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So wohnt Mainz – Besuch bei der alten Dame im städtischen Altenheim (Stadtmitte)

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von Ulla Grall  Fotos: Frauke Bönsch

Ein wenig altmodisch und aus der Zeit gefallen wirkt es schon, das städtische Altenheim. Fast wie bei Oma zu Hause. In der Eingangshalle der Eindruck, ein 50er-Jahre Hotelfoyer zu betreten. Eine großzügige Sitzgruppe lädt zum Plauschen ein. Die offene Treppe führt in die erste Etage, ein gläserner Wandelgang zum „Gartenbau“ quer durch den Park. Wäre nicht die große Infowand mit Veranstaltungen und Hinweisen, käme man kaum auf die Idee, in einem Alten- und Pflegeheim zu sein.

Mitten im Zentrum

Das Mainzer Altenheim liegt im Zentrum der Stadt und bildet dennoch ein stilles Refugium für seine Bewohner. Es ist das letzte große städtischen Alternheim seiner Art. Heimleiter und Geschäftsführer ist Oliver Backhaus: „Hier, in zentraler Lage, leben die Menschen, die Mainz nach dem Krieg wieder aufgebaut haben. Wir wollen, dass es ihnen gut geht und sie sich hier wohlfühlen.“ Für 230 Bewohner stehen 146 Einzelzimmer und 42 Doppelzimmer zur Verfügung. Vom Park aus führt ein Tor zur Schusterstraße, unweit vom Markt.

Hinter der Quintinskirche gibt es einen Zugang zum Kleinen Quintinsgässchen und dem „Flehlappe“, eigentlich „Weinhaus Quintin“, einem der ältesten Weinlokale und Stammkneipe von etlichen älteren Herrschaften. Die großen Fenster des Speisesaals, nachmittags auch als Cafeteria genutzt, blicken auf den Park hinaus, im Wasserbecken ist die Skulptur zweier Kraniche – so etwas wie das Wahrzeichen des Heims. Auf der anderen Seite der Gartenanlage, im großen Hühnergehege, leben ein Hahn und seine Hennen.

Manchmal kommen Schulklassen hier vorbei, das freut die älteren Menschen. Eine Kräuterspirale und ein für Rollstuhlfahrer nutzbares Hochbeet sind Teil vom „Garten der Sinne“. Die Hauskatze schleicht herbei und lässt sich streicheln, wöchentlich gibt es einen „Hundebesuchsdienst“. Fast jedes Jahr kommt ein neues Projekt hinzu, das für mehr Qualität im Leben der alten Herrschaften sorgt. Das durchschnittliche Alter beim Bezug eines Altenheims ist in den letzten Jahren gestiegen und liegt nun bei 85 Jahren. Doch die Verweildauer der Bewohner beträgt nur ein bis zwei Jahre.

Zimmer mit Aussicht

Annlis Seligmann lebt seit 2012 im 6. Stock des Hauptgebäudes. Die alte Dame bewohnt ein Einzelzimmer, vom Fenster geht der Blick über den Park und die Dächer des Geschäftsviertels. „Hier sitze ich oft und schaue“, erzählt sie. Das Zimmer ist geräumig, doch viel Platz ist trotzdem nicht: ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank. Die Zimmermitte muss frei bleiben, um ihrem Rollstuhl die nötige Bewegungsfreiheit zu lassen.

Für eigene Möbel hätte der Raum nicht ausgereicht. „Es ist mir verdammt schwer gefallen“, sagt Annlis zu ihrem Umzug. Mit 88 Jahren musste sie ihre Wohnung in Wackernheim verlassen, in der sie 36 Jahre lang gelebt hatte. „Was mir lieb und wert war, auf alles musste ich verzichten.“ Viele Bilder und Figuren hat sie aufgestellt und aufgehängt, Erinnerungsstücke, an denen sie besonders hängt.

„Vor fünf Jahren bin ich schwer gestürzt: Oberschenkelhalsbruch. Später dann nochmal mit dem Rollator. Nach der Operation gab es Komplikationen, erst eine zweite, dann eine dritte OP.“ Eine vierte Operation lehnte sie ab. Doch mit dem selbstständigen Leben und der Mobilität war es vorbei. Ihr Sohn sorgte dafür, dass sie den begehrten Heimplatz bekam, „in der Stadt in der ich geboren bin und an der ich hänge“.

Neue Aufgaben im Alter

Annlis erinnert sich an das Altenheim zu ihrer Jugendzeit: „Damals hieß es „Invalidenhaus“ und mein Vater sagte immer: „Lernt was und arbeitet, damit ihr da nicht mal hinmüsst.“ Als ich dann hier einzog, war mein Gedanke: Jetzt bist du doch hier.“ Aber sie jammert nicht, sondern betrachtet ihre Situation ganz nüchtern: „Es heißt immer, geh doch ins Altersheim, da musst du dich um nichts kümmern. Das hat aber auch eine Kehrseite.“

Kontakt zu anderen Heimbewohnern hat sie wenig. „Seit 1993 mein Mann verstorben ist, bin ich alleine und das schaffe ich auch hier sehr gut. Man muss sich eine Aufgabe suchen, an der man Spaß hat!“ Die hat sie gefunden. Im hohen Alter erlernte sie den Umgang mit Computer und Internet. „Da ist mein Sohn Wolfgang dran schuld – gut, dass ich ihn habe.“ Sie betreibt Ahnenforschung, ihre Familie kann sie bis 1815 zurückverfolgen. Nun befasst sie sich mit der Familie ihres Mannes. „Aus der Generation der Urgroßeltern sind drei Männer nach Pennsylvania ausgewandert.“ Die schriftlichen Unterlagen die sie gesammelt hat, füllen mehrere Ordner. Für ihre Enkelin hat sie außerdem ein Kinderbuch geschrieben.

Oral History

Annlis Seligmann ist ein wandelndes Geschichtsbuch. Ihre Erinnerungen sind eng verbunden mit den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts und vor allem mit ihrer Heimatstadt Mainz. „Wir haben Geschichte mitgeschrieben“, sagt sie. „Es war ein Jahrhundert, das ungeheure Umbrüche gebracht hat.“ Spannend erzählt sie über ihre Jugend, die Jungmädchenzeit und die Mitgliedschaft im Bund deutscher Mädel (BDM), zu der sie 1935 verpflichtet wurde. Ihre Familie lebte damals in der Leibnizstraße. „Wenn geflaggt wurde – wehe, wenn man da keine Fähnchen rausgehängt hat!“

Ihr Vater sagte zwar: „Es kommt mir kein Hitlerbild ins Haus“, aber über Politik wurde in der Familie sonst nicht gesprochen. „Man hatte gelernt, den Mund zu halten.“ Zu groß war die Angst vor Denunziation. „Und als wir in das Alter kamen, wo wir in die Tanzstunde gegangen wären, gab es Krieg.“ Ihre Ausbildung machte sie beim Seidenhaus Giese, doch nach dem Krieg war sie arbeitslos. „Ich war nicht entnazifiziert.“

Annlis lebte dann in St. Johann bei Sprendlingen „und lernte Reben schneiden und mit Ochsen pflügen“. Später fand sie eine Stelle als Verkäuferin in Bingen, war Aufsicht im Mainzer Kaufhof, eine Zeitlang auch in Düsseldorf. Ihren Mann lernte sie schon 1950 kennen, „auf einem Maskenball in Bingen“. Geheiratet wurde aber erst 1965. Als ihr Sohn zur Welt kam, hatte die 42-Jährige schon längst nicht mehr mit Kindern gerechnet. Trotz Krankheit und Verlusten ist sie nicht verbittert. „Es ist allerhand zusammengekommen in meinem Leben. Und ich bin froh, dass ich im Kopf noch klar bin.“