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sensor November Kolumne: Dr. Treznok erinnert sich an den Mauerfall

DrTreznok
25 Jahre  ist es nun her, dass der antiimperialistische Schutzwall gefallen ist und das real existierende sozialistische Deutschland vom westlichen Imperialismus eingenommen wurde. Die halbe DDR pilgerte in den goldenen Westen, um 100 D-Mark Begrüßungsgeld zu kassieren und davon unendlich viele der begehrten West- Waren einzukaufen. Endlich war man nicht mehr darauf angewiesen, Leute zu kennen die Leute kennen die West-Kontakte hatten, um für ein paar eingetauschte West-Mark im Intershop Sachen zu kaufen, die es in der DDR auch gab, die aber nicht so hübsch bunt verpackt waren.

Für viele Leute blieb diese Pilgerreise in den Westen die einzige Reise. Endlich in der freien Marktwirtschaft angekommen, verloren sie ihre Arbeit und hatten nie wieder die finanziellen Möglichkeiten, Köthen oder Wernigerode zu verlassen. Arbeitslose Jugendliche im Magdeburger Plattenbau- Ghetto hatten kein Geld mehr für den Friseur, rasierten sich die Köpfe kahl und machten auf Skin-Head, ein Wort, das sie im Russisch-Unterricht noch nicht gelernt hatten.

Die Zeit nach dem Mauerfall roch nach Anarchie. Die staatliche Überwachung vorbei, die Polizei wurde nicht mehr ernst genommen, überall wurden Getränkemärkte eröffnet und die Ostdeutschen begaben sich in den Dauerrausch mit Alkohol und schrottreifen West-Autos. Stillgelegte Trabbis säumten die Autobahnen, zur Arbeit ging man nur noch, wenn man im öffentlichen Dienst war, und in diesem Dauerrausch des nun Wirklichkeit gewordenen Werbefernsehens bekamen die meisten Bürger gar nicht mit, wie sie innerhalb kurzer Zeit abgezockt und ausverkauft wurden.

Dass die Wohnungsmieten von 20 Ost-Mark auf 200 D-Mark steigen würden, dass eine Busfahrkarte nicht mehr 20 Pfennig, sondern 2 D-Mark kosten würde, das war vor 25 Jahren noch nicht absehbar. Eigentlich hätte man es ahnen können, aber die bunte Warenwelt des Westens und die Verlockung der Plakate in den Reisebüros vernebelte den DDR-Bürgern die Sinne. Es bemerkte auch niemand, dass die angestrebte Wiedervereinigung gar kein wiedervereinigtes Deutschland hervorbringen konnte, weil es dieses Deutschland in diesen Grenzen noch nie zuvor gegeben hatte. Im Westen sprach man von der Wiedervereinigung Deutschlands mit der DDR, womit klar war, dass man die DDR nicht als deutsch wahrgenommen hatte. Kein Wunder, dass die Magdeburger Glatzköpfe sich auf ihr Deutsch- Sein besannen und nun deutscher sein wollten als die krassesten Nazis im Westen.

Erstmal aber waren alle glücklich. Familien, die sich jahrzehntelang nur in Ungarn am Plattensee getroffen hatten, konnten sich endlich wieder gemeinsam auf deutschem Boden anöden. Man konnte Ananas-Konserven leer löffeln bis zum Erbrechen, und sich mit den Schrott-Autos aus dem Westen im Vollsuff den Rest geben, da sich in den ersten Monaten niemand um die Verkehrssicherheit scherte. Es war ein rauschendes Fest, das zusammen mit Mickey Maus, Meister Propper und dem Marlboro-Mann dem Delirium entgegen strebte. Der Unrechts- Staat DDR war Geschichte, und Helmut Kohl erschien als Lichtgestalt am doppeldeutschen Himmel.

Die jüngeren Leute wissen heute nichts mehr von den beglückenden Ereignissen, die sich 1989 zugetragen haben. Die Trabbis sind längst aus den Straßengräben verschwunden, der Gestank der Chemiewerke zwischen Halle und Bitterfeld ist einer arbeits- und perspektivlosen Gesellschaft gewichen, und die unendlich vielen Getränkemärkte und Würstchenbuden, die kurz nach der Wende wie Pilze aus dem Boden sprossen, haben einer gesamtgesellschaftlichen Ernüchterung Platz gemacht. Ganze Landstriche sind verwaist, weil nach der Wende mehr Menschen in den Westen geflüchtet sind als vor dem Mauerbau. Doch auch wenn die Chance auf ein besseres Deutschland leichtfertig vertan wurde, weil ein halbes Deutschland vor 25 Jahren ins Delirium der freiheitlich-westlichen Verlockungen und der bunten Schokoriegel-Verpackungen gefallen ist, so gibt es doch gute Gründe, der DDR nicht hinterher zu weinen. Zu viele Menschen sind an den Grenzzäunen erschossen worden, zu menschenverachtend war die pseudo- sozialistische Gleichschaltung. Und Geschichte ist Geschichte. Den vergebenen Chancen nachzutrauern nützt nun auch nichts mehr.