Text: Felix Monsees
Fotos: Maximilian Wulf
Samstagnachmittag. Im Bruchwegstadion kicken die Niederungen des Amateurfußballs, Mainz 05 II gegen den FC Homburg, am vorletzten Spieltag der Oberliga Südwest. Schon bald werden sie die einzigen sein, die hier noch ihre Spiele austragen. Die Mainzer Profis verlassen das Stadion, das 74 Jahre die Heimat des Vereins war. Die kommende Saison wird die erste in der neuen Coface-Arena sein – und der FSV beendete die erfolgreichste Saison seit seiner Gründung mit 58 Punkten und dem Einzug in die Europapokal-Spiele.
Unter den nur 350 Zuschauern ist auch Martin Stiederoth. „An mein erstes Spiel am Bruchweg kann ich mich gar nicht mehr genau erinnern“, sagt der 25-Jährige kaffeetrinkend, „es war wohl Anfang der neunziger Jahre und den Gegner habe ich vergessen.“ Seit 1996 hat er eine Dauerkarte. Für das heutige Spiel ist außer dem Gästeblock nur die spärlich besetzte Haupttribüne geöffnet. Die Spiele der Amateurmannschaft sind kein Zuschauermagnet. Und wäre das Stadion nicht nur einen Katzensprung von der Mainzer Neustadt entfernt, wo Martin Stiederoth wohnt, wäre er wohl auch nicht hier, gibt er zu. „Fängt das Spiel um halb vier an, treffen wir uns um zwei und laufen gemütlich hoch. Oben bleibt dann immer noch Zeit für eine Wurst und einen Schoppen.“ Bald wird es diese Spieltagsroutine nicht mehr geben: Das neue Stadion befindet sich am Europakreisel vor der Stadt, und statt „ein Wegbier lang“ hochzulaufen, werden die Fans ab kommender Saison verstärkt auf Autos und Busse angewiesen sein.
Von der grauen Maus zur Herzensangelegenheit
Im Februar 1995, beim letzten Aufeinandertreffen einer Mainzer Profimannschaft auf den FC Homburg, ist der FSV nur eine graue Maus. Als Stürmer Sven Demandt zu seinem ersten Spiel am Bruchweg aufläuft, glaubt er, die Partie sei abgesagt worden, so gering ist das Zuschauerinteresse. Erst 1996 beginnt mit Trainer Wolfgang Frank die viel erzählte Geschichte, und aus dem ewigen Abstiegskandidaten FSV wird eine erfolgshungrige Elf, die bald um den Aufstieg in die Erste Liga spielt. 1997 scheitern die 05er knapp am letzten Spieltag – gegen ihren direkten Konkurrenten, den VFL Wolfsburg. Tausende Mainzer verfolgen damals das Spiel live auf einer Leinwand im Volkspark. Dieses Spiel, erklärt Demandt später in einem Interview, war ein Wendepunkt, Mainz wurde zu einer Fußballstadt, wenn auch noch im kleinen Rahmen.
Weitere zwei Mal müssen die Mainzer Anhänger miterleben, wie der Aufstieg erst am letzten Spieltag verpasst wird. Durch die tränenreichen Erfahrungen wird der Verein zur Herzensangelegenheit. Auch Martin Stiederoth erlebt die wachsende Begeisterung: In Kleingärten werden Mainz-Fahnen gehisst und in den Gaststätten hängen die Wimpel der 05er. Mit jedem verpassten Aufstieg wird das Stadion weiter ausgebaut, dem steigenden Publikumsinteresse angepasst und modernisiert. Das Testspiel gegen Mönchengladbach zur feierlichen Eröffnung der Flutlichtmasten ist für viele Fans bis heute legendär. Und dann, nach 14 Jahren Zweiten Liga, gelingt 2004 tatsächlich der Sprung in die Oberklasse. Trotzdem bleibt die „Bezirkssportanlage Mitte“, so der unspektakuläre offizielle Name, der kleinste Spielort der Liga: Das Mainzer Stadion fasst so viele Zuschauer wie die Südtribüne im Dortmunder Westfalen-Stadion.
Dauerkarten werden zum Stadtgespräch
Nach dem Aufstieg bilden sich lange Schlangen vor der Geschäftsstelle des FSV. Die Frage, wer eine Dauerkarte hat oder nicht, wird zum Stadtgespräch. Vor allem die neuen Fans, unter ihnen auch viele Familien, prägen das Bild des fröhlich-feiernden Mainzer Publikums. Mangelnde Fanhistorie wird kompensiert durch alles, was der Fanshop zu bieten hat: Im Schaufenster leuchten die roten Regenjacken, im Stadion der kostümierten Bajazz oder der Bretzenheimer Gastronom Willi Dietrich mit bemalter Glatze und Kopfschmuck. Sahen 1995 nur 3.300 Zuschauer das letzte Heimspiel gegen Homburg, so sind es allein 2007 4.500 Mainzer, die zum Derby auf den Betzenberg fahren. Die gerade mal 20.300 Plätze sind fast durchgehend ausverkauft. Schon bald wird laut über ein neues Stadion nachgedacht – denn der Bruchweg kann nicht mehr weiter ausgebaut werden.
„Es war ein Glück für den Verein, dass die wesentlichen Planungen in der Zweiten Liga anliefen“, sagt Tobias Sparwasser. Der 37-Jährige ist Pressesprecher von Mainz 05. Mit Gummistiefeln, Helm und Warnweste stapft er durch das, was einmal das neue Stadion werden soll. „Im Erfolg neigt man dazu, zu euphorisch an Sachen dranzugehen. Damals, als die Gegner noch Koblenz oder Fürth hießen, war nicht davon auszugehen, dass das erste Spiel in der Coface-Arena ein Europapokalspiel sein würde.“
Beim Anstieg auf die steile Osttribüne beschreibt er, wie das Stadion mit einem Minimalbudget realisiert wurde. „Unsere Tribünen haben eine maximale Steigung von knapp unter fünfzig Prozent. Sonst hätten wir zusätzlich teure Bügel installieren müssen – das haben wir uns gespart.“ Eindrucksvoll steil sind sie trotzdem. „Uns war es wichtig, die lieb gewonnene Bruchwegatmosphäre auch im Stadionneubau zu behalten. Es wären noch mehr Plätze möglich gewesen, aber eben nur zu Lasten der Atmosphäre und der Einzigartigkeit“, sagt Sparwasser. Vor allem die vier offenen Ecken prägen die Architektur – typisch Bruchweg eben. Durch sie wird das Stadion auch betreten: Wer durch die Drehkreuze gelangt, hat freie Sicht auf das Spielfeld, an dem die Tribünen knapp anliegen. Egal welcher Gegner hier spielt, er wird die 34.000 Fans im Nacken spüren, so eng wird es hier werden. Sparwasser freut sich: „Es wird hier ja schon laut, wenn ein Bauarbeiter herüberbrüllt. Wie wird die Stimmung erst, wenn das Stadion voll wird!“
Ohne Öffentlichkeit kein neues Stadion
Der gebürtige Mainzer war schon 05-Fan, als gerade einmal 300 Zuschauer die Partien verfolgten. Als der Hype um den Verein und den Sympathieträger „Kloppo“ entsteht, wird der Posten des Pressesprechers geschaffen. Die Wahl fällt auf Sparwasser – Fan, Publizistikabsolvent und langjähriger Reporter beider Mainzer Tageszeitungen. Seitdem ist er zuständig für die interne und externe Kommunikation des Vereins, redet mit Journalisten und ist verantwortlich für die Stadionzeitung. „Ohne Medien, ohne Öffentlichkeit würde es das alles hier nicht geben“, sagt Sparwasser mit Blick auf das neue Stadion. „Auch bei der Planung des Stadions ist intensiv an die Bedürfnisse der Medien gedacht worden. So gibt es für mich und den Verein viel weniger Stress am Spieltag.“ Auch die neue Fankneipe – inoffizieller Arbeitstitel „Haasekessel II“ – ist in eine Stadionecke integriert. Von hier aus kann man dank des schönen Wetters bis nach Finthen gucken. „Jetzt sieht es idyllisch aus“, sagt Sparwasser, „aber bei Nieselregen kann es auch deprimierend wirken.“ Trotz aller Vorzüge merkt man hier wieder, wie weit draußen das Stadion liegt.
Stadion am Europakreisel oder Coface-Arena?
Zum neuen „großen Bruchweg“ gehört auch eine 12.000 Zuschauer fassende Stehplatztribüne, in der die Fankurve angesiedelt ist. Benny von der Ultraszene Mainz hat hier seinen Stammplatz. Seit vier Jahren steht der 21-Jährige bereits an der Trommel im Q-Block und animiert die Fans zum Mitmachen. Er hofft auf weiterhin gute Stimmung in der Coface-Arena, auch wenn ihm der Name nicht gefällt. „Das Stadion, ob alt oder neu, ist Teil unserer Identität als Fußballfans. Hier feiern, weinen, hoffen, trauern und singen wir, deshalb kann es nicht sein, dass der Name einer Marketingmaßnahme zum Opfer fällt“, sagt er. „Unabhängig davon, wie man die Vermarktung von Stadionnamen allgemein bewertet, ist wohl jedem spätestens seit dem Namenswirrwarr in Hamburg bewusst, dass Sponsoren weder Identifikation noch Nachhaltigkeit bieten. Welcher fußballinteressierte Leser weiß denn noch, mit welchen Namen das Hamburger Volksparkstadion im Moment vermarktet wird?“
Die Heimstätte des Hamburger SV war 2001 das erste Stadion in Deutschland, dessen Namensrechte verkauft und in AOL-, dann HSH Nordbank- und schließlich Imtech-Arena umbenannt wurde. Auch in Mainz ist der Name nur bis 2015 an den Kreditversicherer Coface vergeben. Sparwasser sieht das Sponsoring durch die Firma mit Deutschlandsitz Mainz als Glücksfall: „Dass sich Coface seit 2007 bei uns engagiert, war ein wesentlicher Baustein der Stadionfinanzierung, ohne den der Neubau nicht realisierbar gewesen wäre.“ Auch die Ultras wissen um das finanzielle Engagement des Namensponsors. „Ungeachtet dessen wird jedoch auch hier wieder ein weiterer Schritt zur zunehmenden Kommerzialisierung des Fußballsports geleistet“, sagt Benny. „Wir wollen kein Stadion, das in ein paar Jahren wieder einen neuen Namen hat. Deshalb sagen wir ‚Stadion am Europakreisel‘.“
Nicht nur für den Verein, auch für die Fans ist der Umzug eine Herausforderung. Um die Fangesänge auf der neuen großen Stehplatztribüne zu koordinieren, wie es die Ultras seit ihrer Gründung 2001 auf der Südtribüne machen, wurde das Megaphon des Vorsängers gegen eine kraftvollere Lautsprecheranlage eingetauscht. Ein neuer Raum für die Aufbewahrung der Banner und Fahnen muss ebenso gesucht werden wie ein Ort, wo die großen Choreografien und anderen Aktionen, wie der große Bruchweg-Marsch zum letzten Spieltag, vorbereitet werden können. Benny freut sich vor allem auf die neuen Möglichkeiten der Kartenvergabe: „Der ich habe jahrelang nur mit Glück Karten für den Q-Block bekommen. Viele andere junge Fans hatten kaum eine Chance, an unserer Art, Fußball am Bruchweg zu leben, teilzuhaben. Durch die große Tribüne und mit dem R-Block als zweitem Supportblock haben wir viel mehr Möglichkeiten, Stimmung zu machen und Nachwuchs zu begeistern.“
Schlusspfiff am Bruchweg
Trotzdem bleibt der Bruchweg als Heimat des Vereins erhalten. „Man kann nur um das trauern, was man nicht mehr hat“, meint Sparwasser. So wird das Stadion nicht abgerissen und gesprengt, wie es mit den alten Stadien in Düsseldorf oder Mönchengladbach passiert ist; Amateure und Jugendmannschaften werden weiterhin ihre Spiele hier austragen. Wahrscheinlich wird die Geschäftsstelle des Vereins in die erst 2002 errichtete Haupttribüne umziehen. Nur die nach dem Aufstieg errichteten Zusatztribünen werden wieder abgebaut.
Die Oberligapartie neigt sich mittlerweile dem Ende zu. Es steht 1:3 gegen die Amateure des FSV Mainz, deren Assistenztrainer Marco Rose einer der Aufstiegshelden von 2004 ist. Seine Aufgabe ist das Heranführen der Nachwuchstalente an die erste Mannschaft. Noch ist ungewiss, wer als Profi von Morgen die Chance erhält, im neuen Stadion aufzuspielen. Auf der Haupttribüne nimmt Martin Stiederoth mit zwiespältigen Gefühlen Abschied vom Bruchweg. „Klar freue ich mich auf das große, neue Stadion, aber wer weiß, wie lange wir das vollkriegen? In letzter Zeit war es gegen unattraktive Gegner wie Wolfsburg auch nicht ausverkauft. Ich hoffe, die Stimmung leidet nicht unter dem Umzug.“ Dann ertönt der Schlusspfiff, in einer Woche ist auch für die Amateure die Saison zu Ende und die Tribüne lehrt sich schnell. Auch Martin Stiederoth trinkt seinen Kaffee aus. Jetzt ist erst mal Sommerpause.
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