Jörg Köhler vom Laubenheimer Verein für Rollstuhlsport führt eigentlich zwei Leben. Unser Autor besucht ihn beim Rollstuhlbasketballtraining und probiert den Sport auch selbst aus.
Der erste Blick in den Materialraum vom Turnverein Laubenheim offenbart nichts Ungewöhnliches. Der meiste Platz geht für die zahlreichen Stühle drauf, die hier gestapelt für Großveranstaltungen aufbewahrt werden. Selbst der leicht muffige Geruch von Leibchen liegt in der Luft. Mindestens ein Dutzend Sportgeräte für die unterschiedlichsten Sportarten stehen im Raum, von A wie Aerial Silk (quasi wie Poledance am Polyestertuch) bis Z wie Zumba. Mit einer Mischung aus Nostalgie und Posttrauma muss ich an Schulsport denken. Als dann eine weitere Tür geöffnet wird und, nach einem knisternden Flackern, das gedimmte Licht von Neonröhren den Nebenraum erfüllt, ist der Eindruck des Gewöhnlichen wieder verflogen. Rollstühle, soweit das Auge reicht: große und kleine, gerade und gebogene Räder, mit und ohne Hinterreifen. Die mit den gebogenen Rädern eignen sich besser für Basketball, sie sind wendiger und können die Kurven besser nehmen. Die Aufforderung zum Probesitzen hinterlässt ein mulmiges Gefühl. Es fühlt sich beinahe respektlos an, in einem Rollstuhl zu sitzen, obwohl man ihn nicht braucht – so als würde man etwas in Anspruch nehmen, worauf man kein Recht hat. Aber Jörgs entwaffnende Herzlichkeit lässt mich meine Skepsis wieder vergessen.
Plötzlich funktionieren Beine nicht
Jörg Köhler ist Abteilungsleiter für Rollstuhlsport beim TV Laubenheim und selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Basketball ist längst nicht die einzige Sportart im Angebot: Jeden zweiten Sonntag im Monat geht es in die Skatehalle nach Wiesbaden, freitags werden kleine Spiele und sportspezifische Trainings wie Hockey oder Boccia angeboten, dienstags stehen Mobilitäts- und Fitnessübungen auf dem Programm. Das Jörg im Rollstuhl sitzt, war nicht immer so. Er wurde gesund geboren, konnte ohne Probleme laufen und sich genauso bewegen wie alle anderen. Erst mit 30 Jahren bemerkt er auf dem Fußballplatz die ersten Schwierigkeiten: versprungene Bälle, ungefährliche Torschüsse, ungewöhnlich starke Schmerzen nach längerer Belastung. Ein Besuch beim Arzt offenbart die niederschmetternde Diagnose: hereditäre spastische Spinalparalyse, eine Nervenkrankheit der Wirbelsäule. „Es sind nur kleine Stiche und Quetschungen, aber sie beinträchtigen meine motorischen Fähigkeiten enorm. Während andere laufen, ohne darüber nachzudenken, muss ich meinen Beinen genau sagen, was sie tun sollen“. Nach fast zwei Jahrzehnten, die er als Stürmer im Verein gespielt hat, musste er aufhören.
Zwei Leben
Schon früh wird Jörg klar, dass er nicht mehr aus eigener Kraft laufen kann. Was die Gesamtheit der Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen angeht, gehört er damit zur Mehrheit, lediglich 3 Prozent sind mit ihnen geboren. Als er an den Rollstuhl gebunden wird, hat er die ersten großen Lebensabschnitte bereits hinter sich: Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden. Auch den Start ins Berufsleben hat sich der studierte Hauptschullehrer für Deutsch, Sport und Religion anders vorgestellt. Dabei ist bewundernswert, wie offen Jörg mit seiner Behinderung umgeht. Als er sich endgültig nicht mehr ohne Rollstuhl fortbewegen konnte, sei er sehr depressiv gewesen, verließ kaum das Haus, Freunde traf er nur noch selten. Was zuvor Freude im Leben brachte, schien verloren – bis er sich 2012 nach langem Hin und Her entschied, an einem Mobilitätstraining des TV Laubenheim teilzunehmen. Die Herzlichkeit und Unterstützung der Gleichgesinnten, die er dort kennenlernte, hat ihm wieder einen neuen Sinn im Leben gegeben. Wenn Jörg davon spricht, dass er zwei Leben hat, dann meint er nicht nur das Leben vor und nach dem Rollstuhl, sondern auch vor und nach diesem vielleicht wichtigsten Sporttraining seines Lebens. Und wer sich eingeladen fühlt: Der Verein sucht immer gerne nach neuen Mitgliedern.
Text: Felix Werner
Fotos: LeFloProd