Alles fing mit einem Fauxpas an. Im November 1918 hatte Deutschland den ersten Weltkrieg verloren. Die junge Republik war in einem chaotischen Zustand. Millionen Soldaten waren im Krieg gefallen, andere auf dem Rückweg in eine instabile, junge Republik. Das Friedensabkommen besagte, dass die Siegermächte (Frankreich, Großbritannien und die USA) das linke Rheinufer kontrollieren. Sie sollten auch ein Wieder-Aufrüsten verhindern und einen möglichen Bürgerkrieg zwischen Rechten und Linken Gruppierungen in Deutschland verhindern. Also nahmen die findigen Offiziere der Siegerstaaten die Karte des Rheinlandes und zogen mit einem Zirkel einen 30 km Halbkreis um die drei wichtigsten Städte der Region: Köln bekamen die Briten, Koblenz die Amerikaner und Mainz die Franzosen. Der Fauxpas entstand bei dieser Grenzentstehung: Beim ziehen der Kreise blieb ein kleiner Streifen Land übrig, teilweise nur 100 Meter breit bei Kaub und Lorch, hoch bis Limburg. Die Franzosen versuchten anschließend diesen Streifen für sich zu beanspruchen, doch die Amerikaner wehrten sich dagegen. Quasi Niemandsland. So verloren 17.363 Menschen jegliche Versorgungsstrukturen, alle Grenzstraßen waren blockiert und eine Versorgung aus der Luft nicht möglich. Was also tun? Die Bewohner dieses Streifens, der dem Hals einer Flasche ähnelte, gründeten am 10. Januar 1919 unter der Leitung des Bürgermeisters von Lorch, Anton Pnischeck (1883-1954), den Freistaat Flaschenhals.
Auflehnen gegen die Obrigkeit oder Mut der Verzweiflung?
Die Bürger des Freistaates Flaschenhals wussten ihre plötzliche Unabhängigkeit zu nutzen. Sie führten eigenes Notgeld ein und verdienten ihren Unterhalt mit dem Schmuggel von Waren. „Schnaps und Wein, das war die Währung damals“, erzählt Peter Josef Bahles, Gründer der Initiative Freistaat Flaschenhals. Seine Großeltern kamen 1912 nach Kaub und eröffneten dort ein Restaurant. „Ich wette, dass mein Großvater nicht einen Zentner Kohle gekauft hat. Das hat er alles getauscht.“ Kaub und Lorch waren wichtige Punkte der Schifffahrt damaliger Zeit. Der Rhein zwischen Bingen und St. Goar konnte nur mit Hilfe ortskundiger Lotsen befahren werden. Nachts wurde auch in Kaub und Lorch an Land gegangen. Das war der Zeitpunkt für die Geschäfte: Ganze Schiffladungen Zucker und Mehl wurden gegen Wein und Spirituosen getauscht. So waren die Flaschenhälsler trotz ihres Versorgungsengpasses gut verpflegt, teilweise sogar besser als der Rest von Deutschland. Denn auch Bauern ließen sich auf Tauschgeschäfte für Fleisch ein, damals ein Luxusgut. Doch auch Glück war mit im Spiel. So zum Beispiel in einem Winter als 23 Zugwaggons mit Kohle aus dem französisch besetzten Bahnhof in Rüdesheim in den Freistaat verlegt wurden. All dies blieb weitestgehend straffrei. Doch die französischen Besatzer ärgerte dieser Handel. Zudem hatten sie Angst, dass sich innerhalb des Freistaates eine Gegenbewegung bilden würde. Sie überwachten die Grenze schärfer und leuchteten nachts das Flussufer ab. Die Jugend von Kaub und Lorch reagierten auf diese Praktiken mit Provokation und zeigten den Soldaten ihren blanken Hintern.
„Das muss der nachts geträumt haben“
Im Mai 1921 wurde es dem Landrat von Limburg zu bunt und er forderte das Ende des Freistaates. Es brauchte aber noch bis zum 15. November 1924, bis Flaschenhals wirklich aufgelöst wurde. Anfang 1923 marschierten marokkanische Hilfstruppen der französischen Armee ein und nahmen Bürgermeister Anton Pnischek fest. Doch erst mit Ende der französischen Besatzung wurde der Freistaat als aufgelöst erklärt und geriet damit in Vergessenheit. Bis Peter Josef Bahles sie wieder in Erinnerung rief. Als kleiner Junge hatte er viel Zeit in der Gaststätte seiner Großeltern verbracht, die später von seinem Vater übernommen wurde. Dort hörte er von den Gästen Geschichten über das einstige Wunder. Und auch sein Vater konnte ihm einiges erzählen, der war 13 als der Freistaat sich auflöste. Doch als er diese Geschichte auf einer Weinprobe mal zum Besten gab, glaubten ihm die Kauber nicht. Er müsse sich das ausgedacht haben. Erst als die ortsansässige Zeitung begann zu recherchieren, wurde der Freistaat wieder in das Gedächtnis gerufen und eine Initiative für ihn gegründet.
„Wir gehören nicht zu der braunen Suppe“
Die Initiative ging mit der Zeit. Als der Euro eingeführt wurde, ließen sie eine 10 Taler Freistaat-Münze prägen, mit einem Wert von 30 DM (später 15 Euro). Mit ihr konnte man bei den sechs Winzern, die der Initiative angehören, Wein kaufen. Als 2014 die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft ausbrach, wurde sogar ein Freistaat-Pass gedruckt. Nur zur Reichsbürger-Szene distanzieren sie sich: „Wir sind eine touristische Initiative, die ihre Region sowie ihre Produkte bewirbt, kein Teil der braunen Suppe.“ Nun steht das 100-jährige Jubiläum an. Eigentlich wäre das im Januar, doch mit Blick auf das Wetter wurde entschieden lieber im Mai zu feiern. Am 18. Mai 2019 wird es also eine Rundfahrt mit einer antiken Dampflok durch das ehemalige Staatsgebiet des Flaschenhalses geben. Die Karten waren nach vier Tagen ausgebucht. Doch nachdem Peter Josef Bahles noch zwei weitere Waggons für den Zug besorgt hat, ist ein kleiner Restbestand an Karten vorhanden. Und auch der Carlsen Verlag möchte dem Freistaat zu ehren ein Comic drucken. Denn der einst in Vergessenheit geratene Fauxpas der Geschichte wurde weit über die Grenzen des Rheinlandes bekannt.
Text Lotta Pommerien Fotos Stephan Dinges