Die deutsch-französische Beziehung ist eine Geschichte der Versöhnung. Dabei war sie alles andere als einfach, geprägt von Auseinandersetzungen, Feindschaft, Vorurteilen und Klischees. Zahlreiche Kriege überschatteten die Zeiten. Seit 1644 wurde Mainz sechs Mal von den Franzosen besetzt. 1797 wird die Stadt nach über tausend Jahren Kurfürstentum zum vierten Mal zu Mayence. Die linksrheinischen Gebiete werden an Frankreich angeschlossen und Mainz wird Hauptstadt des „Départements du Mont Tonnerre“. Die französische Sprache und Kultur wird eingeführt, deren Reste sich bis heute im hiesigen Dialekt finden. So leitet sich das zum Abschied verwendete „Adschee“ vom französischen Wort „Adieu“ ab, die „Buddige“ (der Laden) kommt von „boutique“ und der „Trottwaa“, unser Bürgersteig, kommt vom „trottoir“. Vor allem Napoleon verändert das Stadtbild gewaltig. Er errichtet mitten in Mainz die Grande Rue Napoleon (die heutige Ludwigsstraße) und lässt viele Gebäude zerstören. Als die Soldaten wieder abziehen, lassen sie das Fleckfieber, aber auch ein „bürgerliche(re)s“ Mainz zurück. Auch die Mainzer Fastnacht wäre ohne die Franzosen kaum denkbar.
Nach den Versailler Verträgen, die das Ende des 1. Weltkriegs markieren, verlässt am 8. Dezember 1918 der letzte deutsche Soldat die Stadt und wieder rücken zum fünften Mal in der Geschichte die Franzosen ein: 12.000 Mann, was zu einer Wohnungsnot führt. Die Kultur verändert sich, die Presse sowie der Französischunterricht werden eingeführt. Die Besatzung endet 1930, kurz vor der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg der Nazis. Straff verkehrt sich die Situation ins Gegenteil, mündet in den zweiten Weltkrieg und umgekehrt in die Besatzung von Frankreich. Der Rest der Geschichte grenzt an ein Wunder: Frankreich und Deutschland versöhnen sich und werden heute als befreundete Nationen und Zugpferde Europas gefeiert. Viele Franzosen leben in Deutschland und umgekehrt. Was macht für sie heute den Reiz an Deutschland und an Mainz aus?
Gaëlle Laurian-Bulligan: Das Erasmus-Pärchen
Etwa 800 Menschen mit französischer Staatsangehörigkeit leben in Mainz. Bei vielen ist der Aufenthalt einer Beziehung mit einem Deutschen geschuldet. Aber es gibt auch Liebesgeschichten auf Umwegen, wie die von Gaëlle Laurian-Bulligan. Geboren wird sie in der Picardie (Nordfrankreich) und studiert Politikwissenschaften in Lille. Während eines Erasmus-Austauschprogramms trifft sie in Leipzig ihren zukünftigen Mann, einen Italiener. Dass die beiden einmal in Mainz landen würden, hat keiner von ihnen gedacht. Sie saß bereits auf gepackten Koffern nach Florenz, als ihr Mann ein Arbeitsangebot in Mainz erhielt. Heute arbeitet sie bei IKEA, ist aber derzeit im Mutterschutz, da die Familie Zuwachs bekommen hat: nach der dreijährigen Tochter folgte ein Sohn. Die Kinder wachsen dreisprachig auf. Das hat zwar manchmal ein gewisses Sprachgemisch zur Folge und die Kleinen haben drei Staatsbürgerschaften, doch alle kommen ganz gut damit klar. „Wir sind keine Deutschen, Franzosen oder Italiener. Wir sind Europäer“ empfindet Gaëlle. Mit den Kindern nutze sie gerne die Mediathek des Institut Français und das Ciné Mayence. Mainz sei ein guter Kompromiss zum Leben. Die Rhein-Main-Region hat viele Vorzüge, vor allem im Herbst, wenn die Weinberge sich rot färben. Die Nähe zu Frankreich und zum Frankfurter Flughafen ist ein Vorteil, auch wenn Gaëlle schon der französische Humor hier fehlt, die Spontanität und die Convivialité – die in Frankreich verbreitete Kultur, Freunde zum Aperitif oder Essen einzuladen. Deutsche träfen sich zwar häufig, wären aber in der Hinsicht viel perfektionistischer und verlegten Treffen eher nach draußen als in das eigene Haus. „Bei uns steht die Tür immer offen“, sagt Gaëlle, „auch wenn es mal unordentlich ist.“
Philipp Münch: Urgestein der deutsch-französischen Freundschaft
Philipp Münch wurde 1930 in Mainz geboren und gilt als „Urgestein der deutsch-französischen Freundschaft“. Seine Kindheit wird von der Hitlerjugend geprägt. Als er neun Jahre alt ist, beginnt der Zweite Weltkrieg. Münch erlebt mehrere Bombenangriffe auf die Stadt. Einmal wird er mit seiner Mutter und 36 anderen Menschen in einem Keller zugeschüttet. „Wir dachten wir würden sterben. Ich höre heute noch die Schreie“, erinnert er sich. Als sie gerettet werden, besitzen sie nichts außer dem, was sie am Leibe tragen. Münch hat das Gefühl ein zweites Leben geschenkt zu bekommen. Mit 13 wird er wegen einer Schulbesetzung durch Soldaten aus seiner Mittelschule entlassen und beginnt eine Lehre als Rasterphotograph, später als Elektriker. 1945 marschieren die Amerikaner in Mainz ein. Der Krieg ist vorbei. Die Stadt liegt in Trümmern und Münch ist klar: „Es darf nie wieder einen Krieg geben.“ Als ihm ein Franzose, dem er zufällig den Weg erklärt, eine Stelle bei den „Services culturels“ in der Zitadelle anbietet, nimmt er diese dankend an. Seine Aufgabe ist es fortan, den Deutschen wieder „Kultur“ beizubringen. Er erhält Material aus Frankreich, das er katalogisiert und zusammenstellt, führt Korrespondenzen mit bekannten Autoren wie Roland Barthes und organisiert Ausstellungen. Später arbeitet er in der Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Mainz, die es damals auf der Kaiserstraße gab, in Bonn und in Ingelheim. Mit 83 Jahren erhält Münch die Landesverdienstmedaille, vergangenes Jahr den „Ordre national du Mérite“, den Frankreich für besondere Verdienste verleiht. Die Moral seiner Geschichte: „Im Krieg sind schreckliche Dinge passiert. Da ist es nicht verwunderlich, dass Hass in der Bevölkerung zurückbleibt. Bringt man anderen aber Liebe und Geduld entgegen, so bekommt man diese eines Tages zurück und kann alte Feindschaften überwinden.“
Bis heute viele Kooperationen
Die Liste der Institutionen und Organisationen, die sich in und um Mainz für die deutsch-französische Beziehung engagieren ist lang. An erster Stelle kommt das Institut Français, das Sprachkurse und die Vergabe von Zertifikaten organisiert, aber auch ein französisches Kinoprogramm unterhält – zum Teil im „Ciné Mayence“ – sowie eine französische Bibliothek. Hier befindet sich auch das Wahllokal für die knapp 6.000 in Rheinland-Pfalz lebenden Franzosen. Über eineinhalb Stunden standen sie dort im April vergangenen Jahres, um bei den französischen Präsidentschaftswahlen ihre Stimme abzugeben. Auch prominent ist das „Haus Burgund-Franche-Comté“, das am 2. September 2017 auf die Große Bleiche Nähe Neubrunnenplatz umgezogen ist. Dessen Aufgabe ist es, die französische Region „Bourgogne-Franche-Compté“ in Rheinland-Pfalz zu vertreten. Man organisiert Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, Weinverkostungen, fördert die Jugend und den Tourismus. Der Burgundermarkt auf dem Gutenbergplatz ist vielen Mainzern ein Begriff. Den offiziellen Beginn der deutsch-französischen Freundschaft markiert allgemein der 1963 unterzeichnete Elysee-Vertrag. Die ersten Annäherungsversuche gab es jedoch schon zehn Jahre zuvor, als eine Journalistengruppe aus Rheinland-Pfalz nach Dijon eingeladen wurde, um ein neues, anderes Bild der Franzosen und der französischen Besatzung „zu vermitteln“. Aus dieser Begegnung erwuchs der Wunsch, weiter an der deutsch-französischen Beziehung zu arbeiten. 1956 wird der „Freundschaftskreis Rheinland- Pfalz-Burgund“ gegründet, der heutige „Partnerschaftsverband Rheinland-Pfalz / Burgund“.
Martine Durand-Krämer und der Partnerschaftsverband
Martine Durand-Krämer arbeitet seit 2002 beim Partnerschaftsverband Rheinland-Pfalz/Burgund. Sie organisiert Jugendbegegnungen, Reisen und Vorlesewettbewerbe auf französisch sowie Projekte, die die Menschen beider Regionen näherbringen sollen. Die gebürtige Pariserin kommt nach ihrem Germanistikstudium als Fremdsprachen-Assistentin an die Kanonikus-Kir-Realschule in Mainz, wo sie ihren zukünftigen Mann kennenlernt. „Ich bin für neun Monate gekommen und 40 Jahre geblieben“ lacht sie. Inzwischen hat sie Kinder und Enkelkinder, die sowohl deutsch, als auch französisch sprechen. Durand-Krämer fühlt sich in Deutschland, wie auch in Frankreich wohl. Vor allem die deutsche Zuverlässigkeit weiß sie zu schätzen. Herzlich findet sie beide Völker, obschon die Franzosen um einiges lockerer sind. Über sich selbst sagt sie, sie hat „die Füße in Paris und den Kopf in Mainz“. Neben den offiziellen Institutionen wie dem Partnerschaftsverband, der Deutsch-Französischen Gesellschaft, Kulturstiftung und dem Freundschaftskreis Mainz-Dijon gibt es auch eine Vielzahl kleiner Französisch-Gruppen und Stammtische. Diese treffen sich häufig in Restaurants oder Kneipen, um sich in ihrer Mutterspreche zu unterhalten oder französische Filme zu schauen. Meist werden sie privat organisiert, so wie die „Table ronde“ und die „Französische- Gruppe-Mainz-Wiesbaden“. Eingeladen sind sowohl Franzosen als auch Menschen anderer Nationalitäten, die ihre Sprachkenntnisse auffrischen oder beibehalten wollen.
Julie Altherr: Halbfranzösische Studentin
Und wie sieht es mit jungen Generationen aus? Etwa 12 Prozent aller Studierenden (4.500) in Mainz kommen aus dem Ausland – sei es über ein Erasmus-Programm oder einen „Doppelabschlussstudiengang“, zum Beispiel das deutsch-französische Studienprogramm Mainz-Dijon. Interessiert sie der historische Wunsch nach deutsch-französischer Freundschaft überhaupt noch? „Ja!“, sagt Julie Altherr, die Französisch und Sport auf Lehramt an der Uni in Mainz studiert. Julie ist „Halbfranzösin“. Ihr Vater wurde in Deutschland geboren, ihre Mutter in Frankreich. Da der Vater als Hockey-Trainer viele Mannschaften trainierte, hat Julie schon an einigen Orten Europas gelebt. Zu Beginn ihrer Gymnasialzeit verschlägt es die Familie dann nach Mainz. Julie besucht das Otto- Schott-Gymnasium in Mainz-Gonsenheim, eine von 69 Schulen in Deutschland, an der man einen doppelten Abschluss machen kann: das Abi-Bac, ein deutsch-französisches Abitur. Heute lebt sie noch immer in Mainz, pflegt aber den Kontakt nach Frankreich zur Familie ihrer Mutter, vor allem in den Ferien. Manchmal schmunzelt sie über die Genauigkeit der Deutschen und den Fokus auf das Materielle. Auf der anderen Seite aber auch über die übertriebene Gelassenheit und Offenheit der Franzosen. Die Vorzüge beider Länder möchte sie jedenfalls nicht missen. Und je nachdem in welchem Land sie sich gerade aufhält, träumt sie sogar in der jeweils anderen Sprache. Frankreich und Deutschland – eine (Hass)Liebe oder erzwungene Freundschaft? Schaut man sich die Historie an, scheint es wie ein Wunder, wie partnerschaftlich heute beide Nationen miteinander umgehen. Kein Wunder, dass auch die Menschen miteinander viele Beziehungen eingegangen sind oder an den „Schnittstellen“ beider Länder arbeiten. Und sicherlich ist gerade Mainz als Stadt frankophiler als viele andere deutsche Städte. Die Prägung ist spürbar und natürlich unübersehbar. Und nicht ganz ohne Zufall findet man sogar den berühmtesten Sohn von Mainz – Johannes Gutenberg – in Frankreich wieder: In Straßburg (damals noch Deutsches Reich) führte er den Buchdruck ein und lebte dort fast fünf Jahre von 1439 bis 1444. Seine Statue steht auf dem gleichnamigen Platz, nicht weit entfernt vom dortigen Münster. Dieses Jahr feiern wir seinen 550. Todestag. Und erst kürzlich reiste eine Delegation von Straßburg nach Mainz, um den neuen Gutenberg-Comic vorzustellen. Manche Verbindungen überdauern selbst die Jahrhunderte.
Text Nora Cremille Fotos Katharina Dubno