Es gibt nur noch zwei Themen in Wiesbaden: Corona und Citybahn. Sascha Lenz betreibt eine beliebte Bar in der Wiesbadener Altstadt und hat das Ohr „am Volk“. Er bewirtet Befürworter und Gegner, hört Pro und Contra – und bleibt selbst neutral. Während seine Gäste auch bei konträren Ansichten zumeist zivilisiert bleiben, fliegen beim Für oder Wider das „Jahrhundertprojekt“, wie es der Wiesbadener OB Gert- Uwe Mende nennt, regelmäßig die Fetzen. In den (a)sozialen Medien sind sachliche Diskussionen schon längst kaum zu finden. Hier geben Beschimpfungen und Anfeindungen den Ton an. Die in der heißen Phase des Wahlkampfs aufgehängten Plakate und Banner von Gegnern und Befürwortern werden abgerissen und zerstört.
„Citybahn verbindet“ – hinter dem Slogan der CityBahn GmbH verbirgt sich die Idee, dass die Straßenbahn (frühestens ab dem Jahr 2026), nicht nur quer durchWiesbaden fährt. Die nach aktuellem Stand der Planung insgesamt 34 Kilometer lange Strecke führt von Mainz aus, ab Hochschule und über den Hauptbahnhof, über die Theodor-Heuss-Brücke entlang der Stadtteile Kastel und Amöneburg über Biebrich in und durch die Wiesbadener Innenstadt bis in den Rheingau-Taunus-Kreis. Dort sollen Taunusstein und Bad Schwalbach angesteuert werden. Am 1. November ist es soweit. Dann können etwa 210.000 wahlberechtigte Wiesbadener – in einem „Vertreterbegehren“ (Art Bürgerentscheid) ihr Votum abgeben und „Ja“ oder „Nein“ zur City- Bahn Mainz / Wiesbaden sagen. Schon die Fragestellung wird heiß diskutiert. Zu lang, zu kompliziert und zu manipulativ wird geschimpft. Die „BI pro Citybahn“, unbezahlt und unter ehrenamtlichen Einsatz der gut 110 Mitglieder und Unterstützer aktiv, hat die Frage zusammengekürzt auf: „Soll der Verkehr in Wiesbaden durch eine leistungsfähige Straßenbahn (Citybahn) weiterentwickelt werden?“
Muss das denn sein?
„Jeder, der mit offenen Augen durch diese Stadt geht, sieht, das geht so nicht weiter. Der Status quo ist keine Alternative“, sagte OB Mende und unterstreicht denHandlungsbedarf angesichts verstopfter Straßen und zu Stoßzeiten überfüllter Busse. Kapazität, Komfort, Zuverlässigkeit,
Barrierefreiheit, Emissionsminderung, Nachhaltigkeit sind seine Pro-Schlagworte. Anstatt über Kosten und Verfahren will er lieber über die Fahrgäste sprechen, die auf einen guten ÖPNV angewiesen seien und für die die Bahn gebaut werden soll. Noch nie seien Alternativen so umfassend geprüft worden wie diesmal. „Aber alle Alternativen sind signifikant schlechter. Das ist nun wirklich nachgewiesen und liegt schwarz auf weiß auf dem Tisch“, so Mende. Sein SPD-Parteifreund, der Mainzer OB Michael Ebling, ist ebenfalls ein gefragter Mann bei den City-Bahn-Befürwortern. Schließlich kann er eine Straßenbahn-Erfolgsgeschichte, die der „Mainzelbahn“, erzählen – und dies tut er gerne. Beide Rathaus-Chefs marschierten bei der Demo der BI Pro Citybahn mit, auf dem Luisenplatz rief Ebling den Anwesenden zu: „Die Stadt Mainz steht zum Ausbau des Straßenbahnnetzes. Wir befürworten die Citybahn!“ Die am stärksten ausgelasteten Busse im Verkehrsverbund Mainz-Wiesbaden seien die Linien, die beide Landeshauptstädte verbinden. Es würden jährlich immer mehr Menschen, diezwischen den beiden Städten pendeln: Auch das Mainzelbahn-Projekt sei intensiv diskutiert worden – „und dann hatten wir innerhalb von wenigen Monaten weit über zwanzig Prozent mehr Nutzer als angenommen“, so Ebling.
Teurer und doch günstiger
Für die gesamten 34 Kilometer wird mit Baukosten von 426 Mio. Euro kalkuliert. Bei der Machbarkeitsstudie 2016 waren es noch 305 Mio. Hauptgrund für den Zuwachs sind nach Angaben der Verantwortlichen „Planungsänderungen im Zuge des Bürgerbeteiligungsverfahrens“ mit neuen Linienführungs- und Ausstattungsvarianten. Hinzu kämen der Baukosten-Index und die Entwicklung der Bodenpreise. Dennoch: Ein Hauptargument für das „Jetzt oder nie“ sind die einmalig günstigen Förderoptionen. Da sich auch die Fördersätze des Bundes seit Anfang des Jahres erhöht haben – auf bis zu 75 Prozent – und die Länder ebenfalls das Projekt mitfinanzieren werden, sei davon auszugehen, dass die Kommunen nur rund 10 Prozent stemmen müssen. Für die Stadt Wiesbaden sinke der Anteil gar von 36,38 auf 28,75 Mio. Euro. Auch die anderen beteiligten Kommunen Mainz, Taunusstein und Bad Schwalbach sowie das Land Rhein-land-Pfalz würden sich an der Finanzierung beteiligen.
Einmalige Chance?
Die City-Bahn ist nicht nur ein Mobilitäts- und Schienenprojekt, sondern würde auch das Wiesbadener Stadtbild verändern. Voll des Lobes für die Pläne und Aussichten äußerte sich der Gestaltungsbeirat. „Wenn Wiesbaden den eingeschlagenen Weg in Sachen City-Bahn weitergeht und es gut gemacht wird, birgt sie die einmalige Chance, eine schöne Stadt noch schöner zu machen“, so die Vorsitzende Rena Wandel- Höfer. Und die mit Blick auf Baustellen- Beeinträchtigungen besorgten Einzelhändler beruhigt Verkehrsdezernent Andreas Kowol: „Wir legen großen Wert darauf, die Lebensfähigkeit, Erreichbarkeit und Funktion für Gewerbetreibende aufrechtzuerhalten und Beeinträchtigungen möglichst gering zu halten.“ Auf Nachfrage von Ilka Guntrum, Vorsitzende des Gewerbevereins „Wiesbaden wunderbar“ und selbst Betreiberin einer Boutique auf der Wilhelmstraße, sicherte er bei einer Infoveranstaltung zu, man werde sich „mit den Auswirkungen für Gewerbe und Einzelhandel auseinandersetzen.“
Materialschlacht und verhärtete Fronten
Erklärte Anti-Citybahn-Partei in der Stadtverordnetenversammlung ist die FDP. Dazu gibt es zwei Bürgerinitiativen, die gegen das Projekt stimmen. Die BI „Busse statt Citybahn“ trat zuletzt kaum noch in Erscheinung, hat nun aber intensiv plakatiert. Andreas Bausinger von der BI „Mitbestimmung Citybahn“ mit über 1.200 Mitgliedern brandmarkt die „über3 Mio. starke Citybahn-Kommunikationswelle“ als „Steuerverschwendung, finanziert aus kommunalen Steuermitteln. Wiesbaden braucht sicherlich vieles, aber keine Citybahn“, so Bausinger. Zudem kritisiert er das „sogenannte Mobilitätsleitbild“ der Stadt, das seiner Ansicht nach „von Anfang an als reine PR/Agenturleistung zur Citybahn ausgelegt wurde“. Für Martin Kraft (Vorsitzender der BI „Pro Citybahn“) hingegen muss die City-Bahn zwingend kommen: „Die Experten sind sich einig. Wenn eine Stadt wie Wiesbaden ihre Verkehrsprobleme in den Griff bekommen will, braucht sie dafür ein leistungsstarkes, attraktives Nahverkehrsmittel. Solch eine Abstimmung darf man nicht der lauten Minderheit überlassen, die ohnehin jede spürbare Veränderung des Verkehrssystems ablehnt. Wer Verkehrswende und Lebensqualität in Wiesbaden voranbringen will, sollte sich bewusst sein, dass so eine Chance so schnell nicht wiederkommt, und am 1.11. für die City- Bahn stimmen!“ Er ist optimistisch, dass die „Saat des Wandels“ in Wiesbaden am Ende Früchte tragen wird. Ein Indikator für ihn: Die Frequenz der „Wir möchten Flyer und Banner abholen“-Besuche in seinem Büro steigt rapide: „Wir kommen mit dem Ausgeben kaum nach“, freut er sich über das Interesse, auch ausgelöst durch die Plakatierungen der City-Bahn-Gegner: „Das mobilisiert die Befürworter erst richtig. Die sagen nun: Mir reicht´s, ich kämpfe für die City- Bahn“.
Text Max Blosche Fotos Dirk Fellinghauer Visualisierung Landeshauptstadt Mainz