Aus der Allgemeinen Zeitung von Nicholas Matthias Steinberg
Die Eingangstür zum Altstadtrevier in der Weißliliengasse fliegt auf, zehn Polizisten in dunkelblauer Kluft stürzen aus der Tür. Sie sind mit Maschinenpistolen bewaffnet und schusssicheren Westen bekleidet, laufen über die Fahrbahn der Weißliliengasse. Auf der anderen Straßenseite bilden sich zwei Vierer- und eine Zweiergruppe. Das erste Interventionsteam biegt auf die Goldenbrunnengasse ab. Die Schritte der Beamten werden schneller, sie beginnen zu rennen, laufen Richtung Haupteingang des Willigis-Gymnasiums. An einer Mauer neben dem Eingangstor ducken sie sich, lehnen sich mit dem Rücken gegen die Betonwand. Letzte Absprachen. Aus dem Gebäudeinnern dringen Schreie, plötzlich Schussgeräusche. Täuschend echt. Doch sind sie Teil einer Amoklagenübung der Polizeiinspektion Mainz I, die diese am Mittwoch zwischen 8 und 15 Uhr in der Altstadt durchführte. Auch die Maschinenpistolen sind Attrappen.
Die vier Polizisten geben plötzlich ihre Deckung auf, treten auf den kleinen Vorhof, arbeiten sich an der Hauswand entlang zur nächsten schützenden Wand. Sie befindet sich direkt neben der Eingangstür. Plötzlich werden sie von einem der beiden Amokläufer entdeckt. Er eröffnet das Feuer. Die Beamten drängen ihn zurück, verschwinden schließlich in der Schule.
Den Täter imaginär niederschießen
Das nächste Team rückt nach; von der Mauer, an der Hauswand entlang an die schützende Wand neben der Eingangstür. Aus den Funkgeräten dringen aufgeregte Anweisungen und Rufe: „Täter eins im ersten Stock“, heißt es. Dann Schüsse, Stille, aufgeregte Rufe. Auch das zweite Übungsteam eilt ins Gebäude, vor der Schule rücken Kräfte nach, während sich durch die gekippten Fenster des Treppenhauses lautes Knallen und Schreie ihren Weg ins Freie bahnen. Wie sich später herausstellt, spielen sich im Innern dramatische Szenen ab: Einen Täter können die Polizisten fesseln. Dann jedoch geraten sie selbst in einen Hinterhalt. Der zweite Täter eröffnet das Feuer. Würden die Waffenattrappen nicht nur Knallgeräusche erzeugen, sondern tatsächlich schießen, hätten die Kugeln wohl drei Kollegen getroffen. Dann gerät der Täter selbst unter Feuer.
Die Beamten des zweiten Interventionsteams schießen ihn imaginär nieder. „Ein sehr komisches Gefühl, auf Menschen, auf Kollegen zu zielen, ja imaginär zu schießen. Auch wenn es eine Übung ist“, sagt Polizist Bernd Mauritz, der einen der beiden Täter mimte. Die psychische und physische Belastung ist während der Übung enorm, bestätigt auch Heiko Arnd, Leiter der Polizeiinspektion Mainz I. Beamte hätten berichtet, dass man in der Übung schnell in einem Tunnel sei, in eine gefühlt reale Situation schlüpft, nicht mehr zwischen Übung und Einsatz unterscheidet.
Erste Amokübung im Bereich des Polizeipräsidiums
Hinzu kommt, dass es sich um eine Premiere, die erste Amokübung dieser Art im Bereich des Polizeipräsidiums Mainz handelt. Letztlich ist sie Ergebnis sich verändernder Gefahrenlagen; nicht zuletzt Reaktion auf Amokläufe wie in Erfurt 2002 oder Winnenden 2009. Auch in Rheinland-Pfalz wird die Polizei regelmäßig wegen Amokverdachts gerufen. Zuletzt vor wenigen Wochen ins Förderschulzentrum in Bad Kreuznach; ein Fehlalarm. Laut Landeskriminalamt (LKA) gab es von 2015 bis 2017 insgesamt 35 Amokverdachtsfälle in Rheinland-Pfalz; 19 in 2015 und jeweils acht in 2016 und 2017.
Seit 2016 modifiziert auch die rheinland-pfälzische Polizei auf Initiative des Landesinnenministeriums verstärkt ihre Einsatzkonzepte, passt sie und die Ausrüstung an neue Herausforderungen, die zunehmende Gefahr durch Terrorismus und radikale Einzeltäter an. Ergebnis der Modifikation ist unter anderem ein dreistufiges Einsatztraining für Polizisten im Regeldienst. Vier Tage lang werden die Polizisten geschult. Zentral ist das Schießen mit verschiedenen Waffentypen, dazu kommen Einsatzübungen, unter anderem im neuen Einsatztrainingszentrum in Enkenbach-Alsenborn.
Drei Einsatzszenarien geprobt
Die Dienststellen organisieren zudem eigene Übungen. Wie nun am Willigis-Gymnasium. Insgesamt wurden am Mittwoch drei Einsatzszenarien geprobt. Im Nachgang werden sie anhand von Videoaufnahmen und Berichten sogenannter Schiedsrichter analysiert. Los ging es um 8 Uhr mit Szenario eins: Ein Täter verschanzt sich in der Schule, richtet sich später selbst. Das bereits geschilderte, zweite Szenario drehte sich um zwei Täter. Einer wurde gefesselt, der andere angeschossen. Beim dritten Szenario trafen der Täter und Beamte außerhalb des Gebäudes aufeinander. „Fakt ist: Streifenpolizisten sind die ersten am Einsatzort“, erklärt Polizeisprecher Alexander Koch. Die Erfahrung zeige, dass diese Einsätze etwa 20 bis 30 Minuten dauerten. Bis Spezialkräfte da sind, dauert es meist länger.
Daher sollen künftig weitere Dienststellen dem Vorbild des Altstadtreviers folgen, so Koch. Auch Übungen untereinander und mit Rettungsdienst und Feuerwehr seien denkbar. Heiko Arnd jedenfalls zieht eine positive Bilanz. Für ihn sind die Übungen nicht nur die Möglichkeit, das Erlernte in die Praxis umzusetzen, sondern auch, um Schlüsse für Einsätze zu ziehen: „Wir werden das Vorgehen aller Beteiligten analysieren.“ Wenn es nach Arnd geht, folgt im Frühjahr 2019 die nächste Übung.
Fotos. Stephan Dinges