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90 Jahre Geschichte – Oma Ilse erzählt

Ilse Klaus sitzt ganz still in ihrem Rollstuhl, während sie aus dem Fenster schaut. Dabei wirkt sie wie eine zierliche Pflanze, die es gewohnt ist, nicht sonderlich im Mittelpunkt zu stehen. Als wir den Aufenthaltsraum des Mainzer Altenheims betreten, weist sie als erstes auf ihre Umhängetasche hin: „Man muss immer Taschentücher dabeihaben, das ist das Allerwichtigste.“ Ilse Klaus ist keine prominente Persönlichkeit, soviel schon mal vorweg. Im Grunde könnte man aufhören, ihre Geschichte zu erzählen, bevor man damit angefangen hat. Weil Ilse Klaus ein Stück Zeitgeschichte ist. Ein Stück Geschichte, an dem wir täglich vorbeigehen und sie aus Angst vor dem Altwerden aus unserer Wahrnehmung ausblenden. Deswegen erzählen wir sie.

Ilse Klaus ist 89 Jahre alt, lebt gut versorgt im Seniorenheim und macht einen klaren Eindruck. Geboren wurde sie als Ilse Zeeh am 21. September 1927 in der „Accouchement“, einer Geburtsklinik in der Hafenstraße – ein echtes Neustadtkid sozusagen: „Ich bin durch und durch Meenzer“. Die Gespräche mit ihr sind mit Wortwitz und Liebe zur Mainzer Mundart bespickt. Etwa Chaiselongue, Chaussee und Tusnelda: „Ei kennt ihr diese Wörter nicht? Des gibt’s doch gar net“, lacht sie herzlich laut. Doch bald verstummt ihr Lachen. Auf die Frage, ob sie ein Fotoalbum hat, antwortet sie: „Es gibt keine Bilder. Der 27. Februar hat uns alles genommen.“

Krieg und Zerstörung

Gemeint ist der Hauptangriff auf Mainz 1945. Tag für Tag. Dass ihr diese Zeit stets präsent ist, merkt man an der Klarheit ihrer Worte: „Als der Alarm losging, bin ich alleine in den Luftschutzbunker zur Zitadelle geflohen. Ich musste betteln, damit sie mich reinlassen, weil meine Oma drin war. Ich flehte den Pförtner an: Lasst mich zu meiner Oma, meine Oma ist drin. In letzter Minute kam ich rein. Wäre ich in den Neubrunnenkeller gegangen, hätte ich es nicht mehr geschafft; allen, die dort waren, sind beim Angriff die Lungen geplatzt. Auch meiner Mutter und meiner Tante, die dort waren. Die Stadt war völlig zerstört. Wir sind dann alle später den Rhein runter, denn dort waren wir sicher. Während der Flucht ist mein Brüderchen fast verbrannt, weil sein Mantel Feuer fing.“

Doch er überlebte den Angriff und verstarb erst dieses Jahr. Der Krieg ist eine Zäsur in ihrem Leben. Bei vielen anderen Erzählungen verschwimmen Ilses Zeitgrenzen, Daten, Zahlen, Fakten. Doch die Brutalität des Krieges erlaubt diesen Luxus nicht. Sie durchlebt  den Angriff jedes Mal, wenn sie davon redet. Eine Welt, in der das Lebensmittellager geplündert wurde, weil man Hunger und Not litt. Eine Welt, in der Ilse nach dem Angriff mit vier anderen in „einer Küche und einer Stub“ gehaust hat. Es folgt eine Pause. Möglicherweise Selbstschutz. Themawechsel.

60 Jahre Ehe

Wir finden uns wieder im Lebensmittelgeschäft Pusch in der Kaiserstraße. „Pusch: Preise prüfen“, lacht sie. Dort hat sie das Handwerk der Verkäuferin gelernt. Mit Ilse gehen wir auf Zeitreise in das Mainz der 40er und 50er Jahre. Als die Baentschstraße noch Mombacher Straße hieß, wo sie mit ihrem Mann Karlheinz 60 Jahre lang lebte. Als sie mit ihrer Mutter das Mainzer Journal in der Kapuzinerstraße und der Dagobertstraße austrug, und als sie als junges Mädchen zur Neutorschule ging. Ihr späterer Mann Karlheinz ging zur Eisgrubschule – eine reine Jungenschule. 1950 war die Hochzeit. „Über 60 Jahre waren wir verheiratet.“ Wie macht man das?

Ich bin Frau Klaus!

An den Haken kriegte sie Karlheinz an der Straßenbahnhaltestelle Kaiserstraße mit einer Raucherkarte. Sie fand „er war ein ganz schönes Kerlchen“ und damit waren sie ein Paar. „Ich hab dem Karlheinz von Anfang an die Courage abgeknöpft. Hab ihm kurz vor der Heirat gesagt: Ich bin Frau Klaus. Alle anderen Frauen sind ab sofort tabu. Wann´s der net gefällt, kannst der de Stecke dazu stelle“ und lacht dabei mit einer Festigkeit, die staunen lässt.

Kinder gab es keine, dafür aber Herz und Energie, um sieben Pflegekinder großzuziehen. „Mein treustes ist die Manuela. Sie lebt jetzt in Texas und hat mir einen Enkel geschenkt. Die ruft mich jeden Tag zwei Mal an.“ Ilse ist auch ein Sprachtalent. Und sie liebt Musik – vor allem das Singen. „Mein Vater war Sänger im Gesangsverein Frauenlob. Wir haben viel gesungen – von ihm hab ich das gelernt.“

Ihre Ansprüche sind auch beim Gesangskreis in der Seniorenresidenz hoch: „Wenn die alle wenigstens textsicher wären“, verrollt sie die Augen. Im Laufe des Gesprächs fangen manche Erzählungen an, sich zu wiederholen. Ilse wird allmählich müde. Dennoch wirkt sie in ihrem Rollstuhl wie eine Pflanze, die gerade gegossen wurde. Die unverhoffte Aufmerksamkeit tat ihr gut. So bekommen wir zum Abschied noch einen Satz geschenkt, er ist wohltuend für Journalisten: „Mein Chef hat immer gesagt: Wer schreibt, der bleibt“. Machen wir.

Text Elif Urel  Foto: Domenic Driessen

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