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Spieleschmiede am Rhein: Brett-, Karten- und Rollenspiele aus Mainz

Es ist ein verregneter Sommernachmittag, als Marco Armbruster die Tür zu seiner Bürogemeinschaft öffnet. Die verwaschen- weiße Altbaufassade in der Neustadt hat nicht darauf vorbereitet, was einen drinnen erwartet: ein lichtdurchflutetes Atelier im Hinterhaus mit vielen Pflanzen, Regalen voller Bücher und Spiele, einem großen Monitor, zwischendrin Reklame-Aufsteller. Hier arbeitet Marco als professioneller Spiele-Illustrator – und hier hat er auch das Artwork für „Die Crew“ geschaffen, eines der erfolgreichsten Kartenspiele der letzten Jahre.

Design vom Rhein: “Die Crew” wurde von Marco illustriert

Aus dem Augenwinkel dürften „Die Crew“ sogar Leute schon mal gesehen haben, die nichts mit Spielen am Hut haben – denn die schwarzblaue Box ist so beliebt, dass die meisten Buchhandlungen sie in ihrem Laden-Sortiment führen. Dazu beigetragen hat auch die Vielzahl an Preisen, die das Spiel mit dem Design vom Rhein seit 2020 einheimsen konnte, darunter die renommierte Auszeichnung „Kennerspiel des Jahres“, der Deutsche Spielepreis, der Nederlandse Spellenprijs und der spanische Juego del Año. Sogar für einen japanischen Spielepreis war „Die Crew“ nominiert.

 

Spiele gehören zu den ältesten menschlichen Kulturpraktiken
Spiele scheinen uns Menschen immer schon fasziniert zu haben. Unsere Spezies spielt seit Jahrtausenden, vermutlich schon länger, als es Schrift, Ackerbau oder das Rad gibt. Auch die ersten Brettspiel-Komponenten sind Jahrtausende alt: Würfel und Spielsteine wurden Menschen schon im alten Ägypten mit ins Grab gegeben. Man spielte im alten Mesopotamien, im antiken Indien und China, überall dort, wo die ersten Hochkulturen entstanden. Dass auch im alten Griechenland und im Römischen Reich begeistert gespielt wurde, belegt Julius Caesars Satz „Alea iacta est” („Der Würfel ist geworfen“) beim Überschreiten des Rubikons. Ins antike Mogontiacum kamen Würfel übrigens spätestens mit den Legionen, wie ein walzenförmiges Exemplar aus der Römerzeit belegt, das zu den Artefakten des Mainzer Landesmuseums gehört, oder ein aktueller Fund von der Baustelle auf der Ludwigsstraße. Auch 2000 Jahre später wird in Deutschland begeistert gespielt: Laut Allensbach betreiben 33 Mio. Deutsche das Hobby zumindest gelegentlich, 5,6 Mio. spielen häufig. Einige ältere Klassiker sind in deutschen Haushalten fast schon allgegenwärtig: In einer Umfrage gaben 77 Prozent der Befragten an, eine Ausgabe von „Mensch Ärgere Dich Nicht“ zu besitzen, gefolgt von Monopoly (70 Prozent) und Uno (67 Prozent). Das vergleichsweise neue Spiel „Catan“ hat es seit 1995 laut derselben Umfrage schon in jeden 5. Haushalt geschafft. Allerdings sind sie alle nur die Spitze eines Eisbergs von tausenden Spielen, die jedes Jahr neu erscheinen von Spiele-Schaffenden erfunden und kombiniert. „Die Crew“ zum Beispiel ist ein Stichspiel wie Skat oder Bridge – mit dem Twist, dass es kooperativ gespielt wird, also alle am Tisch zusammen gewinnen oder verlieren. Dass die Spielenden sich dabei nicht direkt absprechen dürfen, wird durch das Setting im Vakuum des Weltraums erklärt.

In Hanno Girkes Lookout-Verlag
sind Spiele-Klassiker wie “Agricola”
und “Isle of Skye” erschienen

Das Spielen ist fester Teil der Spielebranche
Wenn Marco einen Auftrag als Illustrator erhält, recherchiert er ausgiebig zum Thema. Für „Die Crew“ arbeitete er sich durch Unmengen an Science Fiction-Filmen und Weltraum-Serien, fertigte Screenshots von allem an, was spektakulär aussah, und begann mit Skizzen und Fotocollagen. In die Szene selbst kam er als Quereinsteiger. Der enthusiastische Mann mit den blonden Locken zog 2011 aus dem Schwarzwald zum Studium nach Mainz und arbeitete danach mehrere Jahre als Kommunikationsdesigner. Seinen Wechsel in die Spieleindustrie vollzog er durchdacht und methodisch, tauschte sich vorher mit anderen Illustratoren aus und besuchte 2018 dann das erste Mal die SPIEL in Essen, die weltweit größte Spielemesse, die jedes Jahr im Herbst stattfindet und bis zu 200.000 Besucher aus aller Welt ins Ruhrgebiet zieht. Messeveranstaltungen und Conventions spielen in der Branche eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ob eine Spielidee einen Verlag überzeugen kann, entscheidet sich größtenteils vor Ort, durchs Spielen selbst.

 

Ein gutes Spiel erzählt eine Geschichte
Auf der Messe könnte dann auch jemand wie Hanno Girke sitzen, der Chef des Spieleverlags „Lookout Games“. Lookout wurde 2000 in Hannos Elternhaus in der Mainzer Oberstadt gegründet und ist seit ein paar Jahren in Schwabenheim an der Selz ansässig, etwa 20 Autominuten von Mainz entfernt.

Eine Branche permanent im Wandel
Eine weitere Neuerscheinung, die Lookout Games in Essen präsentiert: „Eppi – Das Weltall ruft“, ein Rätselspiel der Mainzer Autorin Felicitas Pommerening. Wie Marco arbeitet auch sie in einer Bürogemeinschaft in der Neustadt. Mit dem Schreiben begann die studierte Filmwissenschaftlerin als Autorin von Romanen, später kamen Computerspiele hinzu. Letztere bergen eigene Herausforderungen, da eine Geschichte sich nichtlinear entfaltet, sondern je nach der Interaktion, die Spielende in der Spielwelt durchführen. „Eppi“ ist Felicitas‘ erstes analoges Spiel und kann als Beispiel dafür dienen, wie kreativ und wandlungsfähig die Spielebrache in den letzten Jahren geworden ist. Die zugrunde liegende Mechanik bedient sich bei Point & Click-Computerspielen wie „Monkey Island“, in denen Spielende die Spielwelt mit der Maus erkunden; analog umgesetzt wird dies in Form eines großformatigen Buchs. Aufgeschlagen präsentiert sich

Analoges Point & Click Adventure:
Felicitas Pommerening und ihr Spiel “Eppi”

auf der rechten Seite immer eine Szene des Spiels, auf der linken Seite befindet sich rotschraffierter Text mit kleinen Codes, der durch das Auflegen einer Rotfolie lesbar wird. Wenn sich Spielende entscheiden, mit einem Gegenstand im Raum zu interagieren, um die vielen Rätsel zu lösen, verrät ein Blick durch die Rotfolie, was als Nächstes geschieht und auf welcher Seite es weitergeht – Veränderungen im Raum werden durch das Aufkleben von Stickern festgehalten. Von Lookout Games wird diese Mechanik als „Paper Point & Click“ bezeichnet. Interessant ist das Spiel um das kleine blaue Wesen aber auch wegen der Zielgruppe, die es anspricht. Jahrzehntelang spaltete sich die Spielewelt in große Familien-Bestseller wie „Monopoly“ und Titel für erwachsene Profi-Boardgamer. Seit Beginn des neuen Jahrtausends wird der Markt immer diverser; mehr und mehr Nischen werden von den Verlagen erkundet. Mit seinen liebevollen Grafiken und einer aufwendigen Geschichte kann „Eppi“ von der gesamten Familie als Abenteuer mit verteilten Rollen gespielt werden, aber auch von Kindern alleine oder zu zweit. Dass auch Achtjährige direkt mit Spielen loslegen können, ohne vorher ein Regelwerk lernen zu müssen, ist das Resultat von monatelangem Finetuning an den Spielmechaniken, an dem neben Felicitas und der Lookout-Redaktion auch ein Grafikdesigner aus den schottischen Highlands beteiligt war. Aktuell arbeitet das Team an „Eppi 2“, das 2024 erscheinen soll.

 

Abenteuer erleben und Geschichten erfinden
Wie sehr sich nicht nur klassische Brettspiele in den letzten Jahrzehnten verändert haben, davon weiß auch Mario Truant zu berichten, Verlagschef von Truant Spiele und einer der alten Hasen der deutschen Rollenspielszene. Seine Faszination für sogenannte Pen & Paper-Rollenspiele begann in den 80ern, als er zusammen mit Freunden in einem Magazin auf eine Werbeanzeige für „Dungeons & Dragons“ aufmerksam wurde. Durch populäre TV-Serien wie „Stranger Things“ sind Rollenspiele heute vielen Menschen ein Begriff: „Damals wusste in Deutschland so gut wie niemand, was man sich darunter vorstellen kann – und auch Fantasy als Genre war weniger bekannt als heutzutage.“ Sein erstes Rollenspiel kaufte Mario 1980 im Urlaub in England – es sollte über ein Jahr dauern, bis sich seine Runde in die aufwendigen Regeln eingelesen hatte. 1990 gründete er seinen eigenen Verlag für Rollen- und Brettspiele, 1993 folgte ein eigener Laden für Rollenspiele und Trading Cards am Kaiser-Wilhelm-Ring, den er bis 2000 betrieb. Auch eine kleine Rollenspiel-Convention namens „Fantasy“ wurde von ihm Anfang der 2000er Jahre im Mainzer Neustadtzentrum durchgeführt. Im Gegensatz zu Spielen wie „Die Crew“ oder „Mischwald“ verzichten die Produkte von Truant Spiele auf allzu viele Komponenten und werden in Buchform vertrieben. In seinen Büroräumen in der Frauenlobstraße verfügt Mario über ein kleines Handlager – der Rest seiner Bestände ist wie bei Literaturverlagen extern untergebracht. Bis heute ist der passionierte Rollenspieler mit den verschmitzten Augen fasziniert von der Größe der Welten, die sich mit nicht viel mehr als Zettel, Stift, Würfel und einem Regelwerk entfalten lassen: „Mir macht es einfach Spaß, mit Leuten Abenteuer zu erleben und Geschichten zu erfinden. Ein guter Spielleiter ist einer, der allen Menschen am Tisch gleichermaßen die Chance gibt, ins Rampenlicht zu treten und ihre fünf Minuten Glory zu erleben.“ Ohne die vielen Komponenten von Brettspielen lassen sich Pen & Paper-Spiele zudem sehr gut per Zoom spielen – ein Grund, warum auch die Rollenspiel-Branche in der Pandemie einen ordentlichen Schub erlebte. Natürlich ist auch Mario auf der SPIEL in Essen mit einem Stand vertreten – auch wenn er seit ein paar Jahren mit eigenen Produktionen aufgehört hat und sich auf die Übersetzung und den Vertrieb international bekannter Franchises wie „The Witcher“, „Herr der Ringe“ oder „Cyberpunk“ konzentriert. Ebenfalls wichtig ist für ihn aber eine Vielzahl von kleinen Rollenspiel-Conventions (kurz „Cons“ genannt), die deutschlandweit stattfinden. Oft erstrecken sich die Veranstaltungen über ein Wochenende – bei der größten von ihnen, der FeenCon in Bonn, fanden sich im Juni knapp 2000 Leute zusammen.

Marco Armbruster und Marc Distel präsentieren stolz „Findet Memo“, “Mainz aus dem Häuschen” und “Mainz Großer Wurf”

Die Domstadt spielerisch erkunden
Das Internet hat die Spielebranche internationaler gemacht. Erfolgreiche deutsche Spiele schaffen es zuverlässig in Spielwarenläden weltweit, Kickstarter-Kampagnen werden von Menschen auf dem gesamten Globus unterstützt. Gleichzeitig wachsen auch die Anreize, unverwechselbar regionale Produkte zu kreieren. Für die Monopoly Edition Mainz, die 2024 erscheinen soll, wurden aus der Domstadt 35.000 Stimmen abgegeben, welche Mainzer Straßennamen es in die Neuauflage des Brettspielklassikers schaffen sollen. Doch auf dem Spielfeld ist nur Platz für 22 Straßen. Das Geheimnis, welche Straßen sich einen Platz auf dem berühmten Spielbrett ergattern konnten, wird erst zur Präsentation des Spiels im Frühjahr 2024 gelüftet. Soviel sei verraten: Der Spitzenreiter der Abstimmung kam auf mehr als 800 Stimmen. „Wir haben mehr als 4.000 Vormerkungen vorliegen und bereits viele Anfragen von Buch- und Spielwarenhändlern erhalten, die das Spiel verkaufen wollen“, so Florian Freitag von der Agentur polar 1, die das Spiel in Zusammenarbeit mit dem Düsseldorfer Spieleverlag Winning Moves realisiert. „So eine hohe Resonanz hätten wir nie erwartet“, so Freitag weiter.

Das Mainz-Spiel
Die Neustadt ist jedoch einmal mehr ein Nexus der Mainzer Spieleproduktion – in der „Pinken Distel“ in der Frauenlobstraße 70 treffen wir Marco Armbruster wieder, unseren Spieleillustrator vom Anfang. Er und Ladeninhaber Marc Distel haben in den letzten Jahren zusammen mehrere

Im Frühjahr 2024 erscheint auch
das neue Mainz-Monopoly

Mainz-Spiele geschaffen, in denen Menschen spielerisch die Domstadt erkunden können. Das bekannteste von ihnen ist „Mainz aus dem Häuschen“, ein Rennspiel, in dem die vier Spielfiguren „Weck“, „Worscht“, „Woi“ und einen „Meenzer“ darstellen. Gespielt wird auf einem wuseligen Lageplan der Stadt, der an ein Wimmelbild erinnert – das Spielziel ist, es zum Marktfrühstück zu schaffen. Allgegenwärtig sind dabei die Wortspiele, für die Pinke Distel-Produkte bekannt sind („Mainz am Wein“) – und natürlich dürfen auch die Fastnachtsfarben nicht fehlen. Wichtig war Marco und Marc aber, nicht einfach nur ein „Mensch Ärgere Dich Nicht“ mit einem Anstrich von Lokalkolorit zu schaffen – sondern etwas Unterhaltsames, das Leute immer wieder gerne aus dem Regal holen. „Für das Playtesting haben wir in unserem Bekanntenkreis über hundert Leute rekrutiert, die den Prototypen immer wieder durchgespielt und uns permanent Feedback gegeben haben.“ Der Erfolg gibt ihnen Recht: „Mainz aus dem Häuschen“ erlebt dieses Jahr seine 2. Auflage. Mit „Findet Memo“ und „Mainz Großer Wurf“ hat die Pinke Distel 2023 zudem zwei neue Spiele ins Sortiment aufgenommen, ersteres ein Memory mit Illustrationen der Zeichnerin Kasia Zech, letzteres ein Würfelspiel, in dem sich wieder alles um Mainz dreht. Und auch diesmal ist die Nachfrage groß. Regionalspiele oder internationale Bestseller – sie alle haben gemeinsam, dass sie Menschen an einen Tisch bringen und in andere Welten eintauchen lassen. „Leute wollen im Spiel Dinge tun, die sie im Alltag nicht machen können“, meint Marco zum Abschluss: „Ob das nun das Betreiben eines Bauernhofs ist – oder das Aufbrechen in den Weltraum.“

Text Andie Rothenhäusler Fotos Stephan Dinges