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Die Waggonfabrik bei Mombach – Wunder hinter Backsteinmauern

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Text: Tiffany Bals, Fotos: Katharina Dubno

Die alte Waggonfabrik kurz vor Mombach kennen viele nur als Fabrikgelände. Mittlerweile haben sich hier viele interessante Unternehmen und Menschen niedergelassen.

Die Nachmittagssonne brennt durch das leicht geöffnete Fenster. Draußen rauscht der Feierabendverkehr. Barfuß dehnen sich drei erschöpfte Tänzerinnen auf dem dunklen Laminat. „Eine Location wie die hier ist einmalig“, sagt eine und die anderen nicken. „Wo hat man sonst so viel Platz, um sich auszutoben. Wo kann man ungestört Krach machen?“ Nur eines fehlt: „Etwas mehr Aufmerksamkeit für die Waggonfabrik.“
Ein Stückchen Broadway-Flair in Mainz: Das verspricht der Große Tanzsaal „New York“ mit seinen komplett verspiegelten alten Wänden plus Konzertflügel. Mitten auf einem alten Industriegelände. Bereits mit drei Jahren schlüpfen die Jüngsten im Dance&Arts Studio in der Waggonfabrik in die Tanzschuhe. Mit wahrer Leidenschaft und Talent legen sie diese nie wieder ab: Die älteste Schülerin ist 75 Jahre alt. Seit 2008 trainiert hier auch die „Musical Arts Academy of the performing Arts“ – die erste und bisher einzige Berufsfachschule für Musical in Rheinland-Pfalz. Die Tanzschule ist nur eine von vielen Attraktionen des neu belebten Industriegeländes Waggonfabrik. Bekannt ist das Areal hauptsächlich durch die Phönixhalle, wo immer wieder kleine und größere Stars auftreten, im September zum Beispiel Roger Cicero. Bei unserem Rundgang stoßen wir zudem auf Bildhauer, Maler und Medienkünstler, klettern an meterhohen Wänden, relaxen in einem außergewöhnlichen Möbelgeschäft und lernen auf der Messe / Session einer Freikirche wie „cool“ und „funky“ beten sein soll…

Brandbomben und Omnibusse
Die Geschichte der „Alten Waggonfabrik“ ist – wie der Name schon verrät – lang und voller Höhen und Tiefen. 1845 gegründet von Kommerzienrat Otto Gastell in Mombach – und das noch vor dem ersten Eisenbahnanschluss in Mainz. Das Unternehmen ist ein Erfolg. 1892 beschäftigt das Werk bereits 600 Mitarbeiter. Zur Jahrhundertwende sind es schon doppelt so viele. Hergestellt werden Eisenbahn- und Straßenbahnwaggons, Karosserien für Omnibusse und vereinzelt auch Personenkraftwagen. Später kommt die Produktion von LKW-Anhängern und -Aufbauten hinzu. 1944 zerstören Spreng- und Brandbomben die 22 Werkshallen der Fabrik vollständig. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Phönixhalle die erste, die wieder aufgebaut wird. Jetzt fertigen die Arbeiter hier neben Omnibussen und Sonderfahrzeugen auch militärische und zivile Gefährte, wie zum Beispiel Brandschutz- und Amphibienfahrzeuge, Flugzeugschlepper und Radar-Antennenträger. 1978 Spritzig: Das Dance & Arts Tanzstudio bildet auch in Musicals aus werden die gesamten Werksanlagen, die mittlerweile der IVECO (Industrial Vehicles Corporation) angehören, einem umfassendem Modifizierungsprogramm unterzogen. Mit einem Investitionsvolumen von 60 Mio. DM gestaltet die IVECO sie zu einer modernen Omnibusfabrik um – mit knapp 2.000 Beschäftigten. 1983 erwirbt der Bund die Werksanlagen und stellt sie den US-Streitkräften zur Verfügung. Die nutzen sie zur Instandsetzung und Modernisierung von Heeresgerät. Im Jahr 2000 schließlich übernimmt die Trierer Wohnbaugesellschaft TRIWO das komplette Gelände und die Stadt Mainz wird zum Mieter des Areals. Noch heute erinnert der Haltepunkt Waggonfabrik an der Bahnstrecke Alzey – Mainz an die vergangenen Kapitel rheinhessischer Industriegeschichte. Hinter den Backsteinmauern aber herrscht inzwischen ein neuer Geist. Voll Tatendrang und Kreativität.

Kunst & Kaffee
Die eigenen Ideen in Stein gemeißelt ist keine Redewendung, sondern die Realität von Bildhauerin Sabine Hart. Sie arbeitet seit über 20 Jahren auf dem Gelände. Wie auch den Tänzern kommt Sabine die Abgeschiedenheit zugute: bis spät in die Nacht und am Wochenende Steine klopfen, das geht eben nicht überall. Neben Auftragsarbeiten – oftmals Grabmäler – zählen zu ihrem Repertoire auch Kunstprojekte wie ein überdimensionaler Till Eulenspiegel oder eine riesige Blütenknospe, die als Kulisse für ein Theaterstück diente. Bei der Gestaltung von Grabsteinen den Kundenwünschen entsprechen und dabei den eigenen Vorstellungen und Ansprüchen keinen Abbruch tun, das ist nicht immer einfach. „Man möchte ja dem Leben, das diese Person geführt hat, irgendwie gerecht werden.“ Wenn dann noch Gemeindebürgermeister ins Spiel kommen, die keine nichtchristlichen Darstellungen auf dem Friedhof haben wollen, gerät man schon einmal an seine Grenzen. Sie sieht sich in ihrer Arbeit weder als Künstlerin, noch als Dienstleisterin. „Bildhauer sind eben Bildhauer.“ Und dabei auch noch echte Persönlichkeiten.
Im Atelierhaus mit der Gebäudenummer 6333 sind mal mehr, mal weniger der 14 ansässigen Künstler. Vor 15 Jahren auf Initiative der Stadt Mainz hin gegründet, blieben die ersten Künstler für zehn Jahre dort. Die Stadt vermietet ihnen die Flächen günstig, zum Zwecke der Förderung von Kunst & Kultur. Die Auswahl der jeweiligen „Stipendien-Empfänger“ ist an einige Kriterien gebunden, die von einem Gremium aus Kulturdezernat und anderen Vertretern geprüft werden. Den Lebensmittelpunkt in Mainz haben, regional orientiert zu arbeiten und „professionelle künstlerische Arbeit zu leisten“ sind nur einige der Punkte. Vor fünf Jahren wurden die Ateliers an neue Künstler vergeben, insgesamt ist die Atelierzeit auf maximal zehn Jahre begrenzt.

Gemeinsam mit Farbe, Pinsel und Kamera
Hohe Decken, Staffeleien und viel Licht. Wir befinden uns im Atelier von Susanna Storch. Farbdosen und Kaffeetassen sind kreativ und chaotisch verteilt. Die Gemälde an den Wänden ziehen magisch in ihre hyperrealistische Welt – mal fröhlich, mal traurig, mal verträumt und melancholisch. Susanna arbeitet hier seit fünf Jahren. Nach dem Studium der Kunsterziehung war sie zunächst als Bildhauerin tätig, begann 1998 mit der Malerei. Wenig später bezog sie ihr erstes Atelier in der alten Patrone auf dem Hartenberg. Figürlicher Realismus in Form von Portraits ist die grobe Zusammenfassung des Machwerks von Susanna. Sie fertigt viele Auftragsarbeiten, aber auch freie Bilder an, die dann aus ihrer Inspiration entstehen – so wie jüngst eine Serie über Hausfronten, auf denen man Leute beim Telefonieren oder Wäscheaufhängen zuschauen kann. Szenen, die vor allem Neustadt-Bewohner gut kennen dürften. „Das Tageslicht spielt bei meiner Malerei eine große Rolle“, erzählt sie, doch davon gibt es hier genug. Doch den Reiz der Waggonfabrik macht für sie etwas anderes aus: die besondere Atmosphäre eines sich gegenseitig inspirierenden Umfelds von Künstlern, die sich auch mal auf dem Balkon gemeinsam einen Kaffee schmecken lassen. Ein „Freiraum von der Stadt“, wie Susanna es nennt, den es zu nutzen gilt. Wer ihre und die Kunst der anderen Atelier-Mitglieder live sehen möchte, kommt am besten zu den offenen Ateliers am 13. und 14. September.
Nebenan arbeitet Stefan Budian. Er legt sich in seiner Kunstform nicht fest. Ein Tausendsassa, der auch als Sprecher für die Künstler im Atelierhaus auftritt. Insgesamt sei man untereinander gut vernetzt. Ein Zwang zu Gemeinschaft bestehe jedoch nicht. Durch gemeinsame Ausstellungen, wie dem „Spring Opening“ im Frühjahr und den offenen Ateliers, rückt der Ort und die Menschen, die dort Einzigartiges schaffen, immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit. Zu den eher „alteingesessenen“ Künstlern hat sich seit diesem Jahr eine Reihe neuer junger Kreativschaffender gesellt. Es findet quasi ein Generationswechsel statt. Einer von ihnen ist Markus Walenzyk. Dort wo früher sein Großvater an Panzern gewerkelt hat, fabriziert er heute Medieninstallationen. Analoge Printprodukte, aber auch digitales Videomaterial gehören zu seinem Metier. Der Künstler hat neben einem Mediendesignabschluss der Fachhochschule auch ein Diplom der Kunsthochschule. Ein begabter Künstler, den es dennoch nicht nach Berlin oder in andere große Städte zieht, so wie die meisten seiner Kommilitonen: „Ich will in Mainz etwas möglich machen.“ Gerade zur heutigen Zeit scheint dies interessanter denn je. Voller Tatendrang und Motivation will Markus nicht nur die großartigen Räumlichkeiten, die ihm zur Verfügung gestellt sind, angemessen nutzen. Er will sich auch dafür einsetzen, den Ort und das, was dort passiert, mehr in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. „Es fehlt ein Durchgangsverkehr und die Türen sind nicht so offen, wie es wünschenswert wäre.“

Wohn(t)raum & Klettermaxe
Der zur Straße geneigte Teil der Waggonfabrik wird heute von modernen Markenmöbeln eingenommen. Von solchen, auf denen man sehr bequem sitzt. „Wohnraum“ heißt der coole Laden und Peter Eichelkraut der Geschäftsführer. „Die Filiale in Mainz bietet eine einzigartige Atmosphäre, wo sonst hat man solche Fenster?“ Den Kunden etwas Einzigartiges bieten, das ist das Ziel. Vor zwei Jahren hat Eichelkraut die Räumlichkeiten von Vorgänger MAM Limited nach deren Konkurs übernommen. Auf einer Fläche von 1.500 qm finden sich Einzelstücke namhafter Hersteller mit einem Loft-Feeling, wie man es von außen nicht vermuten würde.
Direkt hinter dem „Wohnraum“ befindet sich die Kletter- / Boulder- Halle „Blockwerk“. Wir schreiten mutig hinein und werden nicht enttäuscht. Die „Routen“ der Halle decken alle Schwierigkeitsgrade ab und bieten dem Anfänger bis Profi alle Herausforderungen. „Das besondere an unserer Halle ist die familiäre Atmosphäre“, meint Lena, die hier als studentische Aushilfe arbeitet. Es läuft Musik und an der Theke am Eingang bekommt man nicht nur einen sensationellen Latte-Macchiato. Für maximal 9,50 Euro Eintritt lohnt sich die Kletter-Action in entspannter Atmosphäre und mit netten Leuten.

Psalmen & Paletten
Sonntagspätnachmittag 18 Uhr: eine abgedunkelte alte Fabrikhalle. Die Scheinwerfer sind auf die Bühne gerichtet, der Raum gut gefüllt. Junge Musiker stehen im Rampenlicht und singen christliche Lieder in modernem Gewand, „Jesus du bist für uns da …“. Nachdem die ohrwurmartigen Verse verklungen sind, betritt eine junge Frau in einem geblümten Sommerkleid die Bühne, streckt mit geschlossenen Augen die Hände nach oben und bittet alle Anwesenden, mit ihr zu beten. Mutet erst einmal etwas gewöhnungsbedürftig an, ist aber im Endeffekt wie „normale“ Kirche, nur etwas peppiger. „Die Basis – Kirche für diese Generation“, nennt sich das Ganze und ihr Wunsch ist es, „Menschen aus dem 21. Jahrhundert zu ermöglichen, Gottes Liebe und Kraft zu erleben.“ Wem es hilft, warum nicht … Gottesdienste / so genannte Sessions sind jeden Sonntag um 10, 11:45 und 18 Uhr. Im Eingangsbereich wird man schön hereingewunken und erhält eine Willkommenstüte mit Infos, Schokolade, Lolli und Wasser. Dass es in Mainz viele und auch sehr unterschiedliche Arten von Kirchen gibt, bleibt einem nicht verborgen, ihr Zweck jedoch manchmal schleierhaft.
Die Basis gehört wie sehr viele Freikirchen in Deutschland dem BFP an, dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden. Wie jede einzelne Einrichtung sich ausrichtet und ihren Glauben lebt, bleibt ihnen und ihren Mitgliedern dabei selbst überlassen. Rund 450 Besucher sind es regelmäßig in Mainz, etwa die Hälfte davon mit fester Mitgliedschaft und Eigenengagement. 2011 zog der Verein in die Räumlichkeiten auf dem Waggonfabrikgelände ein.
Mit einem herzlichen „Hau rein, Mann“ wird man jedenfalls in der Basis von Pastor Matthias ins Gebet genommen. Danach wird es ruhiger im Raum und der junge Vater spricht angeregt über das Thema „Dienen“ und sorgt dabei für den einen oder anderen Lacher. Die schick designte Präsentation im Hintergrund ruft zu Spenden auf. Bloß spricht man hier von „Investment“. Marketingtechnisch eine runde Sache.
Nach der „Session“ machen es sich alle Mitglieder, mit und ohne Kinder, in der „Lounge“ auf Europaletten gemütlich. Dem Industriecharme und der Getränkeauswahl nach zu urteilen könnte das hier ebenso gut ein hippes Großstadt-Café sein. „Viele sind ja der Meinung, Kirche und Glauben passen nicht mehr in unsere heutige Kultur, doch man muss es nur anders anwenden.“ Diese und ähnliche Sätze fallen zu unserem Cappuccino-Gespräch. Wenn man auf Gott steht, dann ist man hier auf jeden Fall in einem guten Fanclub. Und so geht die Sonne hinter der Fabrik unter und wir haben längst noch nicht alles entdeckt auf diesem riesigen Gelände. Wer weiß, was sich noch so hinter diesen Backsteinmauern versteckt … Ein Besuch ist es allemal wert und uns bleibt immerhin die Hoffnung, dass in Zeiten von Gentrifizierung solche Flächen weiterhin in Städten wie Mainz und anderswo erhalten bleiben.