Am 5. Dezember 1994 wurde das Kulturzentrum „Schlachthof“ im abbruchreifen Haus eines ehemaligen städtischen Schlacht- und Viehhofs in Wiesbaden geboren. Was die Zukunft bringt, ist in der Vergangenheit angelegt. Anlässlich des Jubiläums blicken drei Akteure zurück und voraus, deren Stern jeweils in einem anderen Jahrzehnt aufgegangen ist.
Erste Dekade: Gerhard Schulz
„In der ersten Dekade wurde die Richtung angelegt und der Weg gepflastert“, erläutert der heutige Vereinsvorsitzende Gerhard Schulz. Zu den Pflastersteinen, die für ihn das Fundament des Kulturzentrums bilden, gehört ein Mission Statement, das er um das Jahr 1995 herum mit einem Edding auf einer Wand festgehalten hat: „We’re gonna paint the town.“ Heute würde er noch hinzufügen: „With better culture.“ Ganz wörtlich hat das im ersten Jahrzehnt nicht nur mit eigenen Veranstaltungen funktioniert, sondern auch mit dem auf dem Gelände des heutigen Kulturparks ausgerichteten Graffiti-Festival „Wall Street Meeting“. Später erfolgte die Übernahme der Organisation des legendären Folklore-Festivals. Eine besondere Farbe kam im Jahr 2003 mit dem Projekt Schulz hinzu, als der heute 63-Jährige seinen Hut bei der Wahl zum Oberbürgermeister von Wiesbaden in den Ring warf. Die Erklärung dafür ist einleuchtend: „Wenn keiner unsere Politik macht, müssen wir es eben selbst machen“, blickt Gerhard Schulz zurück.
Man habe Neues ausprobieren und Widersprüchlichkeiten riskieren müssen. Eine Haltung, zu der ihn nicht zuletzt der vor drei verstorbene ehemalige CDU-Kulturdezernent Peter Riedle inspiriert habe. Dieser habe davon gesprochen, dass er in der Pflicht sei, ins Risiko zu gehen. In Sachen Kulturzentrum mit Erfolg, obwohl man weder in der linken Szene noch in der konservativen Politik von der Möglichkeit einer gelingenden Zusammenarbeit ausgegangen sei. „Als wir angefangen haben, Eintritt zu nehmen, haben wir zu hören bekommen: Jetzt wird es kommerziell“, erinnert sich Schulz. Natürlich habe es nach der ersten Öffnung der Tür zur Räucherkammer nicht lange gedauert, bis es so weit gewesen sei. Schließlich habe man für den Betrieb des soziokulturellen Zentrums eine bessere Infrastruktur benötigt.
Vom ersten Tag an habe man zudem nach Zuschüssen gefragt. Ein Pflasterstein, der für das Gründungsmitglied ein Stützpfeiler der Entwicklung war, sei die Entscheidung gewesen, den Schlachthof auf keinen Fall ehrenamtlich zu betreiben, auch wenn es sich zunächst nur um einen Stundenlohn von einer Mark gehandelt habe. „Es war nicht viel, aber es gab keine größere Motivation, als zu sagen: Da müssen zwei Mark draus werden“, betont Schulz. Zumal es nicht nur ihm so gegangen sei, dass er seine vorherige Tätigkeit nicht dauerhaft habe aufrecht erhalten können zusätzlich zum Engagement für das soziokulturelle Zentrum. Ob es existenziell die richtige Entscheidung war, in dieses Risiko zu gehen, sei damals alles andere als klar gewesen. Bis heute kritisiert er die Politik der Kultursubvention, die für ihn aus der Zeit des Wirtschaftswunders stammt und vor allem „Leuchtturmprojekte“ fördert. „Die strahlen dann in die Ferne. Darunter ist es dunkel“, erklärt Schulz. Für die Stadtgesellschaft sei es wichtiger, Taschenlampen zum Leuchten zu bringen. Ein vierter Pflasterstein bestehe in der kollektiven Orgastruktur, die sich nicht nur in der basisdemokratischen Entscheidungsfindung widerspiegelt, die in den Anfangsjahren noch umfassender war. Bis heute gebe es keine Hierarchie: vom Booking über die Theke bis zum House Keeping sei jeder Arbeitsbereich wichtig für den Betrieb. Über Jahre hinweg habe sich jedoch immer wieder die Frage gestellt, wie man den Weg beibehalten könne. „Die Frage ist: Wie bekommt man die Prägung in Gegenwart und Zukunft transferiert? Es geht darum, das im Lauf der Jahre anzupassen“, betont Schulz. Denn natürlich haben Teammitglieder, die später dazu gekommen sind, ein anderes Verhältnis zum Schlachthof als die erste Generation.
2. Dekade: Dennis Peters
Für die amerikanische Band „At the Drive-In“ hat es Dennis Peters aus seiner Heimatstadt Gießen zum Konzert in die Räucherkammer des Schlachthofs gezogen. Das Kulturzentrum ist dann auch ausschlaggebend gewesen für die Entscheidung, sein Studium der Sozialen Arbeit in Wiesbaden aufzunehmen. Gearbeitet hat der 45-Jährige in dem Beruf bis heute nicht wirklich, denn nach seinem Umzug im Jahr 2000 hat er sich zunächst ehrenamtlich im Kulturzentrum eingebracht und später, zu Beginn der zweiten Dekade, angefangen, für den Schlachthof zu arbeiten, wo er heute einer der Programmgestalter sowie als Chef des Abends tätig ist. Damit sind Punk-, Hardcore- und Metalshows seine private Leidenschaft als auch Beruf geworden.
„Mein Herz schlägt für die kleinen Shows, aber bei großen arbeiten 50 Leute, nicht sieben“, erläutert Dennis. In der zweiten Dekade hat er den entscheidenden Umbruch in der Geschichte des soziokulturellen Zentrums miterlebt und -geprägt. Denn die alte Halle ist 2010 aufgrund ihres Erhaltungszustands geschlossen worden. „Es war traurig, dass manche gehen mussten, aber den Rest hat es zusammengeschweißt“, blickt Peters zurück. Rund die Hälfte der Belegschaft konnte nicht weiter beschäftigt werden, als der Veranstaltungsbetrieb auf die Räucherkammer beschränkt werden musste. Nur ein Teil von ihnen hat später den Weg zurück ins Kulturzentrum gefunden. Für die verbliebene Crew stand nun erneut eine Zeit großer Ungewissheit an. „Die Frage war, ob es eine Sanierung geben sollte oder eine Teilsanierung und was mit der Räucherkammer geschieht. Die Halle zu sanieren und die Räucherkammer nicht, wäre nicht nachhaltig gewesen“, erinnert sich Peters. Schließlich ist es zu einem Gesamtkonzept gekommen mit dem Neubau der Halle und der Nutzung des bis dahin weitgehend leerstehenden, denkmalgeschützten Wasserturms. Der 45-Jährige ist damals Teil der Gruppe gewesen, die mit der Stadtentwicklungsgesellschaft über die Gestaltung diskutiert hat. Als Booker musste er aber auch Lösungen finden für geplante Veranstaltungen. So sei es in dieser Zeit zum ersten Konzert in der Ringkirche gekommen, damals mit der Indierockband Kettcar.
Mit Booking-Agenturen, die gemeinsam mit dem Kulturzentrum groß geworden sind, veranstaltete man auch Konzerte in der Jahrhunderthalle oder der Festhalle Frankfurt. Eine Besonderheit sei die Planung der Eröffnungswoche in der neuen Halle gewesen, in der im November 2012 neben der Wiesbadener Kult-Combo Frau Doktor auch Größen wie Calexico, Deichkind, Parkway Drive oder The Hives aufgetreten sind. „Das war das Krasseste, was ich erlebt habe: Dass die Booker mit uns gegangen sind, in einer noch nicht existierenden Halle“, berichtet Peters. Im Herbst 2015 begann mit dem Abriss der alten Halle das Ende einer bewegten Phase. „Das würde mich heute mehr mitnehmen als mit Anfang zwanzig“, verdeutlicht Peters lachend.
3. Dekade: Johanna Silz
Inzwischen können die Gäste jährlich gut 400 Veranstaltungen erleben. Das Team besteht aus 56 Kräften, die in Voll- oder Teilzeit beschäftigt sind. Seit zweieinhalb Jahren gehört Johanna Silz dazu. Doch bereits zu Beginn der dritten Dekade hat sie das soziokulturelle Zentrum erstmals kennengelernt. „Als Jugendliche war es für mich zuerst eine reine Party-Location“, blickt die 26-Jährige zurück, die aus Flörsheim stammt. Später sei sie dann zum ersten Mal zu einem Konzert in der Halle gewesen bei einem Auftritt der Indierock-Band Leoniden und habe auch die regelmäßige Poetry Slam-Veranstaltung „Where the Wild Words Are“ besucht. „Ich kannte keinen so kreativ gestalteten Ort“, erinnert sich Silz. Nach einem Semester Ethnologie und einem dreimonatigen Afrika-Aufenthalt hat sie sich für eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau bei der mainzplus Marketing in Mainz entschieden, bei der sie im Frankfurter Hof, im KUZ und beim „Summer in the City“-Festival Erfahrungen sammeln konnte. Nach dem Abschluss ihrer Ausbildung wollte sie etwas anderes kennenlernen und bewarb sich im Schlachthof, wo sie in der Vorproduktion des Kesselhauses arbeitete und für Ticketing sowie Veranstaltungsleitung zuständig ist. „Das ist kreativer und freier als in der Ausbildung. Ich war gewohnt, dass es Anweisungen gibt und man um Erlaubnis fragt. Am Anfang habe ich mich ein bisschen verloren gefühlt“, erläutert Silz. Inzwischen sei sie sehr angetan, dass sie im Schlachthof die Möglichkeit habe, mitzugestalten und sich mehr kreativ ausleben zu können.
Innerhalb des Teams hat sie viele Freundschaften gefunden, und das Kulturzentrum sei nicht nur Arbeitsstelle, sondern Lebensmittelpunkt, weil sie auch ihre Freizeit gerne hier verbringt. Der Schlachthof ist für sie als Mitglied der jüngsten Generation zu einer Herzenssache geworden. Seit anderthalb Jahren arbeite sie im Plenum mit, in dem auch heute noch die großen Themen wie Programm, Organisation, Werte, Haltung oder Kultur verhandelt werden: „Open Air-Veranstaltungen sind mir wichtig. Da treten wir im Moment leider ein bisschen kürzer“, erklärt Silz. In dieser Hinsicht würde sie gerne ganzheitlicher denken und öfter den Kulturpark sowie die Kreativfabrik einbinden. Ein Gesamtkonzept könnte abends einen Rave und tagsüber eine Infoveranstaltung beinhalten: „Ich fühle mich sehr wohl und kann mir vorstellen, das noch lange zu machen“, betont Silz. Das ist zu hoffen. Nach 30 Jahren ist der Schlachthof aus Wiesbaden auch nicht mehr wegzudenken.
Text: Hendrik Jung
Foto: Samira Schulz