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Mainz wird bunt: Graffitis / Sprayer und Mainzer Kollektive

Der Bleichenvogel in der Zanggasse von Studio Lacks

Als „Schmierereien“ werden sie von den meisten abgetan, oft zu finden an Bahnhöfen und Unterführungen, Autobahnauffahrten und Brückenpfeilern. Als Vandalismus und Sachbeschädigung definiert sie der Rechtsstaat. Doch was hinter der Graffitikultur steckt, was die Menschen dazu bewegt, Graffiti anzufertigen, und wie simple „Tags“ (Namenskürzel) an Hauswänden auf den Straßen New Yorks um die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zu einer weltweit anerkannten Form von Streetart wurden, nicht zuletzt durch namenhafte Künstler wie Banksy, erfahren Sie in diesem Artikel.

Jeder Mainzer, der das Haus verlässt, um in die Stadt zu gehen, sieht vermutlich täglich Graffitis auf seinem Weg: große, aufwändige Bilder von Künstlern, die die Stadt engagiert hat, aber auch illegale Bilder auf Zügen, S-Bahnen und Hauswänden. Man kommt nicht um sie herum. Graffitis gehören mittlerweile zu jedem Stadtbild. Viele Städte in Deutschland, so auch Mainz, setzten mittlerweile auf legale Graffitis, die die Stadt selbst in Auftrag gibt, um unter anderem auch dem illegalen Sprühen Einhalt zu gebieten.

Leif Lines aka Leif-Eric Möller ist ein gefragter Mainzer Sprayer

Leif Lines
Der Künstler Leif Lines besprüht etwa für die Stadtwerke Stromkästen und Transformatorenhäuschen, aber auch schon ein Bus der Mainzer Verkehrsgesellschaft zusammen mit Buitates (s.u.) war dabei. Angefangen hat der gebürtige Mainzer mit 17 Jahren. Seither hat ihn das Sprühen nicht mehr losgelassen. Selbstständig als Graffiti-Maler ist er jedoch erst seit drei Jahren. „Ich habe bei Opel gearbeitet, bis Opel 2019 verkauft wurde. Ich habe dann die Abfindung genommen und bin aus dem Betrieb gegangen“, erläutert der Vierzigjährige seine damalige Situation. Das Geld habe ihm eine gewisse Sicherheit gegeben, besonders am Anfang der Selbstständigkeit. Sein erstes Projekt waren die Stromkästen, die er für die Stadtwerke bemalte. Viele seiner Motive zeigen Tiere aus der Natur und der Umgebung. „Die Leute waren begeistert von den Tieren. Es sind dankbare Motive, die viele Menschen mögen. Auch wenn man die Tiere nur noch selten sieht, da die Natur immer weiter durch die Menschen verdrängt wird.“ Sein Start war begleitet von Berichterstattungen im ZDF und der lokalen Presse. Besser hätte es für den Fastnachtsfan nicht laufen können. „Ich bin bis heute demütig, für jeden Auftrag.“ Trotz guter Auftragslage ist Leif ein bescheidener Künstler geblieben. Auch wenn er sich selbst nicht als Künstler sieht, sondern eher als „Auftragssprüher“ wie er selbst sagt, und lächelt dabei über seine Tasse Kaffee hinweg. Was ihn bewegt und antreibt? „Es kommen so viele Menschen auf mich zu, wenn ich in der Stadt sprühe, und ich bekomme direktes Feedback. Das ist toll.“ Manchmal möchten ihm Leute sogar Trinkgeld geben oder klopfen ihm auf die Schulter. Dass auch ältere und konservativere Menschen ihre Meinung über Graffitis ändern, freue ihn dabei am meisten. Neben seinem Job als professioneller Graffitikünstler engagiert sich Leif Lines ehrenamtlich für Schulen in Kenia. Dort stattet er die örtlichen Schulen mit Materialien aus und sucht hierfür Sponsoren. Das sei ihm wichtig, um etwas zurückzugeben an Menschen, die nicht so privilegiert aufwachsen können, wie viele Deutsche es tun. Zu sehen sind seine Werke überall in der Stadt. Zum Beispiel im Mainz-05-Stadion, im Konferenzraum des Co-Workingspace „The Pier“ oder an Fastnacht an den Motivwagen.

Buitates aka Moritz Overbeck

Buitates
Moritz Overbeck – Künstlername „Buitates“ – hat erst während Corona sein Hobby vollständig zum Beruf gemacht. Davor arbeitete er als Pädagoge. Der frischgebackene Familienvater mit den braunen Locken erzählt bei einem gemeinsamen Frühstück, dass er als Teenager zum Sprayen kam und über die Hiphop-Bewegung in der 90ern, während er sein Müsli isst: „Mir persönlich liegen sozialkritische Themen besonders am Herzen. Ich hatte für ein Motiv als Vorgabe, etwas aus der Natur zu sprühen, an diesem Ort war die Natur aber total vermüllt. Also habe ich genau das gemalt. Hoffentlich rüttelt das die Menschen etwas auf.“ Auch Buitates bemalt für die Stadtwerke Stromkästen. Dabei versucht er die Kästen in die Umgebung einzupassen. „Am liebsten habe ich große Projekte und große Flächen, dann kann ich mit meinen Bildern eine ganze Geschichte erzählen.“ Moritz spricht im Gespräch einen Punkt an, über den fast alle Künstler sprechen wollen: Manche Medien zeichnen oft ein Schwarz-weiß-Narrativ über Graffiti. Das legale, vermeintlich „gute“ Graffiti und das „schlechte, böse“ illegale Graffiti. Dementsprechend misstrauisch sind viele aus der Szene gegenüber Medien.

Quapos
Von dem Misstrauen berichtet auch der Künstler „Quapos“ vom Letterbox Kollektiv: „Ich verurteile illegales Graffiti nicht. Jeder hat so angefangen in dieser Szene.“ Auch fehle den meisten Menschen das Wissen, um überhaupt bewerten zu können, ob ein Graffiti oder ein Tag wirklich gut oder schlecht ist. „Die meisten scheren alles über einen Kamm und sagen, das ist hingeschmiert.“ Quapos heißt mit Vornamen Mario: „Dabei ist es wie bei Schriftarten. Es gibt viele verschiedene, nicht alle mögen jede Schriftart, aber jede Schriftart hat ihre Besonderheiten und wurde speziell entwickelt.“ So sei es auch mit den illegalen Tags und Bildern. Das Letterbox Kollektiv setzt sich für mehr legale Graffiti-Flächen in Mainz ein und gibt Workshops für Jugendliche und Kinder. Dadurch haben sie zum Beispiel das Alte Rohrlager in Mainz zusammen mit dem Fanhaus Mainz 05 als neue legale Sprühfläche hochgezogen. Wie seine Vorgänger hat auch Quapos bereits in seiner Jugend mit dem Sprühen begonnen. Damals noch auf dem Gelände des alten Schlacht-hofs in Wiesbaden. Dort besuchte er vor ca. 20 Jahren das legendäre Graffiti-Festival „Meeting of Styles“ und traf dort auf viele Gleichgesinnte. „Die Leidenschaft von damals habe ich immer noch in mir, auch wenn ich heute große Projekte für die Stadt sprühe.“ Mario ist gebürtig aus dem Umland und hat zuvor im sozialen Bereich gearbeitet, bis er sich vor einem Jahr mit Freunden aus dem Letterbox Kollektiv selbständig gemacht und mit ihnen das „Studio Lacks“ gegründet hat. Ein bekanntes Motiv des Trios ist der große Vogel auf der Wand eines Wohnhauses in der Zanggasse / Ecke Mittlere Bleiche über dem Restaurant Salute. Auch die Tramstationen Mühldreieck, Bürgerhaus Hechtsheim und diverse Stromkästen haben Studio Lacks bereits gestaltet. Was Quapos noch immer ärgert, ist, dass es in Mainz im Vergleich zu anderen Städten immer noch so wenig legale Flächen gibt und die Stadt nicht mehr große Projekte gemeinsam mit den Künstlern angeht. „Wiesbaden ist dafür viel offener. Ich würde mir für die Zukunft wünschen, dass Mainz nachzieht und Graffitikunst mehr fördert.“ Dabei haben Mainz und das Rhein-Main-Gebiet eine berühmte Geschichte in Graffiti-Kreisen. Weltweit bekannte Künstler wie Can2 und Zebster kommen aus der Region. „Das könnte viel mehr zelebriert werden von der Stadt.“ Das Alte Rohrlager hat jedenfalls Montag bis Freitag von 10 bis 17 Uhr geöffnet und ein jeder ist eingeladen, dort Graffiti zu sprühen.

Manuel Gerullis aka „Yours“ – auch bekannt als Organisator des Meeting of Styles-Graffiti-Festivals

Yours
An einem Mittwochabend treffe ich das Graffiti Urgestein Manuel Gerullis, Künstlername „Yours“. Der Begründer des Graffitifestivals „Meeting of Styles“, das in der ganzen Welt stattfindet und einmal im Jahr in Mainz-Kastel, ist ein alter Hase im Geschäft. 1984 mit der Hiphop-Welle hat alles bei ihm an-gefangen. Schnell wurde Graffiti zu seinem Lebensinhalt, wofür er sogar sein Studium abbrach. 1986 hat er seinen ersten Zug bemalt und in der ganzen Region seine Tags verteilt. Er hat sich einen Namen gemacht, vor allem in Mainz, Wiesbaden und Frankfurt. 1991 kam die erste schwere Verurteilung wegen Vandalismus und Zerstörung öffentlichen Eigentums: 10.000 Euro Geldstrafe und 80 Sozialstunden. Anstatt die Finger von den Sprühdosen zu lassen, wurde Gerullis aber nun noch aktiver. „Ich dachte mir, ihr wollt meine Bilder nicht, jetzt gebe ich euch erst recht noch mehr davon.“ Er setzte sich für legale Sprühflächen in Wiesbaden ein und hat das Festival alsbald ins Leben gerufen, anfangs noch unter dem Namen „Wallstreet Meeting“. Es war das erste (berüchtigte) Festival seiner Art weltweit, und viele Künstler pilgerten fortan jedes Jahr nach Wiesbaden an den Schlachthof. Große Hiphop-Acts gaben sich auf der Bühne das Mikrofon in die Hand. „Ich habe tiefe Freundschaften auf der ganzen Welt geknüpft durch das Sprühen und es ist meine Leidenschaft.“ Was an Graffiti so besonders faszinierend ist für ihn? „Es ist eine demokratische Kunstform. Es kommt von unterprivilegierten Jugendlichen, es ist rebellisch. Kunst war lange etwas für die Oberschicht, bis diese jungen Kerle in den USA einfach überall Kunst erschaffen haben. Auf der Straße, für sich, für alle.“ Bis heute spürt man das Feuer, das in Manuel für Graffiti brennt. Besonders kontroverse und politische Themen verarbeitet der Künstler am liebsten in seinen Werken. „Wenn Menschen stehen bleiben, um darüber nachzudenken, was sie da sehen, bereitet mir das Freude. Auch wenn sie es am Ende nicht gut finden.“ Nicht ohne Grund findet das Meeting of Styles-Festival jedes Jahr unter einem Motto statt. Das Motto für 2023: „Critical Mass“. Manuels erste Auftraggeber waren auch bald Städte und Gemeinden. So kann man die Werke von „Yours“ an der Rheinkanzel sehen, am alten Friedhof in Mainz, am Bahnhof an einem Trafohäuschen und beim Grünflächenamt in Mainz. An seine „Hater“ richtet Gerullis klare Worte: „Respektiert legales Graffiti. Ich respektiere ja auch das Illegale.“ Immer wieder werden anonym legale Graffitis in Mainz zerstört. Mutmaßlich handelt es sich dabei um Sprayer aus der illegalen Szene, die legales Graffiti nicht als „echtes, ehrliches“ Graffiti ansehen und dieses aus Wut übersprühen. „Graffiti ist Graffiti, egal ob legal oder illegal“, schließt der Festivalbetreiber das Gespräch. Das nächste Meeting of Styles findet übrigens vom 15. bis 18. Juni wieder am Brückenkopf hauptsächlich in Mainz-Kastel statt. Das Festival ist kostenlos und für jeden zugänglich.

Die Graffitiszene ist eine Welt für sich. Viele möchten unter ihresgleichen bleiben. Illegale Sprüher sprechen nur selten mit Medienvertretern. Es lohnt sich jedoch, die Augen offen zu halten nach den bunten Bildern und Buchstaben. Ob gemocht oder verhasst, ist es ein Stück Kultur, eine rebellische Art der Kunst und für viele junge Menschen ein Lifestyle, der ein neues Image nötig hat. Das hat auch die Stadt Mainz erkannt. Bleibt zu hoffen, dass in Zukunft noch mehr große Projekte und Flächen von der Stadt geplant werden. Damit die Welt ein bisschen bunter wird und man Kunst nicht nur im Museum sehen kann.

Text Christina Langhammer