Vorbilder aller Getränke Start-Ups, haben sich die ersten fünf Jahre gar keinen Lohn ausgezahlt, sagt Beierlein. Er redet viel über sein Unternehmen und seinen Eistee. Ängste haben scheinbar keinen Platz. „Manchmal wache ich um drei Uhr nachts auf und mir fällt irgendwas ein, was getan werden muss. Aber ich kann immer besser schlafen.“