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So wohnt Mainz: Die (Um)Siedlung am Fichteplatz (Oberstadt)

Vom Vorbeifahren kennt fast jeder die Siedlung am Fichteplatz nahe der Unimedizin mit ihren stilvollen Gebäuden aus den 1920er Jahren, deren elegante drei Torbögen sich zur Stadt hin öffnen. Im Inneren der Siedlung, wo sich Schneckenburger und Nikolaus-Becker-Straße kreuzen, hört man vom großen Verkehr nicht mehr viel. Hier ist es fast wie in einer Schnecke, wie die Siedlung auch genannt wird. Den ursprünglich modernen Glanz kann man an den Fassaden noch erkennen. Vier namhafte Mainzer Architekten planten die Gebäude nach den Ideen von Neuer Sachlichkeit und Modernem Wohnen: Licht und Luft war damals das Motto. Alle Wohnungen wurden mit Loggien und Bädern ausgestattet. Die großen grünen Innenhöfe boten Platz für Gartenbeete zur Selbstversorgung und zum Wäschetrocknen. Doch die geräumigen hellen Altbauwohnungen werden schon lange nicht mehr von Bahnbeamten und Ärzten bewohnt. Besonders im Sommer trifft man draußen eine bunte Mischung aus Alteingesessenen, Studenten-WGs und jungen Familien. Sie grillen in den Höfen, spielen im Sand und genießen die Sonne. Wer hier wohnt, der möchte in der Regel gerne bleiben.

Sanierungspläne der Wohnbau

Die Wohnbau Mainz, der hier 267 Wohnungen gehören, hat neue Pläne. Eine umfassende Strang- Sanierung ist geplant und soll aus der historischen Siedlung ein modernes „Quartier“ machen. Nach und nach sollen in jedem Haus Heizungs-, Sanitär- und Elektroanlagen erneuert werden. Neue Bäder sind geplant und eine Innenwand-Dämmung sowie neue und einbruchsichere Türen. Auch die Grundrisse sollen zum Teil „funktional“ verändert werden. Das wird ein bis zwei Jahre pro Haus dauern. „Wir wollen dieses einmalige Wohnquartier in seinem Wert bewahren und zukunftsfest machen“, heißt es in der Mieterinformation von 2018. Die meisten Mieter erhalten in den nächsten Jahren Briefe, in denen sie zum Umzug aufgefordert werden. Viele stehen vor den Fragen: Warten oder gehen? Und wohin? Und was wird aus der Siedlung? Die Wohnbau bietet Unterstützung bei Umzug und Wohnungssuche und sucht in Gesprächen mit den Mietern nach Lösungen. Eine Rückkehr in die sanierten Wohnungen soll möglich sein – mit günstigeren Mieten für Altmieter. Neumieter sollen 12 Euro pro qm zahlen. Aktuell stehen 52 Wohnungen bereits leer, manche seit mehreren Jahren. Die Sanierung schreitet nur langsam voran.

Herr und Frau Schneider

Mitten in der Siedlung wohnen seit 1984 Herr und Frau Schneider. Die beiden Rentner haben ihre kleine Erdgeschosswohnung im Laufe der Jahrzehnte nach ihrem Geschmack eingerichtet und selbst modernisiert. Auf dem Boden liegt Laminat und es gibt inzwischen eine Dusche statt der alten Badewanne. Im Wohnzimmer stehen Zugplakettchen aus vielen Jahren, im Schlafzimmer parken die beiden Rollatoren „Mercedes“ und „Opel“. Herr Schneider ist 79 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen. Sicher laufen kann er eigentlich nur noch in der Wohnung. Das Reden überlässt er „de Chefin“ – seiner 72jährigen Frau. „Die kenne doch die Leit nit uff de Gass setze“, sagt Frau Schneider immer wieder. Sie ist nicht bereit zu warten, bis das Kündigungsschreiben in ihrem Briefkasten liegt.

Das Ehepaar wohnt gerne hier und will bis zum Lebensende bleiben. Sie kennen die Nachbarschaft, haben Kinder aus drei Dekaden mit Gebäck verwöhnt und früher selbst im Hof gegrillt. Die Gerüchte über Sanierungen wurden Frau Schneider irgendwann zu laut. 2017 schrieb sie an die Ortsvorsteherin, den OB und die Wohnbau, um Klarheit zu bekommen. Die hat sie nun. Auch wenn es ihnen schwerfällt und ihr Mann davon nichts wissen will: Sie hat das Angebot angenommen, in ein Seniorenwohnheim nach Gonsenheim umzuziehen. Im Frühjahr ist es soweit. Eine Rückkehr in die sanierte Wohnung hält sie für nicht bezahlbar.

„Wo ziehst du denn hin mit drei Kindern?“

In einer der wenigen Fünfzimmerwohnungen lebt seit acht Jahren Familie Dreher: Christine (43) und Daniel (40) mit Mattis, Michel, Lotta und zwei Katzen. Jedes der Kinder hat ein eigenes Zimmer, was mitten in der Stadt selten ist. Im Wohnzimmer drängen sich dafür Klavier, Wäscheständer und Sofa. Man wünscht ihnen noch zwei bis drei weitere Zimmer und ein zweites Bad. Ihre Hauskaufpläne haben die Drehers dennoch aufgegeben: zu teuer, zu weit weg, zu wenig brauchbare Immobilien. Sie seien auf dem Boden der Tatsachen angekommen und sehen die Vorteile der Wohnung: zentrale Lage, gute Nachbarschaft und Gartenleben im Sommer. Die Logistik des Familienlebens lässt sich mit einem Auto bewältigen: Die Eltern arbeiten in Gonsenheim. Die Kinder besuchen Schulen in Zahlbach und der Oberstadt. Dazu kommen Turnvereine und Kindergeburtstage. Von der Sanierung sind sie vorerst nicht betroffen: 8 bis 10 Jahre bleiben ihnen noch, bis ihr Haus, in dem auch zwei ältere Mietparteien wohnen, an der Reihe ist. Der älteste Sohn wird dann um die 20 sein und der Platzbedarf der Familie vermutlich ein anderer. Wie viele Mieter sehen sie zwar, dass Sanierungsbedarf besteht, dennoch waren sie schockiert von den Plänen und der ungewissen Lage. Inzwischen haben die meisten Mieter das Gespräch mit der Wohnbau gesucht. Das Unternehmen redet von guten Gesprächen und „bestmöglichen Lösungen, wo ein Umzug gewünscht wurde“. „Wo zieht man denn hin mit drei Kindern?“, fragt Daniel Dreher und fügt hinzu, dass etwas Besseres kaum zu finden sei. Zumindest die jüngeren Mietparteien und Familien haben darum ihre Wünsche angemeldet und hoffen, dass sie bleiben können und möglichst in eine sanierte Wohnung im gleichen Hof umziehen.

Wie wohnt es sich saniert?

Drei Häuser sind bereits saniert worden. In einem wohnt Franziska Fuchs mit Mann, zwei Kindern und Hund in einer 150qm-Wohnung mit Terrasse. Franziska (38), die zusammen mit ihrer Schwägerin das Einrichtungsgeschäft „Fuchs und Bente“ in der Gaustraße betreibt, ist mit ihrem zweiten Sohn in Elternzeit. Sie empfängt uns in ihrer geschmackvoll und gemütlich eingerichteten Wohnung. Durch einen Bekannten habe sie davon erfahren und nach der Besichtigung gedacht: „Das wird nice“. Und so ist es auch: Im Esszimmer an den Wänden New York-Drucke und die richtigen Möbel in den richtigen Farben. „In der Stadt kann man mit Kindern eigentlich nicht besser wohnen“, sagt Franziska mit Blick auf den grünen Innenhof. Im Sommer spielen immer Kinder draußen. Die Familien kennen sich und helfen einander aus. Ohne Großeltern in der Nähe sei eine gute Nachbarschaft ein Stück weit auch Familie. Die großzügige Wohnung besteht aus fünf Zimmern. „Natürlich ist das Luxus“, sagt Franziska, als sie uns die Räume zeigt, auch wenn bei der Sanierung noch Luft nach oben gewesen wäre. Im Haus wohnen nur ausschließlich Neu-Mieter, die um die 11 Euro pro qm zahlen. Auf Dauer findet Franziska das zu viel. Sie hat sich daher einer Baugemeinschaft angeschlossen, die sich für das geplante Heilig Kreuz Areal bewirbt. Die Idee vom gemeinschaftlichen Wohnen bleibt auch dort erhalten. Die Verwandlung einer historischen Siedlung in ein modernes „Quartier“ hat bereits begonnen. Die soziale Frage, wie man in Mainz in Zukunft miteinander wohnen will, ist aber noch nicht beantwortet. Sie betrifft Vermieter und Investoren, zunehmend aber auch Menschen, die sich immer teurere Wohnungen nicht mehr leisten können. Erst recht Studenten, Alte, Familien und immer mehr auch einen Teil der einstigen Mittelschicht. Auch Sanierungen ändern nichts daran, dass in Mainz weiterhin hunderte Wohnungen fehlen und jährlich 1-2.000 neue Menschen hinzuziehen. Die Stadtverwaltung will bis 2020 knapp 6.500 neue Wohnungen schaffen. Das Thema „geförderter Wohnraum“ steht dabei ganz oben auf der Agenda. Die Zahl der exklusiven Neubauprojekte am Zollhafen oder Winterhafen ist angesichts der steigenden Mietkosten und Wohnungsknappheit in den letzten Jahren oft kritisiert worden. Die Sanierung der Siedlung am Fichteplatz ist nur ein weiterer Fall von Gentrifizierung.

Text Sandra Krahwinkel-Oster Fotos Stefan Zahm