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Weltmarktführer im Verborgenen: zu Besuch bei Mainzer „Hidden Champions“

Was sie können, kann sonst niemand. Ihre Produkte sind einzigartig, ihre Umsätze gehen in die Hunderte Millionen, ihr Erfolg ist global. Doch obwohl ihre Firmensitze in Mainz gleich bei uns um die Ecke liegen, kennen wir meist nicht einmal ihre Namen. Das sind die „Hidden Champions“. Einige dieser „unbekannten Weltmarktführer“ haben uns in ihre Geheimnisse eingeweiht.

Wie ein Wettlauf zum Mond – Krebstherapie von Biontech

„Ich war noch gar nicht in meinem neuen Büro“, lacht Dr. Sierk Poetting, einer der CEOs von Biontech, als er durch die Gänge des vor wenigen Tagen fertig gestellten neuen Unternehmensgebäudes in der Oberstadt führt. Es riecht nach frischer Farbe und Möbelhaus. Teile des Bodens sind noch mit Plastikfolien bedeckt. Das Pharmaunternehmen wächst in einem so atemberaubenden Tempo, dass auch die jetzt eingeweihten sieben Stöcke nicht lange ausreichen werden. Ein weiteres Laborgebäude ist in Planung. Spätestens dann zeigen die Dimensionen des Biontech-Campus, auf dem schon heute circa 500 Menschen arbeiten, dass hier Großes im Gange ist. Was genau Biontech tut, wissen in Mainz nur wenige. Poetting wundert das nicht: „Bis 2014 hatten wir nicht einmal eine eigene Homepage“. Kein Wunder, denn bisher gäbe es auch gar nichts zu bewerben: Biontech forscht zwar an Therapien, die Krebs chronisch machen könnten (oder Therapien gegen Krebs), hat aber noch kein einziges Produkt auf dem Markt. 2001 gründete der Mediziner Prof. Dr. med. Sahin mit seiner Frau das Unternehmen Ganymed, aus dem 2008 Biontech hervorging, das Sahin von da an alleine leitete. Die ersten Ideen für individualisierte Krebstherapien sind in seiner Zeit an der unimedizin Mainz entstanden. Über das von ihm gegründete Translationale Onkologie Zentrum TRON findet die Biontech-Forschung noch immer in enger Abstimmung mit der Uni statt. Allerdings könnte keine Universität jemals auch nur annähernd so viel Geld bereitstellen, wie Biontech benötigt, um im Rennen um ein wirksames Medikament ernsthafte Chancen zu haben. „Was wir machen, frisst eine Menge Kapital“, so Poetting. Viele Hunderte Millionen Euro, die Biontech von Investoren und aus Partnerschaften mit anderen Pharmakonzernen akquiriert hat, sind bereits verschlungen.

Im vergangenen Jahr kamen zum ersten Mal ausländische Investoren hinzu, Pharmafirmen aus den USA, die 270 Mio. Euro anlegten. „Natürlich kann das Ganze vor die Wand fahren, aber wenn nicht, dann wird es richtig gut“, sagt Poetting und meint damit die Einnahmen in kaum vorstellbarer Höhe, die Biontech bei Einführung eines fertigen Medikaments erwarten würden. Das Besondere an der geplanten Therapie ist, dass sie nicht durch fremde Moleküle den Krebs attackiert, wie es etwa bei der Chemotherapie der Fall ist, sondern das menschliche Immunsystem dazu bringen soll, den Feind auf natürliche Weise „wegzuräumen“. Eine künstlich entwickelte Messenger RNA soll die Zellen über das Aussehen der feindlichen Krebszellen informieren, die dann Abwehrzellen produzieren. Dass das funktionieren kann, ist in einer ersten klinischen Studie mit 13 schwer an Hautkrebs erkrankten Patienten bewiesen worden. Nach 40 Monaten lebten immer noch 75 Prozent von ihnen. Natürlich gibt es auch andernorts vergleichbare Ansätze, aber jeder Bestandteil der Therapie benötige jahrelange Forschungsarbeit, und Prof. Sahin verfüge schon heute über mehr als 60 Einzelpatente für Teilschritte der Produktion und Behandlung. So weit wie Biontech ist also kaum jemand anderes. Und Poetting merkt an, dass auch die Zahl der Investoren eine klare Sprache spreche: „Die haben sich genau angeguckt, was wir hier machen.“ 2021 oder 22 könne es schon das erste Medikament geben, hofft er. Davon würde auch die Stadt Mainz profitieren, die sich für Biontech bereits in die Bresche wirft: Das ehemalige Gelände der GFZ Kaserne soll als Erweiterungs-Gelände für das Unternehmen genutzt werden.

Ubisoft Blue Byte – Gaming weltweit

Die Produkte von Blue Byte kennen viele: Die Ego-Shooter-Spieleserie „Tom Clancy’s Rainbow 6“ zum Beispiel, oder die verschiedenen Varianten von „Anno“, das zu den erfolgreichsten Simulationen überhaupt gehört. Wer aber hätte gedacht, dass diese berühmten PC-Spiele teils mitten in Mainz, in der Römerpassage entstehen? In einem mehrstöckigen Studio werden virtuelle Figuren designt, Skizzen für Landschaften gekritzelt und Spielszenarien konzipiert. Als klassisches Startup wurde Blue Byte 1995 von Thomas Pottkämper, Burkhard Ratheiser und Thomas Stein im Keller von Pottkämpers Eltern in Mainz-Laubenheim gegründet. Begonnen haben sie mit kleinen kostenlosen Werbespielen für Aronal und Elmex zum Beispiel. Das erste kommerzielle Spiel war dann „America“, ein Echtzeit-Strategiespiel vor der Kulisse des Wilden Westens. Dass die Blue Byte-Spiele oft historisch angelegt sind, liegt auch daran, dass Pottkämper Geschichte an der Uni Mainz studiert hat.

Nach der Übernahme von Sunflowers gehört Blue Byte heute zum in Paris ansässigen Konzern Ubisoft. Man arbeitet eng mit zahlreichen Tochterstudios zusammen, die von Montreal bis Singapur verteilt ihre Sitze haben. Zwar entsteht kaum ein Spiel an nur einem Standort, für das im Februar erschienene „Anno 1800“ ist Mainz aber das so genannte Lead-Studio. Schon vor Veröffentlichung hat es 2018 auf der Gamescom den Preis für das beste PC-Spiel gewonnen. Auch die Musik des Spiels wurde in Mainz geschrieben, von dem hier lebenden Filme- und Spielkomponisten Tilman Sillescu. Typisch für die Hidden Champions wächst auch Blue Byte schnell und ist mit hundert Mitarbeitern schon heute der größte Arbeitgeber im Games-Bereich in Rheinland-Pfalz. Leider fehle im immerhin drittgrößten Absatzmarkt für PC-Spiele Deutschland immer noch eine staatliche Games-Förderung, so Pottkämper. Aber wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen, werde man weiter einstellen und den Mainzer Standort ausbauen. Wie die anderen Unternehmen hat es auch Blue Byte schwer, qualifizierte Fachkräfte zu rekrutieren. Erfahrene Entwickler finde man vor allem im Ausland, die Mitarbeiter in Mainz haben 16 verschiedene Nationalitäten. Und wenn man im hell möblierten Aufenthaltsraum mit Spielekonsole die Angestellten auf Englisch sprechen hört, fühlt man sich schon ein bisschen wie im Silicon Valley.

Vom Hofmusikstecher zur Music Group: Schott Music

In den hinteren Gässchen der Altstadt thront pompös das Gebäude von Schott Music, des größten und zweitältesten Musikverlags in Deutschland. Durch die breite Toreinfahrt des 1792 errichteten Prunkbaus muss auch Beethoven einmal mit seiner Kutsche eingefahren sein, denn hier hat er den Verlagsvertrag für seine 9. Symphonie ausgehandelt. Im Büro des heutigen Verlegers Peter Hanser-Strecker hängen noch eine ganze Reihe weiterer Porträts berühmter Komponisten aus aller Welt, deren Stücke Schott über die Jahrhunderte verlegt hat. 1780 wurde der Verlagsgründer Bernhard Schott als „Hofmusikstecher“ engagiert und durfte damit als Einziger in der Region Noten herstellen und vertreiben. „Das war wie ein Freibrief für eine Gelddruckanlage“, erklärt Peter Hanser-Strecker. Ein verdientes Privileg, findet er, denn die mühselig in Bleiplatten gestochenen Noten ergaben ein unvergleichlich scharfes Schriftbild und waren in der Herstellung sehr aufwendig. Die frühen Einnahmen des Schott Verlags lassen sich mit seiner damaligen Monopolstellung erklären, aber sein langes Bestehen über alle Schott- und nun schon die vierte Strecker-Generation hinweg muss noch andere Gründe haben. Hanser-Strecker erklärt den Erfolg mit der steten Ausrichtung des Verlages auf Innovationen. Schon früh habe man neue Druckverfahren ausprobiert, heute biete man etwa auch Downloadversio-nen der Notenausgaben an. Sicher spielt auch die Tradition selbst – das „Image“ – des Verlags eine große Rolle. Der Verleger, selbst großer China-Fan, weiß zum Beispiel, dass sich viele chinesische Komponisten noch heute wünschen, im Verlag Beethovens verlegt zu werden. Sollte in China endlich für Aufführungs- und Senderechte bezahlt werden, könnte China das einnahmenstärkste Land der Welt werden. Beethoven und Wagner sind natürlich urheberrechtlich frei, aber mit den Werken von Strawinsky, Orff, Hindemith, Eötvös und Penderecki, um nur einige zu nennen, hat der Verlag heute Weltgeltung erlangt. Die Bedeutung von Schott Music als die Heimat vieler zeitgenössischer Komponisten ist den meisten Mainzern sicherlich nicht bekannt.

Aus Mainz auf den Mars? – Micromotion

Mit bloßem Auge sind die kleinsten der Antriebe, die hier hergestellt werden, kaum zu erkennen. Unscheinbarer als die „spielfreien Mikroantriebssysteme“, auf die sich das in Gonsenheim ansässige Unternehmen Micromotion spezialisiert hat, könnte ein Erfolgsprodukt gar nicht sein. Zwischen die Zahnräder passt nicht einmal ein Haar. „Bei Abmessungen von unter einem Millimeter Kantenlänge wird es für uns erst interessant“, sagt Dr. Reinhard Degen, Managing Director. Er war dabei, als in den 90er Jahren am Institut für Mikrotechnik in Mainz das sogenannte LIGA Verfahren entwickelt wurde. Vereinfacht bedeutet das, dass winzigste Strukturen auf ein lichtempfindliches Material übertragen und aus der so entstandenen Form mittels „Galvanisierung“ Metalle herausgelöst werden. So habe man sehr viel kleinere Getriebekomponenten realisieren können, erklärt Degen. Und mit dieser „Nische der Nische“ macht Micromotion seinen Erfolg. Wer so etwas benötigt? „Unsere Bauteile werden überall da eingesetzt, wo Positioniervorgänge von sehr kleinen Komponenten mit hoher Präzision und Dynamik in Bruchteilen einer Sekunde bewegt werden müssen“, erklärt Degen.

Die wichtigsten Branchen seien Medizintechnik, Optik, Halbleiterfertigung und Luft- und Raumfahrt: „Unsere Produkte fliegen wahrscheinlich demnächst zum Mars“, denn die Antriebe werden voraussichtlich im nächsten Mars-Rover verbaut. Die Produkte von Micromotion sind keine Massenware, sondern werden für jeden Kunden eigens entwickelt. Ihre Fertigung ist so speziell, dass es nicht einmal einen Ausbildungsberuf dafür gibt. Wer in der Produktion arbeitet, muss vor allem eine ruhige Hand haben. Aktuell sind es Goldschmiede, Feinmechaniker oder Zahntechniker, Menschen, die es gewohnt sind, mit kleinen feinen Teilen am Mikroskop zu arbeiten. Und wie bei allen Champions brummt es auch bei Micromotion. „Für unsere Verhältnisse explodiert gerade alles“, freut sich Luisa von Goertzke, Marketingchefin des Unternehmens. 2018 habe man den Umsatz verdoppelt und auch für dieses Jahr erwarte man Wachstum. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen. Große Erfolge können auch im Verborgenen entstehen und nicht nur mit großen Marketingkampagnen, die wenig versprechen. Weltmarktführer in Mainz – die Stadt kann sich also durchaus sehen lassen. Der Begriff „Hidden Champion“ wurde übrigens zuerst von dem Wirtschaftsprofessor Hermann Simon verwendet, der mit ihm unbekannte, aber sehr erfolgreiche Unternehmen bezeichnete. Die Mainzer Wirtschaftsförderung gibt für das Jahr 2018 neun hier ansässige Weltmarkt- und weitere zehn Europamarktführer an. Neben den vorgestellten Unternehmen sind unter den Weltmarktführern Weitere vertreten: Brezelbäckerei Ditsch, Huber + Suhner (Verbindungstechnik), J. F. Hillebrand (Logistik), Michenfelder Elektrotechnik (Formsand), Orgentec Diagnostika (Medizinische Diagnostik).

Text Regina Roßbach Fotos Stephan Dinges