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Warum ist es am Bruchweg so schön?

Text: Christoph Hadnagy
Fotos: Sven Severing

Das Fußballpublikum in Mainz ist anders als in anderen Bundesligastädten. Erstaunlich viele Familien und Frauen tummeln sich auf den Tribünen; eine ganze Reihe von Besuchern gibt offen zu, sich kaum für Fußball zu interessieren. Warum sind sie hier? Wir haben nach den Besonderheiten des kleinen Stadions am Bruchweg gesucht.

„Fußball? Damit hatte ich eigentlich nie was am Hut.“ Wenn man den 33-jährigen Dirk am Samstagmittag auf der Tribüne sieht, bekleidet mit rot-weißem Schal und Trikot, möchte man ihm diese Aussage kaum abnehmen. „Im Grunde interessiert mich der Sport auch immer noch nicht wirklich“, sagt er. „Ich bin einfach gerne im Stadion.“ Im Bruchwegstadion in Mainz, um genau zu sein. Vor Jahren, noch vor dem ersten Aufstieg in die erste Bundesliga, hat ihn ein Freund zu einem Besuch bei einem Spiel der 05er überredet. Seither steht der Webdesigner, so oft er kann, bei Heimspielen im M-Block und feuert die Mannschaft an. „Es ist, als hätte ich mich bei meinem ersten Stadionbesuch mit einem Virus infiziert.“ Einem Virus namens Mainz 05.

Stadion mit eigenem Charme

Wer einmal ein Heimspiel der 05er am Bruchweg gesehen hat, der kann nachvollziehen, warum es hier erstaunlich viele Zuschauer gibt, die weniger wegen des sportlichen Ereignisses als vielmehr wegen der besonderen Atmosphäre kommen. Der kennt die fröhliche, positive Grundstimmung, die hier üblicherweise herrscht. Der hat den besonderen Charme dieser Spielstätte wahrgenommen, die nicht langsam gewachsen ist, sondern innerhalb kurzer Zeit an den wachsenden Zuspruch und die Anforderungen einer höheren Spielklasse angepasst werden musste. Es sind ihre kleinen Eigenheiten wie die antiquiert anmutende Anzeigetafel, die das Stadion so wohltuend von den anderen Bundesliga-Arenen unterscheiden. Und die dafür sorgen, dass aus Stadiontouristen Dauerkarteninhaber werden.

Mainz und Fußball, das ist eine Beziehung mit langem Anlauf. Über Jahre dümpelte der Verein durch die niederen Ligen und spielte in der öffentlichen Wahrnehmung der Stadt kaum eine Rolle. Bis in die späten neunziger Jahre kamen im Schnitt kaum mehr als 4000 Zuschauer zu den Heimspielen. Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute ist der Bruchweg an nahezu jedem Spieltag mit 20.300 Besuchern ausverkauft. Mehr als drei Viertel der Zuschauer besitzen Dauerkarten, die Wartelisten hierfür sind lang. Seit Jahren hat das Stadion eine Auslastung weit über neunzig Prozent. Egal, ob in der ersten oder in der zweiten Liga. Denn: „Die Liga ist für die Stimmung letztlich nicht wichtig“, sagt Dirk.

Motivieren und Deeskalieren

Als „einzigartig“, „außergewöhnlich“ ist diese Stimmung schon beschrieben worden. Was aber ist das Besondere an ihr? „Zwischen Vorstand, Mannschaft, Trainer, Fans besteht eine Einheit. Dieses Wir-Gefühl macht Mainz 05 aus“, sagt einer, der es wissen muss. Seit über zwanzig Jahren steht Stadionsprecher Klaus Hafner an den Spieltagen auf dem Rasen und kündigt die Mannschaften an. In Fankreisen ist er Kult, doch sich selbst nimmt er nicht wichtig. „Ich bin ein Teil dieser Veranstaltung, ein kleines Rädchen im Ablauf dieses Spiels. Und ich habe die Aufgabe, für den friedlichen Verlauf und positiven Ablauf mit zu sorgen.“ Deeskalierende Motivation nennt er das. Doch was nach gruppensoziologischer Theorie klingt, wird in Mainz ganz selbstverständlich umgesetzt. Es geht um den gegenseitigen Respekt im Stadion und um die Erzeugung einer positiven Grundstimmung. Damit, wie der Stadionsprecher sagt, „mit Sicherheit nicht die Stimmung schuld war, wenn die Mannschaft aus Versehen mal verlieren sollte.“ Selbst dann ertönen nur ganz selten Pfiffe gegen das eigene Team. Solange die Fans merken, dass sich die Mannschaft angestrengt hat, dass sie alles versucht hat, können sie auch eine Niederlage akzeptieren – und rufen den Spielern ein aufmunterndes „Auswärtssieg“ zu, als Motivation für das kommende Spiel in der Fremde.

Stimmung auf allen Tribünen

Diese optimistische Grundhaltung ist es wohl auch, die viele Menschen anlockt, die sonst nicht in ein Fußballstadion gehen würden. Der Bruchweg reißt die Menschen mit, egal ob Steh- oder Sitzplatz, egal ob Rentner oder Schülerin, ob Akademiker oder Handwerker. Wenn vor dem Anpfiff der alte Stadionklassiker „You’ll Never Walk Alone“ ertönt, halten die Besucher auf allen Tribünen ihre Schals in die Höhe, ein Bild, das selbst den Fans des FC Liverpool, den Erfindern dieses Rituals, bei einem Freundschaftsspiel reichlich Respekt abnötigte. Für Christian Gomolzig, den stellvertretenden Vorsitzenden des Fanclubdachverbandes „Supporters Mainz e.V.“ ist das ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Stadien: „In Mainz beteiligen sich alle Tribünen im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Stimmung. Das ist in anderen Stadien nicht so.“ Natürlich sei die Hintertortribüne der Motor des ganzen. Doch die Anfeuerungen blieben bei weitem nicht darauf beschränkt.

Hinzu kommt, dass die Erwartungshaltung am Bruchweg nicht so groß ist wie in vielen anderen Stadien. Entsprechend fordern die Fans zu Beginn einer Saison, sei es erste oder zweite Liga, keine hochtrabenden Ziele ein. „Die Leute sind einfach neugierig auf die Mannschaft und das, was sie vielleicht leisten kann“, glaubt der Fan-Vertreter. Diese grundsätzlich positive Einstellung sorgt dann auch dafür, dass der Mannschaft schlechte Spiele schneller verziehen werden. „Natürlich gibt es auch immer wieder Phasen, in denen mehr geraunt und vielleicht auch gepfiffen wird, so eine Phase erleben wir im Moment“, gibt Gomolzig zu. Der entscheidende Unterschied zu fast allen anderen Bundesligisten sei die Tatsache, dass sich die Mainzer Fans bis zum nächsten Heimspiel wieder so weit zusammengerauft haben, dass sie mit einer positiven Grundhaltung ins Stadion zurückkehren.

Gästen Respekt entgegen bringen

Eine weitere Mainzer Besonderheit liegt im Umgang mit den Spielern und Fans der Gäste. Wie in keinem anderen Stadion in Deutschland dürfen die gegnerischen Fans beim Verlesen der Mannschaftsaufstellung die Namen der einzelnen Spieler mit skandieren. Die Idee für dieses nach dem Aufstieg 2004 eingeführte Ritual kam vom Stadionsprecher selbst. „Ich habe erlebt, wie Gästefans, auch die Mainzer bei Auswärtsspielen, behandelt wurden, und ich wollte, dass sich daran etwas ändert. Um zu dokumentieren, dass es möglich ist, etwas anders zu machen“, erklärt Hafner. Auch wenn es zu Beginn viele Anhänger gab, die sich mit dieser Form des Umgangs nicht anfreunden wollten und sich über den Kuschelkurs beschwerten.

Mittlerweile haben sich diese Stimmen verflüchtigt, auch weil die anfängliche naive Freude über die Erstligazugehörigkeit einer gewissen Normalität gewichen ist. „Damals wurden die Branchengesetze etwas außer Kraft gesetzt, doch dadurch konnte sich diese Art, den Gästen vor dem Spiel grundsätzlich nicht in Feindschaft gegenüber zu stehen, auf allen Tribünen verfestigen“, ist sich Christian Gomolzig sicher. Entscheidend dafür sind auch die positiven Reaktionen vieler Auswärtsfans, welche diese Atmosphäre überwiegend positiv aufnehmen. Den Verein erreichen immer wieder Mails und Briefe von Gästeanhängern, die sich für die angenehme Stimmung bedanken. „Auch unsere eigenen Fans merken, dass sie in der Fremde anders behandelt werden, dass ihnen mehr Respekt entgegen gebracht wird.“ Und nicht zuletzt trug der Ansatz dazu bei, dass der FSV Mainz 05 im Jahr 2005 die nationale Fairplay-Wertung gewann und sich hierdurch für den europäischen Pokalwettbewerb qualifizierte.

Dirk wiederum hat eine eigene Erklärung, warum er dem Bruchweg so lange treu geblieben ist: „Jeder Besuch im fühlt sich aufregend und einzigartig an. Da setzt keine Gewöhnung ein.“ Doch was geschieht, wenn der Verein zum Beginn der kommenden Saison in die neue Coface-Arena am Europakreisel umzieht?  Auch hier sind sich Stadionsprecher, Fanvertreter und Fan einig: Die Stimmung in Mainz wird sich nicht verändern. Im Gegenteil, ist sich Klaus Hafner sicher: „Es werden mehr Zuschauer sein, und mit der Führung unserer Fans werden auch diejenigen, die zum ersten Mal mit einer Dauerkarte ins Stadion kommen, sehr schnell von dieser einmaligen Stimmung angesteckt werden.“

Es gibt sie, diese Momente, in denen der berühmte Funke überspringt. In denen Fans und Team eine echte Einheit bilden und in denen der Gegner sich dieser Übermacht beugen muss. Wie in der vergangenen Saison, als Mainz 05 schwach spielte und zwanzig Minuten vor Schluss mit 0:1 gegen Hertha BSC Berlin im Rückstand lag. Als ein Nachwuchsspieler eingewechselt wurde und mit seiner ersten Aktion, einem Sprint über das halbe Feld, den gegnerischen Torwart zu einem Ballverlust zwang. In diesem Moment wachte das gesamte Stadion aus der Lähmung der drohenden Niederlage auf; der Bruchweg bäumte sich auf und trieb das Team zu einem kaum für möglich gehaltenen Sieg. Es sind diese Spiele, wegen denen man als Fan ins Stadion geht. Nach denen man noch minutenlang auf das leere Spielfeld schaut, kopfschüttelnd, ungläubig und stolz, dass man Teil dieser Aufführung war.