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Hirtenwort Bischof Kohlgraf: „Ich bekenne, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe.“

Nach dem Bekanntwerden der Missbrauchs-Studie im Bistum Mainz, wird nicht nur über eine Umbenennung von Plätzen und Straßen diskutiert. Auch das heutige Hirtenwort von Kohlgraf dreht sich um das Thema. Hier zur Rede:

Liebe Schwestern und Brüder im Bistum Mainz,
„Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern,
dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe.“ Dieses Bekenntnis
steht am Anfang der Messfeier. Schuldig werden nicht allein diejenigen,
die Böses tun, sondern auch diejenigen, die Gutes unterlassen.
Ich habe in den vergangenen Tagen die Studie zu sexuellem Missbrauch
im Bistum Mainz gelesen, die den Titel „Erfahren.Verstehen.Vorsorgen“
(EVV) trägt und am 3. März 2023 von Rechtsanwalt Ulrich Weber und
Johannes Baumeister vorgelegt wurde. Die Autoren haben die Situation im
Bistum Mainz seit 1945 unabhängig untersucht und beschrieben. Von
Hunderten Betroffenen ist die Rede, und wir müssen von einem großen
Dunkelfeld ausgehen, das trotz dieser Studie bleiben wird. Ich bin sicher:
Das Schweigen ist weiter groß, Betroffene können sich oft nicht
offenbaren, oder sie haben jedes Vertrauen verloren, dass ihr Leben für die
Kirche eine Rolle spielt. In Gesprächen haben mir Betroffene gesagt, sie
können Entschuldigungen nicht mehr hören, auch die Bekundungen von
Bedauern und Bestürzung durch die Bistumsverantwortlichen empören sie
eher, als dass sie darauf warten.

Ich sehe diese Studie als einen Schritt der Aufarbeitung. Wir werden nicht
aufhören, Menschen einzuladen, ihre Lebensgeschichten zu erzählen.
Denn wir reden nicht über Zahlen und Statistiken, wir reden über
Menschen. Und wir reden hoffentlich immer mehr mit Menschen, um von
ihnen zu lernen. Daher danke ich sehr herzlich für den Mut der Vielen, sich
an der Studie zu beteiligen und ihre Erfahrungen mitzuteilen. Ich
wiederhole es: Die Möglichkeit, Erfahrungen und Informationen
mitzuteilen, besteht weiterhin für alle, die es wollen.
Wir erfahren aus der Studie auch von vielen Beschuldigten und Tätern, von
ihren Verhaltensweisen, von missbräuchlichen Beziehungsstrukturen und
von Rechtfertigungsmechanismen, oft verbunden mit einem überhöhten
Priesterbild oder Ich-Bezug. Besonders durch das Amtsverständnis
wurden die Priester geradezu unangreifbar.

Konkrete Beschreibungen von Übergriffen, Gewalt und Missbrauch
machen mich und sicher viele andere wütend, traurig und sprachlos. Was
geschehen ist und in der Studie beschrieben wird, ist wirklich böse, in
einem ganz tiefen, auch theologischen Sinn. Das kirchliche System hat
dieses Böse möglich gemacht und in einem erschreckenden Maße
gefördert, indem Menschen das Gute nicht getan haben. Es gibt ein
Versagen auf unterschiedlichen Ebenen.

Das öffentliche Interesse richtet sich natürlich auf die Bischöfe seit 1945.
Den Bischöfen Albert Stohr, Hermann Volk und Karl Lehmann wird
Versagen attestiert. Als Bischof von Mainz heute nehme ich dies ohne
Überheblichkeit entgegen. Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte. Heute
stehen mir und uns andere Erkenntnisse und Leitlinien zur Verfügung.
Dennoch hätten Verantwortliche auch vor 2017 nach Leitlinien handeln
müssen, spätestens seit 2002, und oft ist dies nicht geschehen. Kaum
jemand hat die Frage gestellt, wie es den Betroffenen geht; allzu lange
wollten die Verantwortlichen nur das Ansehen der Kirche schützen, indem
sie Schweigen oder Vertuschen einforderten.

Besonders die Vorwürfe gegen den geschätzten Kardinal Karl Lehmann
haben viele erschüttert. In einem Fernsehbeitrag am 4. März 2023 im SWR
wurden auf der Straße Menschen zu ihm befragt. Einige äußerten ihre
Trauer, für sie war er eine „Lichtgestalt“ mit einem hohen moralischen
Ansehen gewesen. Sie sind jetzt in der Situation, sich neu orientieren zu
müssen. Dies lässt sie auch ihren Glauben und ihre Beziehung zur Kirche
hinterfragen, von der sich jetzt Seiten zeigen, die sie bislang nicht sehen
konnten. Das geht auch mir so, hat mich doch Kardinal Lehmann zum
Bischof von Mainz geweiht. Als Bischof von Mainz stehe ich in der Tradition
eines großen Bistums und großer Namen unter den Vorgängern. Allerdings
gehören die dunklen Seiten auch dazu. Ein Mann stellte in dieser
Fernsehsendung die berechtigte Frage: Darf man über einen Verstorbenen
so urteilen? Allein mit der Betrachtung des jetzt aktuellen Themas wird
man der gesamten Lebensleistung der Bischöfe Lehmann, Volk und Stohr
sicher nicht gerecht. Aber es gehört dazu, und wir dürfen ihm nicht
ausweichen. Und ich wiederhole aus meinem Statement vom 3. März: Um
der Wahrheit der Betroffenen willen darf es keine unantastbaren
Denkmäler mehr geben.

Wenn wir uns der Vergangenheit stellen, tun wir dies, um für die Zukunft
zu lernen. Es gibt aber andere Stimmen, die sagen: So wie die genannten
Bischöfe gehandelt haben, war es eben früher. Darauf will ich antworten:
Wenn wir über die Missbrauchsthematik sprechen, dann sprechen wir nicht
allein über Vergangenheit, sondern über Leben von Menschen heute. In
der Studie finde ich zwei Gegenargumente gegen diese Beschwichtigung,
so seien die Zeiten eben gewesen. Zum einen gab es durchaus
Pfarrgemeinderäte, die gegenüber Beschuldigten und Tätern und der
Bistumsleitung widerständig waren. Zum anderen hat bereits sehr früh der
„Bund der Deutschen Katholischen Jugend“ (BDKJ) im Bistum Mainz seine
kritische Stimme erhoben. Beide sind von den Verantwortlichen, auch von
den Bischöfen, nicht gehört worden. Und wieder andere Stimmen meinen,
man solle es doch nach so vielen Jahren jetzt gut sein lassen. Das kann
ich nicht akzeptieren. Je schwerwiegender und brutaler der Missbrauch,
desto mehr Zeit vergeht bis zur Meldung, sagt Rechtsanwalt Weber, und
gerade diese Aussage zeigt: Diese Verbrechen können und dürfen nicht
abgehakt werden.

Ich lese in der Studie über das Versagen nicht nur der Bischöfe, sondern
eines ganzen Systems. Priester, manchmal auch andere
Autoritätspersonen, wurden überhöht und auf ein Podest gehoben, oft
haben sie dies selbst getan. Gemeinden haben das Spiel mitgemacht,
Täter und Beschuldigte zu unterstützen und den Betroffenen nicht zu
glauben oder sie gar unter Druck zu setzen. Auch dies ist kein Phänomen
einer fernen Vergangenheit. Familien haben nicht hinsehen wollen, das
Umfeld hat mit vertuscht. Betroffene fanden weder Gehör noch Glauben.
Staatliche Stellen haben sich bis in die 1990er Jahre nicht immer rühmlich
verhalten. Bei polizeilichen Befragungen war der Bistumsvertreter dabei,
Jugendämter haben Kindern und Jugendlichen nicht geglaubt. Ich mag
mir nicht vorstellen, welche Einsamkeit die betroffenen jungen Menschen
erlitten haben. Gesellschaft, Politik und Theologie boten den Nährboden
für kirchliches Handeln. Insofern ist es zu einfach, die großen Denkmäler
allein vom Sockel zu stoßen. Eine Frau hat ihren Eindruck für das Bistum
Mainz so ausgedrückt: Wir reden auf dem Pastoralen Weg vom Teilen.
Vielleicht beginnt jetzt eine Phase, in der wir auch das Leiden teilen
müssen. Ich halte dies für einen wegweisenden Gedanken.

Wir müssen uns zugleich vor einem Generalverdacht und einer
Atmosphäre des Misstrauens hüten. Der größte Teil der Priester,
Seelsorgerinnen und Seelsorger sowie der Mitarbeitenden der Caritas
leistet eine herausragende Arbeit. Ihnen will ich danken für das
gemeinsame Weitergehen. Das gilt auch für die vielen Ehrenamtlichen in
den Gemeinden und Kirchorten.

Die Studie nennt Grundhaltungen, die für die Zukunft wichtig sind. Kinder,
Jugendliche und Schutzbefohlene müssen bei uns sichere Orte und
Begleitung finden können. Dies kann nur gelingen, wenn wir eine Kultur
der Achtsamkeit aufbauen und pflegen, bei der es nicht um die Großen
geht, sondern um die Kleinen, die Schutz und Beachtung brauchen. Sie
sollen Räume und Menschen finden, die ihnen glauben und zuhören. Dies
kann gelingen, wenn wir das Evangelium ernst nehmen. Unsere Prävention
ist auf dem richtigen Weg und wird auch noch einmal vor dem Hintergrund
der Studie zu überprüfen sein. Im Ernstfall einer Intervention, also dann,
wenn wir aufgrund eines gemeldeten Missbrauchsfalles konkret eingreifen,
verfahren wir nach klaren Leitlinien, die in allen deutschen Bistümern
gelten. Für manche mag dies auch heute noch nicht verständlich sein.
Bei der Lektüre der Studie wurde mir erneut bewusst, wie brennend die
Themen sind, denen wir uns auch auf dem Synodalen Weg stellen: der
Frage der Macht, dem Priesterbild, der Sexualmoral sowie dem Aufbrechen
einer reinen Männerdomäne in der Kirche. Wenn es ein systemisches
Versagen gab und bis heute die Gefahr dafür groß ist, dann werden wir um
die Bearbeitung systemischer Fragen nicht herumkommen.

Für die Wochen der Österlichen Bußzeit wünsche ich Ihnen allen den
Segen Gottes. Teilen wir unseren Glauben und das Leben, zu dem auch die
jetzt offenliegenden dunklen Seiten gehören. Mit dem Schuldbekenntnis
der Messe beten wir um die Kraft, das Böse zu meiden und das Gute tun
zu können.

So segne Sie alle der allmächtige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz

Fragen und Anliegen
Für Menschen, die Fragen zum Thema haben und mit dem Bistum
Kontakt aufnehmen möchten, gibt es folgende Möglichkeiten:
Telefon-Hotline: Seit Freitag, 3. März, ist eine Telefon-Hotline
freigeschaltet. Die Gespräche nehmen Seelsorgende und Coaches an.
Die Telefonnummer lautet: 06131/253-522. Diese Telefonhotline ist
zunächst für 14 Tage freigeschaltet, in der Woche vom 11. bis 17. März von
10 bis 18 Uhr.

Dialogveranstaltungen: In den Regionen des Bistums sind vier
Dialogveranstaltungen mit Bischof Peter Kohlgraf und
Ordinariatsdirektorin Stephanie Rieth geplant: Am 13. März in Offenbach,
am 16. März in Mainz, am 24. März in Gießen, am 27. März in Bürstadt.
Zusätzlich gibt es eine digitale Dialogveranstaltung am 23. März, jeweils
von 19.30 Uhr bis 21 Uhr. Anmelden können sich Interessierte auf der
Bistumshomepage www.bistummainz.de

Koordinationsstelle Intervention und Aufarbeitung:
Fragen und
Anliegen zur EVV-Studie können Sie auch per E-Mail an die
Koordinationsstelle Intervention und Aufarbeitung schicken an:
evv-studie@bistum-mainz.de. Im Nachgang zur Hotline können Sie uns
telefonisch unter der Nummer 06131/253-286 erreichen.
Internetseite: Alle Informationen über die Arbeit im Bistum Mainz zu
den Themen Prävention, Intervention und Aufarbeitung sowie
ausführliche FAQ und alle Kontaktadressen finden sich auf:
bistummainz.de/gegen-sexualisierte-gewalt